Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel, Premierminister Costa und Ministerpräsident Kariņš am 10. November 2021 in Meseberg

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich möchte Sie als Zuschauer ganz herzlich begrüßen, aber vor allen Dingen meine beiden Gäste, den portugiesischen Premierminister António Costa und den lettischen Premierminister Krišjānis Kariņš.

Ich freue mich sehr, dass wir heute sozusagen den Abschiedsbesuch hier in Meseberg an einem speziellen Ort verbringen können; denn wir haben eine sehr gute bilaterale Zusammenarbeit mit beiden Kollegen. Bei António Costa darf ich sagen, dass wir Sitznachbarn im Europäischen Rat sind und dadurch auch sehr eng verbunden sind. Portugal hat immer nach uns die EU-Ratspräsidentschaft, und das haben wir immer sehr gut gemeistert. Krišjānis Kariņš ist unser lettischer Kollege, der natürlich auch die Perspektive der mittel- und osteuropäischen Länder des Baltikums mit einbringt. Beide kommen also aus den am weitesten entfernten Teilen Europas - die Inseln einmal weggelassen. Das ist auch genau das, was uns in den Gesprächen bewegt: dass wir immer wieder unterschiedliche Perspektiven eingebracht haben, um den Zusammenhalt Europas zu stärken.

Wir werden heute aber nicht nur über allgemeine europäische Fragen - die Frage der Wirtschaftskraft, die Frage der Erholung nach Corona, die Frage des Zusammenhalts und der Rechtstaatlichkeit - sprechen, sondern es wird auch zwei sehr aktuelle Themen geben.

Das ist zum einen die Pandemie, die in ganz Europa jetzt wieder ihre Wintereigenschaften zeigt, aber doch in unterschiedlicher Art und Weise. Ich will ausdrücklich sagen: Portugal hat eine fantastische Impfrate; die Bevölkerung hat sich dort in hohem Maße impfen lassen - 86 Prozent der gesamten Bevölkerung, und die Quote derer, die impfbar sind, ist natürlich noch deutlich höher. Das heißt im Gegenzug auch, dass dort die Zahl der Fälle geringer ist.

Lettland ist gerade durch eine sehr schwere Zeit gegangen, in der viele Menschen dann auch verstanden haben, glaube ich, dass es besser ist, sich impfen zu lassen, sodass man sich selbst schützt, aber auch die Gemeinschaft schützt.

In Deutschland, muss ich leider sagen, ist unsere Impfrate auch nicht hoch genug, um ein schnelles Ausbreiten des Virus zu verhindern. Wir haben das gewusst; das Robert-Koch-Institut hat uns das gesagt. Jede Impfrate der Gesamtbevölkerung unterhalb von 75 Prozent ist damit verbunden, dass wir ein exponentielles Wachstum mit zu hoher Belegung der Intensivbetten haben werden.

Das heißt, wir brauchen Maßnahmen, um den Anstieg einzudämmen; denn das Coronavirus nimmt keine Rücksicht darauf, ob wir gerade eine geschäftsführende Regierung haben oder ob gerade Koalitionsverhandlungen geführt werden. Wir brauchen hier vielmehr wieder eine gesamtstaatliche Kraftanstrengung, und deshalb werbe ich dafür, dass wir schnellstmöglich - es geht nicht um das Ob; das wird stattfinden - eine Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin und den Bundesministern durchführen, um ein harmonisches, gleichlautendes Verhalten und gleichlautende Maßnahmen in Deutschland zu erreichen.

Wir haben hier zwei große Aufgaben neben der Frage, ob wir noch mehr Menschen impfen können. Das ist erstens die Auffrischungsimpfung. Hier müssen vor allen Dingen die über 60-Jährigen - das haben die Gesundheitsminister bereits Anfang September beschlossen - schnell geimpft werden. Das sind etwa 24 Millionen Menschen in Deutschland - wenn man noch die Pflegekräfte dazurechnet, sogar noch mehr. Diese Impfung muss schnell erfolgen, weil die Wirkung nachlässt und die Impfungen oft schon länger als ein halbes Jahr zurückliegen. Es bedarf also einer wirklichen gemeinsamen nationalen Kraftanstrengung.

Das Zweite ist, dass wir wissen müssen, wann wir zusätzliche Maßnahmen wie zum Beispiel 2G einsetzen müssen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen; denn die Zahl der belegten Intensivbetten steigt steil an. Dafür haben wir ja den Hospitalisierungsindex festgelegt, aber wir haben keinen Maßstab, ab dem wir handeln müssen. Zur Erinnerung: Als unser Gesundheitssystem zum Jahreswechsel 2020/21 sehr belastet war, hatten wir einen Hospitalisierungsindex von 15,9. In einigen Bundesländern - es ist in Deutschland ja regional sehr unterschiedlich und auch abhängig von der Impfquote - sind wir jetzt schon wieder deutlich über zehn. Das heißt, ein Handeln muss schnell verabredet werden, und wir müssen natürlich auch zu einer Kontrolle der Maßnahmen kommen, die wir beschlossen haben. Das Thema Corona und die Zeit danach wird uns heute also beschäftigen.

Als zweites ganz aktuelles Thema - der Ministerpräsident Lettlands als einem Land an der EU-Außengrenze ist sozusagen direkt davon betroffen - haben wir das Thema Belarus und die Migranten. Hier möchte ich denjenigen Ländern danken, die sich im Augenblick um den Schutz der Außengrenzen kümmern: Das sind Lettland, Litauen und Polen. Sie alle verfolgen die Bilder, die Anlass zur Besorgnis geben. Ich habe heute mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und ihn gebeten, auf den Präsidenten Lukaschenka einzuwirken. Denn hier werden Menschen benutzt, sie sind sozusagen Opfer einer menschenfeindlichen Politik, und dagegen muss etwas unternommen werden.

Insofern werden wir heute über die beiden Fragen sprechen: Wie können wir die Länder mit einer Außengrenze zu Belarus unterstützen und was können wir insgesamt tun, um dieses Thema so zu lösen, dass es human zugeht. Das tut es im Augenblick leider nicht. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, dass die EU ihre Außengrenzen schützen kann.

Also: Gesprächsstoff gibt es genug. Ich freue mich, dass die beiden den etwas weiteren Weg hierhin in die ländlichen Regionen gemacht haben, und begrüße beide noch einmal ganz herzlich!

PM Costa: Zunächst möchte ich mich bei Kanzlerin Merkel ganz herzlich für diese Gelegenheit bedanken. Ich möchte mich auch für die gute Zusammenarbeit der letzten sechs Jahre bedanken und noch einmal diesen europäischen Geist hervorheben, den Sie so gut vertreten haben.

Portugal ist in der Tat ein gutes Beispiel dafür, dass die Bevölkerung diese Impfkampagne stark unterstützt hat, um eben sich und die Mitbürger zu schützen. Es ist auch wichtig, dass wir das Bewusstsein haben, dass eine hohe Impfquote es nicht nur erlaubt, dass es heute auch eine geringere Inzidenz gibt. Gleichzeitig ist auch wichtig, dass, selbst wenn es eine Infektion gibt, diese Infektion dann weniger gravierend ist. Das heißt, die Sterblichkeitsrate ist sehr viel geringer, und die Symptome der Menschen, die sich dann also doch anstecken sollten, sind relativ milde. Die Botschaft, die ich hier heute hinterlassen möchte, ist also: Was wir tun müssen, ist eine Anstrengung. Wir müssen uns anstrengen, dass wir die Impfquoten auch weltweit in die Höhe treiben; denn wir alle sind nur auf der sicheren Seite, wenn wir alle sicher sind. Das Virus ist also weiterhin in der Welt, und es gibt eben das Risiko der Varianten. Es kann natürlich sein, dass es eines Tages eine Escape-Variante gibt.

Portugal ist absolut solidarisch, was das Eintreten für den Schutz der EU-Außengrenzen angeht. Wir haben immer gesagt, dass die Außengrenzen eben ein Problem sind, das uns alle angeht, ob im Süden oder eben wie jetzt an der Ostgrenze. Aber ich wollte zudem noch sagen, dass es absolut inakzeptabel ist, dass irgendein Land Menschen als Waffe oder als Druckmittel benutzt. Das ist absolut inakzeptabel, und das muss eine ganz klare Reaktion der internationalen Gemeinschaft und eben auch der Europäischen Union hervorrufen.

Angela, erlaubst du mir, dass ich einige Worte auf Englisch sage? - Angela Merkel hinterlässt eine unauslöschliche Spur, was die Zukunft Europas angeht. Sie hat eine der wichtigsten Führungseigenschaften, die jede politische Führungspersönlichkeit auszeichnen sollte: Sie ist immer bereit, zuzuhören. Sie hört immer zu. Vielleicht hat das mit ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund zu tun. Sie versucht immer, die Argumentation, die Begründung hinter einer bestimmten Position und Haltung zu verstehen und auch die Eigenheiten eines jeden Einzelnen zu berücksichtigen. Aufgrund ihrer politischen Erfahrung ist sie zu einem konsenssuchenden und -fördernden Menschen in der Welt geworden. In Europa hat sie deutlich gemacht, dass es möglich ist, unterschiedlich zu sein und dennoch gleichberechtigt zu sein, unterschiedliche Ansichten auf der Grundlage unterschiedlicher Geografie und Geschichte zu vertreten und dennoch zum Erfolg von jedem Einzelnen beizutragen.

Durch die Stärkung der guten Beziehungen zwischen Deutschland und Portugal über die letzten sechs Jahre hinweg ist es ihr gelungen, dafür ein deutliches Beispiel zu geben. Sie hat dazu beigetragen, dass die Europäische Union zu einer konkreteren, gerechteren Realität für unsere Bürger geworden ist. Die Forderung nach einer menschlicheren, regulierten Flüchtlingspolitik und ihre Unterstützung für eine gemeinsame robuste Reaktion auf die COVID-19-Krise im Rahmen der „Next Generation EU“ sind hier nur die zwei jüngsten Beispiele dafür.

Wir teilen die Vision von einem Europa, das eine gemeinsame Wertegemeinschaft und eine gemeinsame Wohlstandsgemeinschaft ist, und Ihre Verpflichtung gegenüber einem gerechten, digitalen, grünen Übergang zu einem autonomen Europa, das der Welt gegenüber offen ist.

Sie ist die Meisterin des Kompromisses. Ich habe aus meinem Austausch mit ihr viel gelernt. Ich hatte das Privileg und auch das Vergnügen, bei den Europäischen Räten an ihrer Seite zu sitzen. Wir sind in diesen vergangenen sechs Jahren Sitznachbarn gewesen.

Trotz meiner Freundschaft mit Olaf Scholz wird sie mir fehlen. Ich bin mir ganz sicher, dass ich da nicht der Einzige sein werde. Aber Deutschland kann leider nicht zwei Sitze haben. Liebe Angela, ich danke dir sehr.

MP Kariņš: Es ist jetzt sehr schwierig, dem, was António gesagt hat, noch etwas hinzuzufügen. Ich glaube, dass ganz Europa der Bundeskanzlerin für ihre Arbeit in den vergangenen 16 Jahren große Dankbarkeit für das schuldet, was Angela Merkel geleistet hat, um die Einheit an den Tischen des Europäischen Rates durch viele schwierige Krisen hindurch zu wahren.

Ich hatte das Privileg und auch die Freude, mit Ihnen in den vergangenen drei Jahren zusammenarbeiten zu dürfen. Ich habe aus nächster Nähe das gesehen, was auch jene aus größerer Entfernung gesehen haben werden, nämlich die Meisterschaft des Kompromisses, diesen in dem Verständnis dafür zu finden, dass allen Stimmen zugehört werden muss und alle Meinungen berücksichtigt werden müssen, wenn man eine endgültige Entscheidung und Lösung finden muss. Diese Geduld und dieses Verständnis dafür haben dazu beigetragen, dass Europa durch schwierige Jahre hindurchgeführt wurde. Wir werden Sie alle ganz sicherlich am Tisch im Europäischen Rat vermissen.

Aber Wandel ist Teil der Politik. Er ist unvermeidlich. Wir freuen uns natürlich auch darauf, eng mit dem nächsten deutschen Kanzler zusammenzuarbeiten.

Heute werden wir zu einer Reihe von Themen miteinander im Gespräch sein. Das sind natürlich die Herausforderungen, denen wir uns jetzt in Europa und in der Zukunft gegenüber sehen. Da wäre die Coronakrise zu nennen, die ja nicht über Nacht verschwunden ist. Mein Land hat in der Tat eine sehr schwierige Welle - die schwierigste bisher - erlebt. Das führt zum Glück dazu, dass nun immer mehr Menschen geimpft werden wollen. Wir sehen wieder Schlangen vor den Impfzentren. Die Impfrate ist deutlich gestiegen. Es sieht auch so aus, als ob sich dieser Trend fortsetzen wird.

Dann ist die Lage in Bezug auf Belarus zu nennen. Das ist ein Anschlag auf die gesamte Europäische Union und etwas, was wir in dieser Form noch nicht erlebt haben. Ich würde es so bezeichnen, dass es ein von Staaten geförderter Menschenhandel, Menschenschmuggel ist. Das betrifft mein Land, Litauen, und Polen. Aber wir sind uns natürlich der Tatsache bewusst, dass man die Schengenzone, die Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb der Europäischen Union nur gewährleisten und schützen kann, wenn man klare Grenzen an der Außengrenze mit klaren Prozeduren und Verfahren für die Einreise hat. Das muss organisiert werden. Das darf nicht so unorganisiert sein, wie das jetzt der Fall ist, schon gar nicht im Angesicht eines staatlichen Akteurs. Hier sprechen wir ja von einem Drittstaat.

Wir werden auch über Fragen des Klimawandels und über die Herausforderungen sprechen, denn wir uns diesbezüglich momentan gegenübersehen, zum Beispiel die jüngsten Entwicklungen in Bezug auf den Anstieg der Energiepreise. Das gilt vor allem für die europäischen Staaten, die sehr stark von Gasimporten aus verschiedenen Ländern - vor allem aus Russland - abhängig sind. Das ist auch wiederum etwas, das wir angehen müssen. Wie kann man den Übergang zu einer grünen Energie vorantreiben und gleichzeitig sicherstellen, dass die Energiepreise für die Verbraucher und die Unternehmen in diesem Zeitraum auch bezahlbar bleiben?

Viel bleibt auch über die zukünftige Rolle Europas zu sagen. Nun, vom Standpunkt der Sicherheitsfragen betrachtet ist ja eindeutig, dass die Nato das Sicherheitsrückgrat der Europäer bildet. Das stellt auch niemand infrage. Die Frage ist nur, wie die Europäische Union ein stärkerer Partner, ein stärkerer Pfeiler im Nato-Bündnis und auch darüber hinaus sein kann.

Schauen Sie sich doch die Welt an. Wir haben eigentlich drei große Machtzentren: zum einen die USA, dann China und dann Europa. Die USA sind militärisch und wirtschaftlich eine Macht; China ist sowohl militärisch als auch wirtschaftlich eine Macht; wir in Europa sind eine wirtschaftliche Macht. Es ist aber klar, dass wir, wenn wir wirklich selbstständig agieren wollen, auch darüber nachdenken müssen, wie wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit innerhalb des Nato-Rahmens verstärken können. Da bleibt Arbeit genug. Die Demokratien in der Welt nehmen nicht zu, sondern sie werden weniger. Die, die wir in Europa haben, sind stark und lebendig. Wir sprechen hier von der Europäischen Union, von den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen Staaten. Dies sind Demokratien. De Demokratien der Welt müssen miteinander arbeiten, müssen zusammenarbeiten, um Lösungen zu finden, damit nicht die Autokratien in unserer Welt, deren Zahl leider zurzeit zunimmt, die Oberhand gewinnen.

Da steht uns einiges ins Haus. Ich glaube, wir haben heute genug zu diskutieren.