Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel zum Europäischen Rat

STS SEIBERT: Guten Tag, meine Damen und Herren. Die Bundeskanzlerin hat das Wort.

 

BK’IN DR. MERKEL: Meine Damen und Herren, wir haben die Zeit nach dem Frühstück heute ja mit etwas sehr Schönem verbracht, nämlich der Aufnahme Kroatiens in die Europäische Union. Ich erwähne das deshalb, weil diese Aufnahme Kroatiens noch einmal gezeigt hat, dass der Gedanke der europäischen Einigung nicht an Anziehungskraft verloren hat - vielleicht sogar im Gegenteil. Deshalb ist dies auch ein Zeichen dafür, dass sich jede Mühe für Europa und auch für den Euro lohnt.

 

Ich weiß, dass in den letzten beiden Tagen viele auf uns geschaut haben, und zwar nicht nur hier in Brüssel, sondern auch außerhalb Europas. Wir haben deutlich gemacht - und zwar alle miteinander -, dass Europa den Ernst der Lage erkannt hat und dass wir entschlossen sind, auch die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen, die gezogen werden müssen.

 

Wir sehen die Ursachen der Krise klar, das hat sich in den letzten beiden Tagen gezeigt. Wir ziehen die richtigen Lehren daraus, wir gewinnen Glaubwürdigkeit Schritt für Schritt wieder zurück. Ich habe immer gesagt und ich sage es auch heute wieder: Das geht nicht mit einem Rat. Wir schaffen aber Schritt für Schritt eine neue Basis des Vertrauens - des Vertrauens für den Euro, für unsere Gemeinschaftswährung.

 

Wenn ich „wir“ sage, dann umfasst das natürlich die 17 Länder, die zum Euroraum gehören, aber wir haben auch viel Unterstützung von Ländern bekommen, die nicht oder zum Teil noch nicht dem Euroraum angehören. Diese Länder werden uns - natürlich nach Konsultation ihrer Parlamente - positiv begleiten oder sogar Teile oder alles umsetzen; das wird sich entschieden. Es gab eigentlich nur ein Land, das sich deutlich distanzierter gezeigt hat: Das war Großbritannien. Ich will aber ausdrücklich noch einmal betonen - das ist auch in Gesprächen mit David Cameron klar geworden -: Großbritannien ist genau wie wir alle auf einen stabilen Euro angewiesen, weil er die wirtschaftliche Lage in ganz Europa beeinflusst. Das heißt, auch hier sitzen wir alle in einem Boot.

 

Ich glaube, dass wir mit dem, was wir geschafft haben, einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaft stabilen Euro genommen haben. Das ist eine politische Weichenstellung. Man kann sagen, es ist der Durchbruch zur Stabilitätsunion. Die Stabilitätsunion, die Fiskalunion, wird schrittweise in den nächsten Jahren fortentwickelt werden, aber der Durchbruch in diese Union ist jetzt geschaffen.

 

Wir haben uns darauf geeinigt, die Wirtschafts- und Währungsunion auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen. Wir werden neue Regeln und neue Verpflichtungen einfügen, und wir können das im Zusammenhang mit dem ESM-Vertrag tun. Das heißt, aus einem Hilfsfonds wird ein Vertrag, der die Stabilitätsunion deutlich macht. Ich will noch einmal sagen: Wir werden in diesem Vertrag den Institutionen - sowohl der Kommission als auch dem Europäischen Gerichtshof - eine sehr starke Rolle geben. Wir haben auch gesagt: Bei der Erarbeitung dieses Vertrages, den wir jetzt zu erstellen haben, werden wir auch Beobachter des Parlaments mit einladen, um deutlich zu machen, dass wir alle mit einbinden wollen und ein hohes Maß an Gemeinsamkeit haben wollen. Wir haben des Weiteren deutlich gemacht, dass wir, sobald das möglich ist, dieses Rechtsinstrument beziehungsweise diesen Vertrag dann auch in die Europäischen Verträge einfügen wollen. Die Zielsetzung ist hier also ganz deutlich; ich glaube, (diese Feststellung) ist noch einmal sehr wichtig.

 

Wir sollten uns noch einmal in Erinnerung rufen: Am 9. Dezember 1991, also vor 20 Jahren, haben sich die Staats- und Regierungschefs auf den Maastricht-Vertrag geeinigt. Es ist eigentlich sehr interessant, dass wir jetzt, 20 Jahre danach, (die Notwendigkeit) eingesehen haben, diese Wirtschafts- und Währungsunion auf ein stabileres Fundament zu stellen, und dass wir das jetzt auch geschafft haben. Damit wird natürlich auch die politische Union vorangebracht und damit werden auch Schwächen der Einführung der gemeinsamen Währung überwunden.

 

Noch einmal zur Erinnerung: Großbritannien hat sich schon damals, bei der Begründung der Wirtschafts- und Währungsunion, entschieden, nicht an diesem großen Integrationsschritt teilzunehmen. Wir haben dies immer respektiert. Trotzdem kann man sagen, dass Großbritannien in all diesen Jahren immer eine sehr konstruktive Rolle gespielt hat.

 

Die Botschaft dieses Europäischen Rates ist klar: Wir nutzen die Krise als Chance für einen Neuanfang.

 

Was bedeutet jetzt eine dauerhafte Stabilitätsunion? Wir werden eine Schuldenbremse, die sehr detailliert ausgearbeitet ist, in das nationale Recht aller Mitgliedstaaten - möglichst in die jeweiligen Verfassungen - einfügen und werden die ehrgeizigen Vorgaben - nah an einem ausgeglichenem Haushalt, ohne Sondereinflüsse, also zum Beispiel 0,5 Prozent Obergrenze des strukturellen Defizites - auf europäischer Ebene vertraglich festschreiben. Das ist also bedeutend stärker als die Parameter, die wir aus dem klassischen Stabilitäts- und Wachstumspakt kennen. Genauso festgeschrieben wird der Abbau der Schulden um ein Zwanzigstel. Der Europäische Gerichtshof kann dann überprüfen, ob die Nationalstaaten, die Mitgliedstaaten, diese Schuldenbremse so, wie sie detailliert festgelegt ist, auch wirklich in ihr nationales Recht - vorzugsweise in die Verfassungen - implementiert haben. Wer das nicht ausreichend macht, kann vom Europäischen Gerichtshof verklagt werden. Schuldenbremsen greifen sehr früh ein, das heißt, sie sind ein Beitrag zur Prävention. Das ist ja auch genau das, was wir jetzt erreichen müssen: Dass wir nicht immer erst aufmerksam werden, wenn die Fehler bereits gemacht wurden.

 

Wir haben des Weiteren eine deutliche Verschärfung des Defizitverfahrens beschlossen. auch dafür brauchen wir eine vertragliche Änderung; denn wir werden in Zukunft mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit entscheiden und nicht, wie im Lissabon-Vertrag festgelegt, mit qualifizierter Mehrheit des Rates. Das heißt also, diejenigen, die an dem Prozess des neuen Vertrages teilnehmen - und das werden auf jeden Fall alle Eurostaaten sein -, werden sich zu ambitionierteren, zu anspruchsvolleren Verpflichtungen bekennen. (Es wird dann so sein, dass) Mitgliedstaaten, wenn sie in einem Defizitverfahren sein sollten, eine Reformpartnerschaft eingehen und mit der Kommission detaillierte Konsolidierungs- und Reformschritte ausarbeiten, die dann nicht mehr nur Empfehlungen sind, sondern die man als bindend ansehen kann. Von der Zwanzigstel-Regelung hatte ich bereits gesprochen.

 

Auch zur augenblicklichen Krisenbewältigung gibt es Einiges zu berichten.

 

Erstens. Wir haben mit Freude zur Kenntnis genommen, dass uns die Europäische Zentralbank in Form ihres Präsidenten, Herrn Mario Draghi, den Vorschlag gemacht hat, dass in Zukunft die EZB mit ihrer Expertise die EFSF unterstützt. Ich glaube, damit kann die EFSF besser und effizienter arbeiten.

 

Zweitens. Wir wollen den ESM-Vertrag auf 2012 vorziehen und werden bei EFSF plus ESM eine konsolidierte Obergrenze von 500 Milliarden Euro haben.

 

Außerdem wird es zur Ressourcenaufstockung beim IWF kommen. Die Chefin des IWF, Christine Lagarde, war gestern da und hat deutlich gemacht: Wenn die Mitgliedstaaten der Eurozone, aber auch andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, beim IWF bilaterale Kreditlinien platzieren, dann wird es die Möglichkeit geben, auch außerhalb Europas um Unterstützung zu werben und damit die Schlagkraft des IWF in Richtung europäischer Hilfen zu erhöhen. Das ist wichtig und gut.

 

Wir haben dann gesagt: Die Beteiligung privater Gläubiger soll im ESM-Vertrag an den IWF-Prinzipien ausgerichtet sein, und die CACs, also die Collective Action Clauses, sollen weiterhin in den ESM eingebracht werden.

 

Außerdem werden wir in Zukunft dringende Entscheidungen über die Gewährung von finanziellen Hilfen mit hoher qualifizierter Mehrheit möglich machen - 85 Prozent gemäß des Kapitalschlüssels. Die Voraussetzung dafür, dass mit einer solchen Mehrheit von 85 Prozent gemäß des Kapitalschlüssels entschieden werden kann, ist, dass die Finanzstabilität der Eurozone bedroht ist.

 

Meine Damen und Herren, ich habe immer gesagt: Krisenbewältigung und Vorsorge sowie Lernen aus der Krise müssen Hand in Hand gehen. Dieser Rat hat einen wesentlichen Schritt gebracht, weil wir etwas qualitativ Neues gemacht haben. Wir haben uns sozusagen dazu durchgerungen, wir haben uns dafür entschieden, mehr Verantwortung an Gemeinschaftsinstitutionen zu geben - an die Kommission, an den Europäischen Gerichtshof - und uns als Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht nehmen zu lassen, zum Wohle des Euro insgesamt. Das ist genau das, was die Stabilitätsunion, was die Fiskalunion ausmacht. Wir werden auch in der Krisenzeit im nächsten halben Jahr monatlich miteinander tagen und uns treffen, um bestimmte Themen abzuarbeiten.

 

Ich glaube, wir haben noch viel zu tun, wenn es darum geht, Wachstum und Beschäftigung wieder in den Mittelpunkt stellen zu können; denn eine (gemeinsame) Währung ist zwar eine gute Voraussetzung für diese Dinge, aber noch nicht hinreichend für das Gelingen von Wachstum und Wohlstand in unseren Ländern. Insofern war das ein bedeutender Rat und ein weiterer wichtiger Schritt auf einem längeren Weg.

 

Jetzt stehe ich gerne für Ihre Fragen zur Verfügung.

 

Frage: Frau Bundeskanzlerin, die Vertragstexte sollen ja bis zum März vorliegen. Was geschieht in der Zeit bis dahin? Italien, Spanien, Portugal und Griechenland brauchen ja auch in dieser Zeit, im ersten Drittel des neuen Jahres, viel Geld. Wird daran gedacht oder wurde darüber gesprochen, dass die EZB in dieser Zeit überbrückend tätig wird?

 

Zweite kurze Frage: Wie war die Atmosphäre gestern Abend? Ging es hoch her oder wurde ruhig getafelt?

 

BK’IN DR. MERKEL: Die Atmosphäre war immer konstruktiv und gut. Wir haben uns sehr ruhig miteinander darüber ausgetauscht, was wir leisten können und was wir uns gegenseitig zumuten können. Jeder hat gewusst, dass es hier um sehr wichtige Entscheidungen geht. Wir haben bedauert, dass Großbritannien dann den Weg nicht mitgehen konnte, aber wir haben auch zur Kenntnis genommen - das hat David Cameron extra noch einmal gesagt -, dass auch (Großbritannien) ein Interesse an einem erfolgreichen Euro hat.

 

Das heißt, es war auch sehr viel Sacharbeit zu machen. Es ging also nicht hoch her, sondern es ging konstruktiv voran. Ich glaube, dass es gut war, dass wir dann zwar die ganze Nacht noch zusammengesessen haben, das Thema dann aber auch zu einem Abschluss gebracht haben. Das habe ich für eine sehr wichtige Botschaft gehalten.

 

Es war vor allen Dingen auch eine sehr konstruktive Diskussion mit der Europäischen Zentralbank. Sie hat auch sehr klare Vorstellungen von den Schuldenbremsen, denn sie sieht, dass hier sehr wichtige Pflöcke eingeschlagen werden müssen, die es früher nicht gab. Ich glaube, dass auch die Institutionen - die Kommission, der Rat - sehr zufrieden mit der Präzision der Schuldenbremse, die wir gewählt haben, waren. Wir haben naturgemäß nicht über die Rolle der EZB und das Verhalten der EZB gesprochen. Mario Draghi hat uns gestern über die Beschlüsse des EZB-Rates informiert, auch was die Liquiditätshilfen für Banken anbelangt, aber ansonsten haben wir in der gebotenen Unabhängigkeit miteinander diskutiert.

 

Frage: Erste Frage: Wo sollen die 200 Milliarden Euro denn herkommen, insbesondere in Deutschland?

 

Noch eine zweite Frage zur EZB: Sie haben von einer vereinbarten engeren Zusammenarbeit der EFSF (mit der EZB) gesprochen. Gilt das dann auch für den ESM? Wie sieht diese Zusammenarbeit genau aus?

 

BK’IN DR. MERKEL: Die ESM wird es ja noch eine ganze Weile nicht geben. Es geht eigentlich nur darum, dass die Zentralbank Experten hat, die sich in den Aktionen auf den Märkten (auskennen) - bei Primärmarktankaufen hat die EZB keine Erfahrung, aber bei Sekundärmarktankäufen -, zum Beispiel wenn es darum geht, bestimmte Bankkapitalisierungen und Ähnliches vorzunehmen. Die EZB hat einfach Fachpersonal. Diese Expertise möchte die EZB - in der Unabhängigkeit ihrer sonstigen Tätigkeit - der EFSF, die ja eine ganz neue Institution ist, zur Verfügung stellen. Ich glaube, das ist sicherlich recht hilfreich. Das heißt aber nicht, dass sich hier in irgendeiner Weise die Aufgabengebiete überlappen; es geht vielmehr einfach um Expertise.

 

Das Zweite ist, dass hier sicherlich eine Zahl genannt worden ist, hinsichtlich der wir einmal gesagt haben: 150 Milliarden Euro könnten als bilaterale Kreditlinien aus dem Euroraum kommen. Es ist so - die Bundesbank hat sich dazu heute auch geäußert -, dass das dann von der Bundesbank bereitgestellt werden wird. Wir haben die bilateralen Kreditlinien für den IWF ja 2009 auf dem Londoner G20-Treffen schon einmal erhöht, und in ähnlicher Weise wird das hier jetzt auch wieder stattfinden.

 

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich hätte noch eine kurze Nachfrage: Wenn die EZB jetzt praktisch als Agent des EFSF arbeitet, bedeutet das dann, dass Leute von Frankfurt nach Luxemburg fahren und bei bestimmten Aktionen behilflich sein werden? Ich frage, um sich das einfach einmal praktisch vorstellen zu können.

 

Zu meiner anderen Frage: Es gab heute Stimmen, die gesagt haben, Großbritannien sei im Moment nicht dabei, aber möglicherweise werde, wenn die Parlamente in Schweden, Ungarn und auch Tschechien zustimmen sollten, eine Dynamik entstehen, sodass Großbritannien am Ende einlenken könnte. Halten Sie das für möglich?

 

BK’IN DR. MERKEL: Darauf habe ich jetzt keine Hinweise. Das stand jetzt auch nicht zur Debatte. Es hat sich im Laufe des gestrigen Abends sozusagen gezeigt, dass eigentlich sehr viel konstruktiver Wille vorhanden war, wobei die einzelnen Länder jetzt noch darüber entscheiden werden. Diejenigen, die dem Euroraum sehr bald beitreten werden, versuchen, die ganzen Stabilitätsmaßnahmen zu übernehmen, und andere, die etwas entfernter sind, begleiten den Prozess lediglich positiv. Aber insgesamt war zu spüren, dass die EU, soweit sie nicht aus Euro-Mitgliedstaaten besteht, einfach konstruktiv an diesem Prozess mitwirken will, dass der Euro wieder zur Stabilität geführt wird. Jeder spürt nämlich: Wenn die Banken im Euroraum Schwierigkeiten haben, dann haben auch die Banken außerhalb des Euroraums eher schwierige Zeiten. Dieses Gemeinschaftsgefühl war schon sehr stark ausgeprägt.

 

Großbritannien hat hier sehr klar gesagt „Wenn es Vertragsänderungen gibt, dann wollen wir auch Vertragsänderungen zu unseren Zwecken“ - dieser Konditionalität konnten wir nicht folgen -, und andere Länder haben das nicht gemacht. Insofern gab es da einen Unterschied. Aber mir liegt kein Indiz dafür vor, dass sich dabei jetzt eine Dynamik entwickelt.

 

Ob die EZB-Mitarbeiter jetzt wirklich nach Luxemburg fahren werden, wird sich zeigen. Die EZB hat, glaube ich, gestern auf dem EZB-Rat beschlossen, dass sie für solche technische Hilfe zur Verfügung steht. Wie das dann organisiert wird, entzieht sich noch meiner Kenntnis. Ich werde mich natürlich so schnell wie möglich schlau machen.

 

Frage: Frau Bundeskanzlerin, als im Frühjahr über den ESM diskutiert wurde, haben Sie eigentlich immer wieder betont, wie wichtig die private Gläubigerbeteiligung sei. Das war eine Debatte in Deutschland, die auch unter der Gerechtigkeitsüberschrift geführt wurde. Würden Sie sagen, dass Sie die negativen Folgen, was das Investoreninteresse angeht, damals unterschätzt haben und dass bei diesem Gipfel vielleicht das einzige oder zumindest das größte Zugeständnis war, das Sie gemacht haben, zu sagen „Wir schränken die private Gläubigerbeteiligung ein“?

 

BK’IN DR. MERKEL: Mit dem Vorgehen des IWF und den CACs ist das Instrumentarium im Grunde vorhanden. Wir glauben nur, dass wir, wenn wir die Gesamtmechanismen der Stabilitätsunion einführen, solche Fragen in Zukunft vielleicht gar nicht mehr so diskutieren müssen. Wir haben damals im ESM sehr darauf beharrt, weil es auch damals schon nicht ausgeschlossen schien, dass Griechenland einmal von so einem Fall betroffen sein könnte. Die Dinge in Griechenland haben sich dann so entwickelt, dass jetzt schon - obwohl der ESM noch gar nicht operiert - der Punkt gekommen ist, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands nicht gegeben ist. Also mussten wir reagieren. Wir haben das auf freiwilliger Basis gemacht und haben ja gewusst, dass damit auch negative Effekte verbunden sein können. Dennoch war es aus meiner Sicht notwendig, wenn die Schuldentragfähigkeit nicht gegeben ist und wenn es im Vertrag gleichzeitig ein Bail-out-Verbot gibt, dass dann auch die privaten Gläubiger in gewisser Weise zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

 

Aber es ist so, dass wir uns jetzt entschieden haben, das internationale Instrumentarium in die Hand zu nehmen und deutlich zu machen, dass Griechenland ein Ausnahmefall im Euroraum ist, weil das Vertrauen schon wiederhergestellt werden muss. Man hat ja jetzt auch bei den Banken-Stresstests gesehen, wenn es eine Mark-to-market-Bewertung gibt, dass dann natürlich auf der einen Seite jeder sagt „Das ist konsequent, das ist richtig“ und dass das auf der anderen Seite doch auch wieder der Verunsicherung ein Stück Zuspruch gibt. Das muss jetzt möglichst in eine Phase der Beruhigung hineingehen.

 

Frage: Frau Bundeskanzlerin, wir nähern uns ja dem Jahresende. Wenn ich eine kleine Bilanz der Gipfel ziehe, komme ich - ich habe das für mich vorhin einmal gemacht - zu der Vermutung, dass wir bei jedem Gipfel um die 200 Milliarden bis 300 Milliarden Euro auf den Schirm drauflegen. Wir haben Anfang des Jahres mit 250 Milliarden Euro angefangen, dann ging es um 440 Milliarden, dann haben wir die Hebelung beschlossen, und jetzt kommen noch einmal 200 Milliarden hinzu. Außerdem werden überall diese SoFFins wieder aufgemacht; dadurch kommt ja auch noch einmal ziemlich viel Geld hinzu.

 

Das führt mich ein bisschen zu der ersten Frage: Hätte man nicht doch schon Anfang des Jahres eine insgesamt höhere Aufstockung vornehmen können? Zweitens: Wie groß ist dann die Chance - Sie haben ja eine Öffnungsklausel für diese 500 Milliarden Euro in Bezug auf den März hineingeschrieben -, dass noch einmal etwas draufgelegt werden wird?

 

BK’IN DR. MERKEL: Ich habe meine Position sehr klargemacht, dass da nichts draufgelegt werden wird. Ich glaube, dass wir natürlich durch verschiedene Phasen dieser Krise laufen und auch verschiedene Erfahrungen machen. Das konnte am Anfang auch nicht alles überblickt werden. Deshalb sage ich einmal: Wenn es beim Hebeln einmal klappen würde, wäre das gut. Wir haben damit ja noch gar keine Erfahrungen gemacht.

 

Ich habe immer gesagt: Ich glaube nicht, dass die Lösung allein in der Bereitstellung finanzieller Ressourcen liegt. Man muss auch handeln - das ist richtig -, und sicherlich gibt es auch Menschen, die sagen „Ihr müsst noch mehr handeln“. Ich glaube, dass das alles nur dann zu einem Ziel führen wird, wenn wir uns Schritt für Schritt den Ursachen dieser Krise nähern. Dabei sind wir, finde ich, durch die Gipfel dieses Jahres doch vorangekommen.

 

Am Anfang haben wir uns mit den Problemen einzelner Länder befasst. Jetzt gibt es eine ganze Reihe von Ländern, die entweder unter dem Schirm sind oder aber - wie zum Beispiel Spanien und Italien - erhebliche Reformen durchführen. Am Anfang war klar: Das ist vor allem auf die sehr hohe Verschuldung zurückzuführen. Im Falle Spaniens haben wir schon gesehen: Es geht nicht nur um die hohe Verschuldung, sondern auch um die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Die Marktteilnehmer schauen, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit ist, wie hoch die Arbeitslosigkeit insgesamt ist, was die demographische Situation ist und wie hoch die Innovationskraft ist. Das war die zweite Erweiterung. Jetzt ist immer mehr in den Fokus gerückt, dass die Glaubwürdigkeit und auch die Geschwindigkeit unserer Entscheidung - also dessen, was man „governance“ nennt - an vielen Stellen doch sehr zu wünschen übrig lassen. Wer in seiner Geschichte 60 Male den Stabilitätspakt verletzt hat, dem glaubt man halt nicht so einfach, dass von nun an alles besser werden wird. Zum Beispiel das Sixpack ist ja schon eine deutliche Weiterentwicklung des Stabilitätspaktes, und trotzdem - dadurch, dass das nicht so richtig bindend war und dass die Durchgriffsrechte nicht ausreichend groß waren - gab es immer Zweifel, ob das wirklich einmal besser werden wird.

 

Jetzt, glaube ich, sind wir schon sehr bei dem Kern des Themas angekommen. Ich habe auch immer gesagt: Das wird nicht mit einem Paukenschlag zu Ende sein, sondern das ist über Jahre hinweg gewachsen, und das muss auch über Jahre hinweg weiterentwickelt werden.

 

Wenn Sie schon mit Resümees anfangen, will ich vielleicht auch noch einmal sagen, dass sich die deutsch-französische Zusammenarbeit in dieser Zeit schon sehr bewährt hat. Wenn wir nicht auch sehr viel gemeinsam überlegt hätten, wie wir die Dinge weiterentwickeln können, dann, glaube ich, wären wir so nicht vorangekommen. Manchmal wird darüber geklagt, das ist gar keine Frage, aber ich glaube, unter dem Strich - wir zwingen das den anderen ja nicht auf, sondern bringen das als Ideen ein - ist hier etwas gewachsen, was ich am Ende dieses Jahres dann auch einfach ausdrücklich würdigen möchte, nämlich dass Deutschland und Frankreich mit ihrer gesamten Entschlossenheit, den Euro zu einer erfolgreichen Währung zu machen, wirklich sehr gut zusammengearbeitet haben. Dafür möchte ich meinem Kollegen Nicolas Sarkozy auch ganz herzlich danken.

 

Frage: Sie haben am Anfang von Fehlern gesprochen, aus denen Sie gelernt haben. Ich weiß auch, dass Politiker diesbezüglich nicht gerne konkret werden, aber vielleicht könnten Sie doch etwas spezifischer sein. Die Beschlüsse von heute legen den Gedanken nahe, dass Ihre Vereinbarung von Deauville vor gut einem Jahr dazu gehörte.

 

Wenn ich darf, möchte ich fragen: Können Sie erläutern, wie Sie es möglich machen, dass Sie die Institutionen der EU zu siebzehnt benutzen, die ja nicht nur den 17 gehören?

 

BK’IN DR. MERKEL: Richtig.

 

Als ich über die Fehler gesprochen habe, habe ich über die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen. Damals ist schon sehr viel darüber diskutiert worden, wie viel Politische Union wir brauchen, damit eine Währung erfolgreich ist. Wir haben jetzt in dieser Krise, als der Euro sozusagen zum ersten Mal in einer Bewährungsprobe war, gesehen, dass die Fundamente der Wirtschafts- und Währungsunion bei weitem nicht ausreichend ausgebaut waren; und diesen Prozess holen wir jetzt nach.

 

Dann haben Sie Deauville erwähnt; ich will vielleicht noch einmal darauf zurückkommen. Damals haben wir erstens - das war die deutsche Forderung - gesagt, dass wir Vertragsänderungen möglich machen wollen. Damals ging es um die kleine Vertragsänderung. Das war wichtig.

 

Dann haben wir gesagt: Wir brauchen auf Dauer eine Möglichkeit, auch Restrukturierungsverfahren zu benutzen. - Wir haben die CACs eingeführt. Das ist nach wie vor so geblieben.

 

Wir haben jetzt aus der Erfahrung mit Griechenland gesagt - damals in Deauville habe ich nicht gesehen, dass wir schon vor Auslaufen der EFSF eine solche Umschuldung vor uns sehen werden: Wir sollen es nach den Verhaltensweisen des IWF machen, weil das den Anlegern zeigt, dass hier nicht anders gehandelt wird als in anderen Gegenden der Welt.

 

Das waren mir damals zwei sehr wichtige Anliegen, die sich im Grundsatz auch als weiterhin richtig erwiesen haben. Frankreich wollte damals im präventiven Rahmen - daraus ist dann eine aus meiner Sicht große Geschichte entstanden, die vielleicht der Bedeutung auch nicht ganz gerecht wird - eine Schleife mehr der Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten noch selber Programme entwickeln. Daraus ergab sich dann eine große Kontroverse. Ich würde sagen: Für mich war das Ergebnis balanciert, und es war auch notwendig. Ich hätte in Deauville noch nicht gedacht, dass wir so schnell zu dem Punkt kommen würden, dass wir Verträge richtig ändern müssen. Da ist eine Entwicklung eingetreten, die uns heute wirklich an den Kern des Problems zurückführt, nämlich die Politische Union.

 

Was ist die Botschaft? Die Botschaft heißt: Wenn wir eine gemeinsame Währung haben, dann müssen wir akzeptieren, dass Gemeinschaftsinstitutionen auch Verantwortung haben, wenn man sich nicht an die gemachten Verabredungen hält. Innerhalb dieser Verabredung hat jeder seine Budgethoheit. Aber wenn er sich an die Verabredung nicht hält, dann muss durchgegriffen werden, und das wird jetzt Schritt für Schritt Realität.

 

(Zuruf – akustisch unverständlich)

 

Darüber ist gestern viel gesprochen worden. Wir haben ja schon heute die Situation, dass die Kommission im Wirtschafts- und Währungsausschuss durchaus Hilfestellung gibt, um der Eurogruppe der Finanzminister zu helfen. Wir haben das auch in anderen Fällen immer wieder gehabt. Gestern ist bei jedem Schritt, den wir sozusagen in der Schuldenbremse oder bei den Defizitverfahren haben, immer wieder der rechtliche Berater des Ratssekretariats aufgetreten und hat gesagt, unter welchen Bedingungen die Institutionen auf welche Weise genutzt werden können. Da gibt es Spielräume. Ich glaube, das ist dann ernsthafterweise auch von Großbritannien nicht mehr in Frage gestellt worden. Großbritannien wird das gut beobachten, denke ich.

 

Aber ich glaube, wenn wir ein Stück weit politisch sind und wir die Absicht haben, das eines Tages auch wieder in die Verträge einzufügen, dann ist es sicherlich richtig, dass wir die Institutionen nutzen. Die Rechtsberater oder die „legal advisers“, wie es so schön heißt, haben uns durch das Ratssekretariat hier auch grünes Licht gegeben.

 

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in den letzten Wochen klar gemacht, dass eine Vertragsänderung mit 27 Mitgliedstaaten die beste Lösung und ein neuer Vertrag mit weniger Mitgliedstaaten die zweitbeste Lösung wäre. Hat also Herr Cameron nicht klar Schuld daran, dass Sie jetzt mit der zweitbesten Lösung agieren müssen, und ist es gut, dass ein Land, das kein Mitglied der Eurozone ist, die beste Lösung blockiert hat?

 

BK’IN DR. MERKEL: Schauen Sie, als Europäerin denkt man in 27. Es wäre ganz komisch, wenn ich käme und sagte: „Pass einmal auf. Ich möchte einen Vertrag machen, der nicht alle 27 Mitgliedstaaten enthält.“ Dann würde man sagen: Seid Ihr verrückt geworden? Ihr müsst doch erst einmal jedem eine Chance geben.

 

Dann haben wir uns die Sache angesehen. Da muss man jetzt unterscheiden. Bezüglich der Substanz, die wir für den Euro erreichen müssen, ist der Weg über die Verträge und der Weg in dem Extra-Vertrag der gleiche. Ich kann das auf diesem und auf jenem Weg erreichen. Das heißt, was den Euro anbelangt, ist es neutral. Wir haben das erreicht, was wir für den Euro für richtig und wichtig halten.

 

Wenn man sich jetzt überlegt, wie man sich eine vollkommene Europäische Union vorstellt, dann hätte man am liebsten jede Regelung nicht erst als verstärkte Zusammenarbeit und dann irgendwann im Vertrag, sondern man hätte sie am liebsten gleich im Vertrag. Da schreiben wir hinein: Sobald sich das ergibt, werden wir das tun. - Das ist bei Schengen so gewesen. Da ist man auch mit der verstärkten Zusammenarbeit vorangegangen, und dann hat man das eingefügt. Das berühmte Abkommen von Prüm war, glaube ich, auch ein Bereich der Zusammenarbeit in der Innenpolitik.

 

Das, was für mich jetzt zählt, ist (etwas anderes). Deshalb bin ich jetzt auch nicht schlechter Dinge, sondern guter Dinge, dass ich für den Euro das, was ich wollte, auch erreichen kann. Als Europäerin der 27 wäre es mir auch recht gewesen, Großbritannien hätte „Ja“ gesagt. Aber das Wichtige ist: Wir sind in einer Krise des Euro oder des Euroraums mit verschiedenen Ursachen, und wir konnten das, was wir für die Stabilitäts- und Fiskalunion für unabänderlich halten, auch auf diesem Wege durchsetzen. Das wird auch sehr schnell gehen, wie hier schon gesagt wurde. Anfang März sollen die Verträge vorliegen und können dann sofort ratifiziert werden. Und es wird auch den Charakter des ESM verändern, weil wir das in gewisser Weise zusammenfügen werden. Damit haben wir dann sozusagen auch einen Nukleus eines Vertrages über die Stabilitätsunion, der jederzeit dann wieder vergemeinschaftet werden kann.

 

Frage: Gibt es noch einen Eurogipfel in diesem Jahr?

 

BK’IN DR. MERKEL: Also in meinem Terminkalender steht jetzt keiner. Insofern habe ich Ihnen nichts verheimlicht.

 

Wir haben uns heute alle „Frohe Weihnachten“ gewünscht, als wir uns verabschiedet haben.

 

STS SEIBERT: Das wünschen wir Ihnen auch.

 

BK’IN DR. MERKEL: Das tue ich jetzt bei Ihnen auch. Herzlichen Dank.