Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Republik Estland, Ansip

(Hinweis: Die Ausschrift des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung.)

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass mein Kollege Andrus Ansip aus Estland heute bei uns zu Besuch ist. Wir pflegen einen regelmäßigen Austausch zwischen unseren beiden Ländern. Ich freue mich, dass das heute in Berlin wieder stattfinden kann.

Wir sind Estland in einer sehr engen Freundschaft verbunden. Die bilateralen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sind exzellent. Wir haben allerdings auch viele Berührungspunkte, was die gemeinsame Arbeit in der Europäischen Union, in der Nato und im Ostseerat angeht. Deshalb gibt es auch eine Vielzahl von Themen, über die wir uns abstimmen können.

Wir haben uns heute gegenseitig über die Lage in den jeweiligen Ländern informiert. Ich habe noch einmal meiner Hochachtung Ausdruck verliehen, wie konsequent Estland seinen Reformkurs vorangebracht hat. Das Land hat eine Gesamtverschuldung von 10 Prozent, was wir als Deutsche nur bewundern können. Wir liegen im Augenblick bei über 80 Prozent. Es ist gelungen, hier in den letzten Jahren eine sehr erfolgreiche Entwicklung durchzusetzen. Estland ist Partner im Euroraum. Wir sind, was die Stabilisierung des Euroraums anbelangt, auch in vielen Fragen einer gemeinsamen Meinung.

Wir haben uns über die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die nächsten Europäischen Räte ausgetauscht. Es geht hier natürlich auch darum, dass es gemeinsame Interesen, aber auch eben spezielle Interessen unserer östlichen Nachbarn bezüglich des Ausbaus der Infrastruktur gibt. Hier will ich drei Bereiche nennen: die Straßeninfrastruktur, die Eisenbahninfrastruktur und die Verbindung im Bereich der Elektrizitätsnetze, damit wir ein einheitlicher europäischer Markt werden. Wir haben durch die Verabschiedung der mittelfristigen finanziellen Vorausschau erst einmal im Rat und durch die Diskussionen im Parlament einen erheblichen Schritt nach vorne gemacht. Ich denke, dass gerade Länder wie zum Beispiel Estland auch die Chance haben, ihre Infrastruktur in diesem Bereich auszubauen.

Wir haben über die östliche Partnerschaft gesprochen. Das ist für Länder wie Estland gerade von ganz besonderer Bedeutung. Ich habe noch einmal zugesichert, dass wir als Bundesrepublik Deutschland natürlich unter Einbeziehung der Menschenrechte und der Standards, die wir anlegen, ein sehr eminentes Interesse am Ausbau der östlichen Partnerschaft zur Europäischen Union haben.

Was die Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion anbelangt, so sind wir uns einig, dass wir wirtschaftlich erfolgreiche Mitgliedstaaten in der Europäischen Union brauchen, dass wir im Sinne von „best practice“ voneinander lernen müssen und dass wir einen Stabilitäts- und Wachstumspakt haben, den sowohl Deutschland als auch Estland einhalten - wir gehören zu den Ländern, die das schaffen -, aber dass wir auf mittlere und lange Sicht noch deutlicher machen müssen, dass wir uns als Währungsunion auch in international wettbewerbsfähige Länder entwickeln müssen, damit die Investoren wieder langfristiges und dauerhaftes Vertrauen im Euroraum schaffen. Estland und Deutschland helfen bei der Stabilisierung des Euro mit. Auch das eint uns. Insofern gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten.

Ich bedanke mich für den Besuch. Auf weitere gute Zusammenarbeit!

MP Ansip: Ich bin sehr froh, dass ich heute in Deutschland bei meinen Freunden sein kann. Deutschland hat in der EU sehr viele Freunde. Ich freue mich sehr, dass Estland auch zu diesen Freunden gehört.

Ich bin gestern Nachmittag an Berlin gekommen und habe eine ganze Reihe von Leuten getroffen, die mich immer gefragt haben, was ich über die Führungsrolle Deutschlands in der Europäischen Union denke. Die Fragesteller haben erwartet, dass ich sage, dass die Führungsrolle Deutschlands oder auch die Führungsrolle von Angela Merkel zu stark sei. Ich war überrascht, dass man mir eine solche Frage gestellt hat. Nach meiner Überzeugung und meinem Verständnis macht Deutschland gerade das, was von Deutschland erwartet wird, was es in der Eurozone und in der EU machen muss. Deutschland macht das sehr gut.

Wir teilen dieselben Werte. Unsere Anschauungen und die Ansichten über die Wirtschafts- und Währungspolitik decken sich. Ich bin davon überzeugt, dass meine Kollegin Angela Merkel nicht nur Deutschland gut führt, sondern sie ist auch eine gute Führungskraft für die ganze EU. Ich bin davon überzeugt, dass sie in der Europäischen Union auch Estland vertritt. Ich bin Angela sehr dankbar dafür, dass sie für die Einigkeit der EU und die Stabilität der Eurozone eingestanden ist und dass sie das gemacht hat, was Estland von Deutschland erwartet hat.

Unsere bilateralen Beziehungen sind sehr gut. Von Jahr zu Jahr sind die Beziehungen immer enger und besser geworden. Die Kooperation ist sehr ergebnisreich. Wir haben auf EU-Ebene eine sehr gute Kooperation gehabt, was die Themen angeht, die meine Kollegin Angela Merkel genannt hat. Unser besonderes Interesse für die nächsten Jahre ist es, die westeuropäischen Länder in höherem Maße mit dem Projekt „Rail Baltica“ zu verbinden. Das Projekt „Rail Baltica“ ist ein sehr wichtiges Projekt für die baltischen Staaten ebenso wie die Schaffung einer Verbindung im Energiesektor. Das ist für Estland extrem wichtig. Wir können nicht von einem ernstzunehmenden EU-Markt sprechen, wenn die Verbindungswege zwischen den Märkten fehlen.

Die Entwicklung in Europa beziehungsweise die Vertiefung oder eine Verstärkung des gemeinsamen Marktes gestaltete sich ja in der letzten Zeit sehr gut, und ich erwarte, dass sie auch in Zukunft sehr vielversprechend sein wird. Estland geht es so wie auch Deutschland: Wir müssen die Kooperation mit den EU-Nachbarn und mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft vertiefen.

Ich glaube, dass die Finanzen Europas in wesentlich besserem Zustand sind, als es vor drei Jahren der Fall war. Für uns ist klar, dass es leicht ist, Schulden aufzunehmen, aber schwierig ist, sie zurückzuzahlen. Ich hoffe, dass sich diese positiven Entwicklungen zur Stärkung der Währungsunion, die schon in den letzten drei Jahren stattgefunden haben, auch in Zukunft fortsetzen werden. Estland ist auf alle Fälle bereit, gemeinsam mit seinen Partnern Kraftanstrengungen vorzunehmen.

Ich danke sehr für die Gastfreundschaft und danke für die gute Kooperation!

Frage: (auf Englisch; wurde nicht übersetzt)

BK’in Merkel: Ich würde dazu sagen: Diese Diskussion gibt es ja in Deutschland auch, dass man, je besser das Wachstum ist und je höher die Staatseinnahmen sind, auch umso mehr Geld ausgeben kann. Aber es ist eine sehr kluge Politik, nicht zu einer so hohen Verschuldung zu kommen, dass Investoren, die das Geld in Staatsanleihen anlegen, anschließend das Vertrauen verlieren und dies nicht mehr tun. Deshalb dreht sich unser Diskurs auch immer um die Frage: Was kann man investieren, wo kann man investieren, und wie kann man sicherstellen, dass möglichst viele Menschen Arbeit haben? Dann hat man auch eine gute Chance, dass die sozialen Sicherungssysteme gut ausgestattet sind und dass auch viel investiert werden kann.

Wir reden ja immer über Austerität; das ist ja das neue Wort, das jetzt sehr viel gebraucht wird. Wir vergessen aber, dass wir nie darüber reden, irgendwelche Schulden zurückzuzahlen, sondern dass wir eigentlich darüber reden, wie viel wir jedes Jahr mehr ausgeben dürfen, als wir einnehmen. Es hat sich schon fast selbstverständlich herumgesprochen, dass man das darf, und das geht auf Dauer natürlich nicht gut. Jedenfalls kann ich das für Deutschland sagen, weil wir in Deutschland auch ein demografisches Problem haben. Wir werden mehr ältere Menschen haben, und wir dürfen ja nicht unseren Kindern und Enkeln jede Möglichkeit verbauen. Wir reden in Europa also im Augenblick nicht über die Frage, ob jemand Schulden in Höhe von 3 Prozent, 4 Prozent oder 1 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes zurückzahlen muss, sondern wir reden darüber, ob man 3, 4, 5, 6, 7 oder 8 Prozent mehr ausgeben darf, als man im Rahmen des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet.

MP Ansip: Schulden sind leicht zu machen und schwer zu bezahlen. Die Menschen in Deutschland wissen, dass es ziemlich einfach ist, einen Kredit aufzunehmen, aber dass es sehr schwierig und schmerzreich ist, die Schulden zurückzuzahlen. Deshalb ist es in Estland eben überhaupt nicht beliebt, wenn die Regierung auf Kosten ihrer Kinder und Enkelkinder Schulden aufnimmt. Ein Jahr vor der Wirtschaftskrise ist es in Estland vorgekommen, dass der Staat ein Defizit von 25.000 Euro in Bezug auf das nächste Haushaltsbudget hatte. Der Premierminister, der das verantwortet hat, hat dafür zerstörende Kritik von der Bevölkerung erhalten.

Ich bin überzeugt davon, dass man halt nur so viel ausgeben kann und darf, wie man an Mitteln zur Verfügung hat, und dass man das nicht auf Kosten der zukünftigen Generationen machen darf. Das ist nicht gerechtfertigt. Ich erinnere mich an einen amerikanischen Regierungschef, der gesagt hat: Wenn alle Generationen ihre Schulden selbst bezahlt hätten, dann hätten viele Krisen und Kriege nicht stattgefunden. Estland wird den Weg der strengen Haushaltspolitik bestimmt weitergehen.

Frage: Ich habe eine Frage an Sie beide. Sind Sie, nachdem Sie jetzt beide argumentiert haben, dass man die Schulden zurückführen sollte, nicht über die neuen offiziellen Zahlen enttäuscht, die aus Frankreich kommen? Die französische Regierung hat ja heute bekannt gegeben, dass sie die Schulden sowohl beim Haushaltsdefizit für dieses Jahr als auch bei der Gesamtverschuldung sehr viel später als ursprünglich geplant senken möchte.

BK’in Ansip: Ich glaube, das ist jetzt keine besonders neue Nachricht; die haben wir ja durchaus schon gehört. Der zeitliche Ablauf im Rahmen des Europäischen Semesters ist, dass die französische Regierung der Europäischen Kommission jetzt vorschlagen wird - wie wir es heute im Kabinett auch gemacht haben -, wie man weiter vorgehen wird. Dann wird die französische Regierung für das nächste Jahr auch Vorschläge dazu abgeben, wie man eine Reduzierung des Defizits erreichen kann. Dann wird die Europäische Kommission ein Urteil dazu abgeben. Das ist im Verlauf der verabredeten Prozeduren, also eben des Europäischen Semesters, ganz normal.

Wir wünschen Frankreich natürlich Erfolg, weil Frankreich für die Stabilität der Eurozone als Ganzes einfach wichtig ist. Deshalb werden wir auch diese Reformanstrengungen, die in Frankreich eingeleitet werden oder schon im Gange sind, sehr freundschaftlich begleiten.

MP ANSIP: Wir wissen ja, dass Estland die geringste Verschuldung innerhalb der Europäischen Union hat. Wir wissen, dass wir im öffentlichen Bereich noch Reserven in Höhe von 10 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts haben. Unser Haushalt ist mehr oder weniger ausgeglichen. Es ist für uns also nicht vorauszuahnen, wie die Kriterien dann erfüllt werden sollen. Aber wir meinen, dass Estland (nicht) so perfekt ist, dass es anderen Leuten beizubringen hat, wie man in Krisen verfährt. Jede Krise ist anders, und man muss eben für jede Krise eine spezielle Lösung finden. Wir hoffen, dass die vorher verabredeten Regeln in Zukunft in allen europäischen Ländern eingehalten werden. Wenn das gemacht wird, dann wird es auch kaum vorkommen, dass eine Krise in diesem Umfang, wie wir es jetzt erleben, ganz Europa trifft.

Frage: (auf Englisch; wurde nicht übersetzt)

BK’in Merkel: Man kann nicht eine so eindimensionale Zuordnung vornehmen. Weil der Fall von Julia Timoschenko nicht gelöst ist, kann das Assoziierungsabkommen nicht unterschrieben werden. Wir werden zu einem bestimmten Zeitpunkt überprüfen, ob eine ganze Reihe von Bedingungen, die wir haben - dabei geht es generell um Rechtsstaatlichkeit und um die Frage von Menschenrechten, von Freiheitsrechten insgesamt sowie von demokratischen Prozeduren -, erfüllt sind und ob die Voraussetzungen für den Abschluss eines solchen Assoziierungsabkommens beziehungsweise die Ratifikation eines solchen Assoziierungsabkommens und erst einmal für die Unterschrift gegeben sind. Darüber wird zu befinden sein. Das ist nicht heute notwendig.

Es gibt eine ganze Reihe von Problemen mit der Ukraine. Ein Thema ist Julia Timoschenko - das ist gar keine Frage -, aber es ist nicht das einzige Thema. Wir wollen der Ukraine das Angebot machen, sich näher an die Europäische Union zu binden. Das ist auch der Sinn unserer Östlichen Partnerschaft. Deshalb werden wir die Ukraine auch weiterhin ermutigen, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu erfüllen.

MP Ansip: Die Ukraine muss bestimmt im Justizbereich kräftige Fortschritte erzielen, um ein Assoziations- und Freihandelsabkommen unterzeichnen zu können. Ich war letzte Woche in Kiew und habe sowohl den ukrainischen Premierminister als auch den Präsidenten getroffen. Beide haben bekräftigt, dass umfangreiche Reformen im Bereich der Justiz stattfinden, und zwar in Zusammenarbeit mit der Venedig-Kommission. Zurzeit ist in dieser Richtung schon ein Gesetz verabschiedet worden, das die Rechtsetzung der Ukraine auf die Ebene des EU-Standards bringen wird, aber dabei hat man noch einen langen Weg vor sich. In der Ukraine muss man offensichtlich auch die Verfassung ändern. Ich weiß aus meinen Treffen in der letzten Woche, dass der erste Text der Verfassung zurzeit in den Händen der Venedig-Kommission liegt, um darüber ein Urteil abzugeben. Die haben noch einen langen Weg vor sich.

Ich persönlich glaube, dass wir dieses Assoziations- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine abschließen müssten. Die Ukraine und auch die anderen Länder der Östlichen Partnerschaft sind für uns und für die Europäische Union wichtige Partner.

Frage: Der Internationale Währungsfonds hat eben einen neuen Bericht veröffentlicht, in dem steht, dass Europa insgesamt aufpassen muss, nicht von den anderen Volkswirtschaften abgehängt zu werden, und in dem auch die Sorge geäußert wird, dass Europa zu einer Art von krankem Kontinent werden könnte. Ist das eine Einschätzung, die Sie teilen, oder ist das übertrieben?

BK’in Merkel: Wenn man die Zahlen gesehen hat, was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt, dann sieht man, dass die Geschwindigkeiten in der Tat weltweit unterschiedlich sind - das ist von Haus aus auch erst einmal nicht erstaunlich -, und damit hat Europa im Augenblick Probleme. Das liegt zum Teil daran, dass wir eben sehr spät mit Strukturmaßnahmen angefangen haben. Ich sage ja immer wieder: Europa hat etwa 8 Prozent der Einwohner der Welt, 25 Prozent oder etwas weniger des Bruttoinlandsprodukts der Welt und 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt. Das heißt, das muss erwirtschaftet werden, das muss zusammenpassen. Deshalb unternehmen wir ja all diese Reformanstrengungen, damit wir wieder zu den anderen aufholen.

Insofern ist die Analyse heute wahr, aber unser Anspruch ist, dass wir eben nicht abgeschlagen sein werden, dass wir nicht abgekoppelt sein werden, sondern dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen. 90 Prozent des weltweiten Wachstums finden außerhalb Europas statt, und deshalb besteht die Notwendigkeit, dass wir wirklich nachhaltig wachsen und dass wir exportfähig werden.

Der IWF selbst ist ja an der Konstruktion der ganzen Rettungsprogramme für bestimmte Eurostaaten beteiligt. Das heißt, er hat die Anpassungsprogramme mit der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission selbst verhandelt. Deshalb ist der IWF sicherlich auch der Überzeugung, dass wir bei der Umsetzung dieser Programme erfolgreich sein werden und dass sich unsere Bilanz wieder verbessern kann. Ja, es geht also darum, dass wir besser werden!

MP Ansip: Vor uns liegen große Herausforderungen. Aber so, wie meine Kollegin Angela Merkel davon überzeugt ist, bin auch ich davon überzeugt, dass Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit nicht durch zusätzliche Gelder entstehen, sondern Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit können sich nur aus erfolgreichen Reformen ergeben. Damit müssen wir in Europa weitermachen.