Pressestatements von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte

(Die Ausschrift des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung)

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass heute der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in Berlin zu Gast ist. Wir haben die Vielzahl der Themen besprochen, die auf der Tagesordnung stehen. Die bilateralen Beziehungen sind so gut, dass sie uns nicht viel Zeit gekostet haben, sondern wir konnten uns dann mit den europäischen Fragen beschäftigen.

Ich habe Mark Rutte gratuliert, dass das Parlament in den Niederlanden gestern dem EFSF zugestimmt hat. Das war ein wichtiges Signal, und wir hoffen natürlich, dass jetzt in den beiden noch ausstehenden Ländern über den EFSF abgestimmt werden kann, sodass wir ihn dann auch in Kraft setzen können.

Natürlich hat uns die Lage auf den Finanzmärkten und die wirtschaftliche Lage in unseren Ländern sowie in der Europäischen Union heute ganz intensiv in unseren Gesprächen beschäftigt. Wir waren uns darüber einig, dass insbesondere die Mitgliedstaaten des Euroraums, aber auch alle anderen europäischen Länder ihre Hausaufgaben machen müssen, was solide Staatsfinanzen anbelangt, was die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes anbelangt und was die Durchführung von Strukturreformen anbelangt, um die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kontinents zu stärken. Wir spüren nämlich überall, dass die Schwellenländer sehr dynamisch wachsen, und um unseren Wohlstand zu erhalten, geht es darum, dass Europa eben international wettbewerbsfähig ist.

Wir sind uns einig, dass die Mechanismen zur Stabilisierung der Eurozone immer zwei Seiten einer Medaille ausmachen, nämlich einerseits die Seite der Solidarität, die wir zeigen, aber auf der anderen Seite eben auch die Seite der Solidität und der Reformbereitschaft der Mitgliedstaaten, die Unterstützung erhalten. Das ist ja auch die Philosophie des erweiterten europäischen Fonds oder der Fazilität des EFSF.

Wir haben uns auch darüber ausgesprochen, dass wir mit Bemerkungen darüber konfrontiert sind, dass die Banken nicht ausreichend rekapitalisiert seien. Ich glaube, ich darf sagen: Unser beider Meinung ist, dass wir hier dem Ratschlag der Fachleute folgen werden. Das heißt, wenn es Vorschläge gibt, wie wir die Banken zu rekapitalisieren haben, dann werden wir das natürlich im Rahmen einer Hierarchie einleiten: Zuerst müssen Banken selbst versuchen, für sich Kapital zu bekommen, und sollte das nicht gelingen, dann müssen staatliche Instrumente der Mitgliedstaaten so greifen, wie es auch 2008 und 2009 der Fall war. Nur dann, wenn ein Land dies aus eigener Kraft nicht schafft, kann dafür die Fazilität des EFSF genutzt werden. Hierin wird ja nämlich eine solche Option vorgesehen, allerdings immer unter einer Konditionalität; das heißt, dass das Land dann auch selbst Strukturreformen angehen muss. Das ist das, worüber wir auch sicherlich auf dem nächsten Rat sprechen werden.

Ansonsten warten wir die Ergebnisse der Troika ab, die in Griechenland im Augenblick ihre Arbeit tut. Ich will an dieser Stelle noch einmal hervorheben: Es ist ausgesprochen gut, dass Portugal und Irland ‑ die anderen beiden Länder, die ein Programm haben ‑ sehr, sehr gute Ergebnisse erzielen. Angesichts der Problemlage in Griechenland vergessen wir oft, dass diese beiden Länder ihre Anstrengungen natürlich so unternehmen, dass daraus auch die Erfüllung aller Vorgaben entsteht.

Ich möchte mich für den Besuch bedanken. Wir haben intensiv miteinander gesprochen. Wir stimmen in den allermeisten Positionen wirklich sehr gut überein, und wir werden in der Europäischen Union und bilateral auch weiterhin sehr eng zusammenarbeiten.

MP Rutte: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, für diesen herzlichen Empfang. Es ist schön, wieder in Berlin zu sein.

Wie Sie es sagten, haben wir uns heute die Zeit genommen, gemeinsam einen Ausblick auf das europäische Gipfeltreffen in der übernächsten Woche zu werfen. Deutschland und die Niederlande vertreten in der europäischen Diskussion traditionell ähnliche Positionen: Wir treten für gesunde Staatsfinanzen, wirtschaftliches Wachstum, aber auch für die Einhaltung der Vereinbarungen ein, die wir in Europa gemeinsam getroffen haben. Ich freue mich, dass wir ganz im Sinne dieser Tradition gemeinsam für Vereinbarungen plädieren, die in Zukunft, aber auch heute Probleme verhindern sollen, wie wir sie jetzt unglücklicherweise mit Griechenland erleben.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Niederlande und Deutschland haben beide eine Tradition ehrlicher und strenger Verabredungen. Darauf basiert auch unser Wohlstand. Gerade jetzt, wo die Krise zuschlägt, müssen wir unserem traditionell guten Kurs treu bleiben. Es ist klar, dass es keine Wundermittel gibt, die uns aus der Krise holen können. Das ist also eine Frage des langen Atems. Deswegen müssen wir ‑ das haben wir in unseren Gesprächen auch unterstrichen ‑ drei Dinge betrachten:

Erstens müssen wir immer am Puls der Zeit bleiben, vor allem, was die Fundamente des finanziellen Systems angeht; die Bundeskanzlerin hat dazu auch etwas gesagt.

Zweitens müssen wir in Europa wieder unsere europäischen Chancen ergreifen. Wir müssen auch die Wachstumsmaschine wieder anwerfen, sodass wir wieder wirtschaftliches Wachstum generieren können.

Drittens gibt es verschiedene Initiativen mit Kollegen aus Finnland und Schweden. Wir haben zusammen Vorschläge bei den Vorsitzenden des Europäischen Rats und der Kommission eingereicht, damit wir wieder Stabilität erreichen können und damit wir die Unsicherheit in der Zukunft bekämpfen können. Das ist etwas, woran wir sehr hart arbeiten müssen.

Die Niederlande haben eine Reihe von Vorschlägen für Maßnahmen eingereicht, die die Stabilität wiedererlangen sollen. Ich merke auch, dass sich eine Reihe von Ländern, wie Sie es bereits sagten, an die Vereinbarungen halten und deswegen auch ganz konkrete Maßnahmen ergreifen. Es freut mich auch sehr, dass wir nun wieder gemeinsam die gleiche Position in dieser Beziehung einnehmen.

Für mich ist Europa keine Ideologie. Man muss nicht prinzipiell dafür oder dagegen sein. Ich bin niemand, der nur an Europa glaubt oder nur ein Euroskeptiker ist. Für mich gilt, dass ich ein Europa-Pragmatiker bin. Ein stabiles Europa ist essenziell für unsere Stellen, für unsere Renten und für unseren Wohlstand. Deswegen bin ich auch für ein schlagkräftiges Europa, und deswegen sind diese Gespräche zwischen Deutschland und den Niederlanden auch außergewöhnlich wichtig.

Frage: Ich habe eine Frage an die Bundeskanzlerin. Die Niederländer möchten einen Euro-Kommissar nur für den Euro. Glauben Sie, das ist eine gute Idee?

BK’in Merkel: Wir haben uns über verschiedene Vorschläge ausgetauscht, wie wir die Kraft der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verbessern können und wie wir sie stärken können. Dabei ist eine solche Idee für einen Kommissar, der besondere Befugnisse hat, sicherlich eine sehr interessante Idee, die Deutschland durchaus auch unterstützt. Ich glaube, wir sollten auch weiter in diese Richtung denken; denn der verbesserte Stabilitäts- und Wachstumspakt ist schon ein großer Fortschritt, aber das Durchgriffsrecht ‑ wie man es eigentlich braucht, wenn Länder den Stabilitäts- und Wachstumspakt immer und immer wieder nicht einhalten ‑, ist noch nicht ausreichend ausgeprägt. Dafür ist der niederländische Vorschlag ein guter Vorschlag.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage im Zusammenhang mit der Bankenrekapitalisierung: Welche Lasten könnten möglicherweise auf die Bundesbürger zukommen, wenn das rasch nötig werden würde?

BK’in Merkel: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass wir alle wissen, dass die Banken sozusagen funktionieren müssen, damit die reale Wirtschaft Kredite bekommt. Weil wir ein gutes Wirtschaftswachstum haben, wollen wir natürlich alles tun, um dieses Wirtschaftswachstum auch weiterhin möglichst gut aufrechtzuerhalten, auch wenn sich eine leichte Abschwächung andeutet.

Die weiteren Parameter dazu, wie das gemacht werden muss und welche Anforderungen gestellt werden, müssen von den dafür zuständigen Institutionen in Europa vorgegeben werden. Dabei ist an vorderster Stelle die Europäische Bankenaufsicht zu nennen. Deshalb kann ich Ihnen dazu heute keine Detailangaben machen. Ich denke, die Europäische Bankenaufsicht ist die Institution, die uns dazu etwas sagen kann.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, heute ist der Friedensnobelpreis an drei Frauen vergeben worden. Eine davon, Frau Johnson-Sirleaf, ist Ihnen gut bekannt; das weiß ich. Vielleicht können Sie Ihre Einschätzung dazu noch einmal abgeben.

Zweitens ist heute der 10. Jahrestag des internationalen Einsatzes in Afghanistan. Vielleicht gibt es auch dazu eine kurze Bilanz Ihrerseits.

BK’in Merkel: Erstens, zum Friedensnobelpreis: Ich möchte allen drei Frauen ganz herzlich zu dieser hohen Ehrung gratulieren. Eine der drei Frauen, die Frau aus dem Jemen, ist im Augenblick noch in einer Situation, in der sie Freiheit noch nicht leben kann. Deshalb möchte ich diesen Mut in ganz besonderer Weise würdigen. Frau Johnson-Sirleaf, die mir als Präsidentin Liberias bekannt ist, und genauso ihre liberianische Kollegin in diesem Land haben über viele, viele Jahre bewiesen, wie sie sich für Frauenrechte eingesetzt haben, wie sie sich für Freiheit eingesetzt haben und wie sie gegen einen Diktator vorgegangen sind. Ich finde, es ist ein sehr gutes Signal, dass drei Frauen, die international viel geleistet haben, in diesem Jahr den Friedensnobelpreis bekommen. Das wird weltweit hoffentlich viele Frauen, aber auch viele Männer ermutigen, sich auch für Freiheit und Demokratie und gegen Ungerechtigkeit einzusetzen.

Was Afghanistan anbelangt, so haben wir dort in diesen zehn Jahren Fortschritte erzielt, aber wir sind auch realistischer geworden. Wichtig ist, das Al-Qaida heute nicht mehr den Einfluss hat, den es hatte, als der Afghanistan-Einsatz begonnen hat. Aber wir wissen, dass unsere Vorstellungen von Menschenrechten und Frieden noch längst nicht abschließend durchgesetzt worden sind. Deshalb ist es wichtig, dass wir den militärischen Einsatz immer auch mit einem langfristigen Versprechen gegenüber Afghanistan verbinden, dass wir das Volk auch dann nicht im Stich lassen werden, wenn die militärischen Aktionen beendet worden sein sollten, sondern dass wir uns weiterhin dafür verantwortlich fühlen, weil wir am Beispiel von Afghanistan gesehen haben, wohin es führt, wenn ein Staat seinen staatlichen Aufgaben nicht entsprechen kann und dann Terroristen Raum gibt, sich dort zu entfalten. Das muss für die Zukunft verhindert werden.

Frage: Ich habe eine Frage an beide. Am 17. und 18. Oktober wird der große Europäische Rat stattfinden. Können Sie beide sagen, was Sie davon erwarten? Was soll dabei aus Ihrer Sicht unbedingt beschlossen werden?

BK’in Merkel: Zuerst einmal ist das ein ganz normaler Rat, auf dem wir uns über die Fragen austauschen werden, die uns in den 27 Mitgliedstaaten natürlich beschäftigen: unsere Wettbewerbsfähigkeit, die Umsetzung der Agenda 2020 und die Ziele, die wir erreichen müssen. Natürlich werden wir dann auch über die Situation in Europa insgesamt, aber auch im Euroraum sprechen.

Aus meiner Sicht sollte von diesem Rat dann auch ein Signal ausgehen, was die Vorgehensweise im Hinblick auf die Bankenrekapitalisierung anbelangt. Das müssen die Finanzminister dann natürlich im Detail ausarbeiten und umsetzen. Aber auf jeden Fall glaube ich, dass wir darüber sprechen werden.

Ein Troika-Bericht für Griechenland ist nicht zu erwarten, sodass das Thema Griechenland keine zentrale Rolle auf diesem Rat einnehmen sollte, soweit ich das heute beurteilen kann.

MP Rutte: Damit kann ich nur übereinstimmen. Eine Sache will ich noch hinzufügen: Ich finde es ganz wichtig, dass sich die zehn Länder, die keinen Euro haben, aber trotzdem Mitglieder der Europäischen Union sind ‑ also zum Beispiel Schweden und das Vereinigte Königreich, aber auch osteuropäische Länder ‑, trotzdem als ein Teil des Europas der 27 fühlen. Das muss auch in Zukunft so bleiben, auch wenn wir manchmal nur zu 17 über bestimmte Dinge sprechen. Das gilt vor allem auch für Länder, die in der Wachstumszone sitzen, also für Länder wie Deutschland und die Niederlande. Wir müssen deswegen auch Koalitionen mit Ländern eingehen, die außerhalb der 17 Länder stehen, damit wir den Anschluss hier nicht verpassen.