Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki anlässlich des Besuchs der Bundeskanzlerin in Warschau am 11. September 2021

Im Wortlaut Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki anlässlich des Besuchs der Bundeskanzlerin in Warschau am 11. September 2021

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Samstag, 11. September 2021

MP Morawiecki: Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, verehrte Herrschaften! Das heutige Treffen ist Anlass gewesen, ein Resümee der vergangenen 16 Jahre zu ziehen und auch einen Ausblick in die Zukunft über die wichtigsten Zukunftsfragen zu nehmen. Als Sie, Frau Bundeskanzlerin, zum ersten Mal Kanzlerin geworden sind, haben Sie darauf verwiesen, dass Polen oben auf der Agenda stehen sollte und die deutsch-polnischen Beziehungen Teil der deutschen Staatsraison sind. Ich freue mich sehr darüber, dass die deutsch-polnischen Beziehungen so stark sind, dass wir viele gemeinsame Interessen haben, und zwar nicht nur in der Europäischen Union. Heute haben wir viele strategische und geopolitische Themen angesprochen. Wir sprachen über die internationale Sicherheit.

In diesem Kontext ist auch anzusprechen, dass wir heute den 20. Jahrestag von 9/11 begehen. Das war ein Angriff auf unseren amerikanischen Partner, auf das World Trade Center. Wir haben uns mit Mitgefühl an diese Zeit erinnert und dachten auch an die Lehren, die wir daraus ziehen sollten.

Wir sprachen auch über die internationale Sicherheit. Ich weiß, dass sich die Situation in den letzten Wochen dramatisch geändert hat, und zwar angesichts der Evakuierung aus Afghanistan. Wir machen uns Gedanken darüber, was nach diesem Ereignis passieren kann. Aber die internationalen Akzente werden sich ändern. Darüber haben wir lange gesprochen. Wir wissen auch, dass dies eine neue Situation im Kampf gegen den internationalen Terrorismus herbeiführen wird. Das Gleiche gilt für die Beziehungen zwischen der EU und China und den USA. Der Blick wird auf den Pazifik gerichtet werden. Dort gibt es wichtige Themen.

Ich aus meiner Perspektive habe eindeutig den Willen der polnischen Regierung gezeigt, dass die Europäische Union ein starker globaler Player ist, und zwar bei verschiedenen Verhältnissen und Institutionen. Das gilt natürlich auch für die Staaten. Es geht hierbei um China, um Russland und natürlich auch um die USA. Aber damit das wahr wird, muss die Europäische Union wirtschaftlich stark sein. Sie muss die eigenen Fähigkeiten entwickeln, um potenzielle Aggressoren abzuschrecken, um unsere Kraft aufzubauen, was die Abschreckung angeht. Ich denke hierbei also an die Verteidigung.

In diesem Kontext muss man ansprechen, dass Polen vor ein paar Wochen und Deutschland vor einiger Zeit Opfer von Cyberattacken geworden sind. Cyberangreifer haben unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme angegriffen. Das ist der beste Beweis dafür, wie wichtig unsere politisch-institutionelle Zusammenarbeit ist. Auch darüber haben wir viel gesprochen. Wir brachten auch unseren Wunsch nach einer Annäherung auf vielen Feldern, was die internationale Zusammenarbeit angeht, zum Ausdruck.

Dann haben wir viel Zeit unserem östlichen Nachbarn gewidmet, also Russland. Ich berichtete Frau Bundeskanzlerin viel darüber, was an der polnisch-belarussischen Grenze passiert. Wir haben die volle Unterstützung der EU und auch der deutschen Regierung, um Europa gegen die illegale Migration, gegen gewisse Bewegungen, die von uns unabhängig sind, zu verteidigen. Das ist sehr wichtig. Wir haben unsere Standpunkte im Vergleich zu dem Streit, den es vor einiger Zeit gegeben hat, angenähert. Wir sehen diese Gefahren, und unsere Standpunkte sind hier näher, nicht nur die polnisch-deutschen; das gilt auch für Mitteleuropa, Westeuropa und die EU.

Wir haben auch ein schwieriges Thema angesprochen, nämlich Nord Stream 2. Das betrifft auch die Sicherheit dieser Region. Es geht hierbei um den Gastransit durch die Ukraine und Polen und um potenzielle Lösungen, die damit verbunden sind, auch im Zusammenhang damit, dass die USA ihren Standpunkt geändert haben.

Ein weiterer Punkt von großer Bedeutung für ganz Europa und auch für die ganze Welt ist die Klimapolitik. Über die Klimapolitik haben wir aus verschiedenen Blickwinkeln gesprochen. Einfluss auf die Gesellschaft, das ist das Problem Nummer eins. Wir wissen ganz genau, dass wir in Polen eine ganz besondere Lage haben, weil wir so stark von der Kohleenergie abhängig sind. Wir brauchen unsere eigene Zeit, unseren eigenen Terminplan, um die Klimaneutralität in Zukunft zu erreichen. Aber das gilt ja auch für die gesamteuropäischen Zielsetzungen. Jeder Staat, je nach Lage und Abhängigkeit von den tradierten Energiequellen, hat nun einmal eigene Probleme, aber auch eigene Hoffnungen und eigene Wege, um das zu erreichen.

Wir waren mit Frau Bundeskanzlerin darin einer Meinung, dass wir auch die europäische Industrie verteidigen müssen. Die europäische Industrie muss für Innovationen sorgen, für neueste Technologien, die unsere Wirtschaft transformieren werden. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas steigt, aber das gilt ja auch für die polnische Wirtschaft und ebenso für Deutschland. Produktivität, Leistung, das ist wichtig, aber auch die Vergütung. Die Vergütungen müssen auch bei uns steigen, ohne dass wir die Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das passt den Europäern und auch uns Polen sehr.

Ich bin auch dafür, Mittel für Innovationen, Entwicklungen und Umsetzungen zu verschieben, also eigentlich für alles, was zum Beispiel mit der künstlichen Intelligenz, mit Quantentechnologien, mit den neuesten Technologien verbunden ist, wo auch Polen über gewisse Kompetenzen verfügt. Wir wollen sie für die weitere wirtschaftliche Entwicklung nutzen.

In diesem Kontext haben wir mit Frau Bundeskanzlerin darüber gesprochen. Man soll das, was die Industriepolitik angeht, auch in Brüssel berücksichtigen. Frau Angela Merkel ist auch dafür, dass wir einen Terminplan für Veränderungen setzen müssen, der unseren Interessen entspricht, den polnischen und den deutschen, auch wenn es gewisse Differenzen gibt, was die Interessen angeht, mit Blick darauf, was zum Beispiel in China oder in anderen Teilen der Welt passiert.

Wir sprachen auch darüber, wie man die europäische Integration vollenden kann. Ich denke an den Westbalkan. Das ist eine strategische Diskussion. Man muss versuchen, Lösungen vorzuschlagen, um die Bedenken zu zerstreuen, die es zum Beispiel im Westen, in Frankreich und auch in Holland, gibt. Für die Europäische Union ist es wichtig, dass auch der Westbalkan zur EU gehört. Vielleicht könnte man sich Zwischenschritte vorstellen, um die Sicherheit dort im Hinblick auf die Migration zu stärken. Auf der anderen Seite würde das die Konkurrenz der EU in Anbetracht der Gefahren, die auf uns zukommen, stärken.

Ich bin ja ein Anhänger dessen, dass wir als Europa militärisch stark sein müssen. Wir brauchen in diesem Kontext die Kraft der Abschreckung. Das habe ich bei diesem Treffen nicht angesprochen; aber bei den früheren Gesprächen habe ich es genannt. Erlauben Sie mir bitte zu sagen, dass die Ausgaben für Verteidigung höher sein müssen als Konvergenzkriterien und auch Defizitverfahren. Das baut die Stärke Europas auf. Nur ein starkes Europa von Vaterländern kann gleichzeitig ein wichtiger globaler Player sein. Das ist eine Philosophie meiner Regierung und auch meine Philosophie. Deswegen setzen wir uns auch dafür ein, die Rolle Polens auf dem internationalen Parkett zu stärken.

Ich möchte mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, sehr herzlich für die langjährige Zusammenarbeit bedanken. Wir haben auf vielen Gebieten zusammengearbeitet. Wir sprachen auch über schwierige Themen. Diese solide Koordinierung im Politikbereich führte dazu, dass unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sehr gut sind. Sie sind einfach stark. Polnische Unternehmen wachsen in Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen und auch umgekehrt. Polen zählt zu den Schlüsselpartnern der deutschen Wirtschaft. Deutschland ist der größte polnische Handelspartner. Es gibt immer mehr Maßnahmen quasi als Joint Venture. Das betrifft nicht nur die großen Korporationen, sondern das gilt auch für kleine und mittelständische Unternehmen, die immer häufiger miteinander zusammenarbeiten.

Ich danke der deutschen Regierung, Frau Bundeskanzlerin, dass wir trotz Unterschieden auf das setzen können, was uns verbindet. Es gibt immer mehr solcher Dinge im Bereich der wirtschaftlichen und geschäftlichen Zusammenarbeit sowie im Bereich der Finanzaktivitäten. Das gilt auch für die Kultur; dort gibt es ja auch solche Bereiche. Auf diese Art und Weise sind wir stärker, Europa ist stärker, und wir können unsere Zielsetzungen im Hinblick auf die Stärkung der polnischen Wettbewerbsfähigkeit umsetzen. Das gilt für die Produktivität und den Gehaltsanstieg. Das Ganze führt dazu, dass wir uns im Rahmen eines sozialen Konsens entwickeln.

Ich danke Ihnen noch einmal für den Besuch, und ich freue mich sehr, dass wir unsere Standpunkte bezüglich der EU und weiterer Themen hier noch einmal besprechen konnten. Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Zusammenarbeit.


BK’in Merkel: Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Mateusz Morawiecki, ich möchte mich für die Einladung auch auf diesen wunderbaren Platz hier bedanken. Es wird ja wahrscheinlich mein letzter offizieller Besuch in Polen sein. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass du dir, auch noch an einem Samstag, dafür Zeit genommen hast.

Heute ist – daran haben wir uns erinnert – der 11. September. Vor 20 Jahren haben wir die erschreckenden Bilder von der Attacke auf die Vereinigten Staaten von Amerika, auf das World Trade Center durch islamistischen Terrorismus gesehen. Wir alle wissen, denke ich, noch, wo wir standen. Wir wussten damals, dass wir uns gegen diese terroristischen Gefahren gemeinsam in der NATO wehren müssen. Deshalb war es für uns keine Frage, dass wir auch reagiert haben. Diese Solidarität mit Afghanistan haben wir ja auch gezeigt, Deutschland in sehr starkem Maße, aber natürlich auch Polen und andere Länder.

Wir haben jetzt erkennen müssen, dass wir zwar den Terrorismus, der unsere Sicherheit in Gefahr bringt, zum jetzigen Zeitpunkt besiegen konnten, dass wir aber nicht alle unsere Ziele erreicht haben, die wir gern erreicht hätten. Deshalb ist es für uns aus deutscher Perspektive jetzt erst einmal wichtig, zu versuchen, das zu sichern, was wir erreichen konnten, Bildung für Mädchen und Ähnliches, obwohl wir wissen, dass das mit den Taliban nicht einfach wird, und vor allem auch die schutzbedürftigen Bürgerinnen und Bürger, die uns entweder als Afghanen geholfen haben oder aber auch als deutsche Staatsbürger noch in Afghanistan sind, nach Deutschland zu bringen und ihnen Schutz zu geben. Das empfinden wir als moralische Verpflichtung. Ich freue mich, dass mit den ersten beiden Charterflügen nach Abschluss der Evakuierungsoperation jetzt auch deutsche Staatsbürger in die Freiheit gebracht werden konnten.

Ausgehend vom Datum des 11. Septembers haben wir uns die geostrategische Lage Europas noch einmal angeschaut. Dabei haben wir, denke ich, gemeinsame Interessen definiert. Das heißt, dass sich Europa natürlich gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika, aber eben auch aus unserer Interessenlage und unserer geografischen Lage heraus schützen und für seine Sicherheit mehr tun muss, ob es um neue Herausforderungen wie Cyberattacken oder auch um ganz konventionelle Herausforderungen geht. Wir erleben an der Ostgrenze jetzt ja auch eine Art von hybrider Attacke in Form von Flüchtlingen an der belarussischen Grenze. Das betrifft Litauen und Lettland, aber eben auch Polen. Unabhängig von den Versuchen, Menschen hier humanitär zu helfen, heißt es natürlich auch, hier die Außengrenze der Europäischen Union zu schützen, wie wir es auch bei Griechenland getan haben und wofür wir auch Frontex gegründet haben. Das ist ein gemeinsames Ziel aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Unsere bilateralen Beziehungen haben sich gut entwickelt, unabhängig von einigen Schwierigkeiten. Wir haben heute im europäischen Kontext natürlich auch über das Thema der Rechtsstaatlichkeit diskutiert. Ich setze mich dafür ein   das habe ich auch voriges Jahr während der deutschen Präsidentschaft getan  , dass wir die Dinge durch Gespräche lösen und hierbei vorankommen. Ich denke, dass es dazu auch Möglichkeiten gibt.

Wir haben darüber gesprochen, wo unsere Zukunft ist. Die deutsch-polnische Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich ist, denke ich, sehr gut. Denn unser Handel hat sich vervielfacht. Es gibt enge Beziehungen über die Grenzen, es gibt enge Beziehungen im Mittelstand, bei der Kultur, so, wie es der Premierminister gesagt hat. Das sollten wir weiter vertiefen. Genau das sind ja die Möglichkeiten unserer Freiheit, die wir heute haben. Mir liegt sehr daran, dass wir nicht nur Regierungskontakte haben, sondern dass wir einfach auch Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder haben.

In dem Zusammenhang ist sicherlich nicht außer Acht zu lassen, dass neben dem Sicherheitsversprechen der Europäischen Union auch das Wohlstandsversprechen der Europäischen Union einer der Gründe ist, warum die Menschen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten den Mehrwert dieser Europäischen Union sehen: Gemeinsam in Rechtsstaatlichkeit zu leben, gemeinsam Sicherheit zu garantieren und gemeinsam wirtschaftlich erfolgreich zu sein.   Hier haben wir darüber gesprochen, dass Europa das nicht mehr in allen Bereichen ist. Wenn ich sehe, dass der amerikanische Präsident Joe Biden für die nächsten drei Jahre 256 Milliarden Euro einsetzt, um in der Chipproduktion im Zeitalter des Internets der Dinge gegenüber Asien wettbewerbsfähig zu werden, dann wissen wir, welche Hausaufgaben wir zu machen haben. Ich denke, dass es hierbei eine sehr große Übereinstimmung zwischen Polen und Deutschland gibt. Investitionen in Forschung und Innovation stehen also ganz oben auf der Tagesordnung.

Das hängt dann wieder sehr eng zusammen mit einem Thema, das den Herbst und das nächste Frühjahr bestimmen wird, nämlich die Ausarbeitung unserer gemeinsamen Klimaziele, also die Frage „Wie wollen wir das nun wirklich auch umsetzen?“. Ich will ausdrücklich erwähnen, welche große Leistung hier in Polen vollbracht wurde, denn Polen hat vielleicht den größten Transformationsweg in der Umstellung seines Energiesystems zwischen heute und 2050 zu gehen. Deutschland ist auch noch von Braunkohle abhängig, aber Polen ist das in weitaus größerem Maße. Dass wir die gemeinsame Verpflichtung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreicht haben, 2050 klimaneutral sein zu wollen, ist eine große Errungenschaft, und der Weg für Polen war das sicherlich weiter als der Weg für Länder, die bereits heute 90 Prozent ihres Stroms aus Wasserkraft gewinnen können.

Wir wissen, dass die Tücke bei dem Paket „Fit for 55“ auch im Detail liegen kann. Das Paket generell zu begrüßen ist die eine Sache; auf der anderen Seite sicherzustellen, dass wir Arbeitsplätze erhalten, damit auch soziales Vertrauen erhalten und die Transformation in Richtung Klimaneutralität erreichen, wird uns noch viel Kraft abverlangen. Wir haben vereinbart, dass wir uns bei den verschiedenen Facetten, die wir in diesem Zusammenhang zu bewerkstelligen haben, eng abstimmen werden.

Wir haben in der Tat auch über die Energiebeziehungen und in diesem Zusammenhang auch über Nord Stream 2 gesprochen. Ich habe noch einmal deutlich gemacht, dass unser Anliegen ist, dass die Ukraine Transitpartner für die Durchleitung russischen Erdgases bleibt und dass gerade auch unsere Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten von Amerika darauf hinzielt, dass wir die sichere Möglichkeit schaffen, dass die Ukraine auch nach Auslaufen des jetzigen Transitvertrages, der bis 2024 gilt, weiter Transitland bleiben wird. Dieses Thema wird sicherlich auch weiter auf der Agenda stehen.

Insgesamt also danke! Wir werden in den nächsten Wochen noch weiter eng arbeiten   auch nach der deutschen Wahl wird ja nicht sofort eine Regierung da sein  , um die Weichen in Richtung Klimaschutz dann richtig zu ziehen, auch mit Blick auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Danke für die Zusammenarbeit! 

Was unsere Beziehung ausgezeichnet hat und auszeichnet, ist, dass wir, selbst wenn wir schwierige Themen zu diskutieren haben, zuhören, offen sind und versuchen, Kompromisse zu finden. Das muss auch die Arbeitsweise der Europäischen Union insgesamt sein. Man kann nicht 27 Mitgliedstaaten mit ganz unterschiedlichen nationalen Interessen und mit ganz unterschiedlichen geschichtlichen Gegebenheiten zusammenhalten, ohne die Fähigkeit zu haben, tolerant zu sein und aufeinander zuzugehen   natürlich auf der Grundlage bestimmter rechtsstaatlicher Prinzipien, aber die polnische Nation hat ja   ich erinnere an Solidarność   viel dazu beigetragen, dass wir heute in freiheitlichen Ländern leben. Die deutsche Einheit wäre nicht passiert ohne die Solidarność-Mitglieder, die damals viel Mut aufgebracht haben. Das werden wir auch nie vergessen, und deshalb werden wir auch die heutigen Probleme lösen können; davon bin ich überzeugt.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie hatten es eben angesprochen: Auch die Rechtsstaatlichkeit war ein Thema. Polen setzt ja seit einigen Jahren eine sehr umstrittene Justizreform um, die auf massive Kritik der Europäischen Union stößt. Ihr Gesprächspartner, Herr Morawiecki, lässt gerade vor dem Verfassungsgericht klären, ob in einigen wichtigen Fragen polnisches Recht zukünftig vor EU-Recht gehen soll. Meine Frage ist: Wie schätzen Sie das ein, und wie schätzen Sie Polens Rolle im Kontext der Europäischen Union ein?

Wenn Sie gestatten, eine kleine Nachfrage zum Recht: Sie hatten Belarus angesprochen   sehr schwierige Situation. Einige sagen, da sei es zu sogenannten illegalen Pushbacks gekommen, also dazu, dass Menschen, die schon auf polnischer Seite waren, wieder zurückgebracht wurden. Was sagen Sie dazu?

BK’in Merkel: Der Premierminister hat mir noch einmal bestätigt, dass es sich   jedenfalls nach polnischer Auffassung   um Menschen auf weißrussischem Gebiet handelt. Was ich sehr gut fand   und da kann ich nur an die belarussische Seite appellieren  : Es gibt ja die Möglichkeit, Menschen, die dort sind   und auch unter schweren humanitären Bedingungen dort sind  , durch internationale Organisationen, zum Beispiel das Internationale Rote Kreuz oder ähnliches, zu versorgen. Das setzt aber voraus, dass nicht nur die polnische Seite dafür bereit ist, sondern auch die belarussische. Deshalb ist, glaube ich, der Aufruf an die belarussische Seite, sich zu besinnen, dass hier wehrlose Menschen aus anderen Regionen sozusagen als Subjekte hybrider Attacken genutzt werden. Ich habe das neulich auch dem russischen Präsidenten gesagt: Ich halte es für vollkommen inakzeptabel, auf dem Rücken von einzelnen Menschen mit ihrem Schicksal solche hybriden Attacken auszuführen.

Was die Rechtsstaatlichkeit insgesamt anbelangt, so haben wir darüber durchaus vertieft gesprochen. Ich plädiere dafür   und es gab ja auch entsprechende Ankündigungen Polens, etwa wenn man an die Disziplinarkammer denkt  , dass man Wege durch Gespräche findet. Glücklicherweise gibt es solche Gespräche auch mit der Kommission. Ich werde mich dafür einsetzen   das ist ja unser Metier  , dass man das möglichst durch Gespräche löst. Alles nur durch Gerichtsverfahren zu lösen, sollte sozusagen zwar immer die Möglichkeit des Rechtsstaats sein, aber Politik ist noch mehr, als nur zu Gericht zu gehen.

Frage: Ich möchte die Frage von Nord Stream 2 noch einmal ansprechen   der Herr Ministerpräsident hat es ja angesprochen. Der Premierminister der Ukraine hat bei dem Forum in Karpacz gesagt, Nord Stream 2 sei eine Art Hybridkrieg gegen die Ukraine, aber auch gegen Polen. Wie würden Sie das kommentieren?

Frau Bundeskanzlerin, gibt es eine Möglichkeit, die differenzierten Interessen aneinander anzupassen.

BK’in Merkel: Das ist ja unser Ziel, deshalb haben wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika jetzt auch die Abmachung getroffen, dass wir uns in ganz besonderer Weise dafür einsetzen, möglichst frühzeitig Verpflichtungen der Russischen Föderation zu bekommen, dass die Gaslieferungen auch nach 2024 fortgesetzt werden. Ich verstehe die Sorge der Ukraine   ich habe ja auch mit Präsident Selensky selber darüber gesprochen. Wir haben deshalb auch einen speziellen Verantwortlichen für diese Diskussionen benannt.

Streng genommen muss nicht Deutschland mit Russland darüber verhandeln, sondern die Europäische Kommission; denn es handelt sich hier nicht nur um deutsche Unternehmen, sondern es handelt sich um Shell, es handelt sich um französische und italienische Unternehmen. Es ist also ein europäisches Herangehen. Deshalb haben wir auch das Dritte Energiebinnenmarktpaket noch einmal verändert und deshalb wird auch die Europäische Kommission bei der Zertifizierung dieser Pipeline noch einmal ihre Sicht auf das Dritte Energiebinnenmarktpaket deutlich machen. 

Ich sage einmal: Es hat immer Rohstoffbeziehungen zwischen Russland und dem Westen gegeben; schon in Zeiten des Kalten Krieges. Aber eine Verpflichtung, auch für die Ukraine weiter Gas zu liefern   bis 2024 ist das der Fall, danach noch nicht  , muss und sollte aus meiner Sicht kommen, damit das hier eben nicht zur hybriden Kriegsführung benutzt werden kann.

Im Übrigen muss man auch sehen, dass wir insgesamt sowieso in einem Transformationsprozess sind, denn bis 2045 will Deutschland klimaneutral sein.

MP Morawiecki: Alle Vereinbarungen, die es zwischen Deutschland und den USA sowie der Ukraine gab, sind strategisch sehr wichtig. Das, was wir von Anfang an befürchtet haben   das haben wir auch hervorgehoben  , ist die Verschlechterung der politischen Lage in der Region zwischen Polen, der Ukraine, Russland und Weißrussland. Dazu kann ja dazu kommen, indem man Nord Stream 2 nutzt. Damit das möglichst wenig passiert, braucht man auch eine Garantie für den Gastransit über die Ukraine in den Westen von Europa. Das ist etwas, was die Möglichkeit einer Erpressung seitens Russlands verringern wird. Das Gleiche gilt auch für die Preiserpressung und die politische Erpressung. 

Wir wissen ja auch, wie gespannt die Lage in Donbass ist. Nach der Krim-Annexion gibt es einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, und dieser Konflikt schwelt immer noch. Wir setzen darauf, dass man das Völkerrecht wahren muss, dass also die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt bleiben muss. Aus dieser Sicht betrachten wir Nord Stream 2, und natürlich auch alles, was die Einbeziehung der Ukraine bei Gaslieferungen angeht. Das wird die Spannungen senken, das ist angebracht.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Polen hat sich sehr lange gegen Nord Stream 2 gewehrt, weil es die Angst vor einer großen Energieabhängigkeit von Russland gibt. Jetzt ist die Leitung fertig. Was sagen Sie da Ihren polnischen Partnern?

Zweite Frage: Es gibt auch in der CDU/CSU wachsende Kritik an dem Projekt. Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie sich dann noch einmal so entscheiden und das befürworten?

BK’in Merkel: Wir haben ja gesagt, dass wir Nord Stream 2 befürworten, aber wir brauchen angesichts der Entwicklungen, die in der Zwischenzeit eingetreten sind, natürlich sogenannte Safeguards, also Sicherungen. Das deutsch-amerikanische Papier ist eine solche Sicherung, das Dritte Energiebinnenmarktpaket ist eine solche Sicherung, die Zertifizierungsnotwendigkeit für die Durchleitung ist eine solche Sicherung. Nicht umsonst haben wir jetzt einen Verantwortlichen benannt   nämlich Graf Waldersee, der übrigens sehr erfahren ist  , der diese Verhandlungen führen wird und der Gespräche mit Russland und mit der Ukraine führt. Die Amerikaner haben das auch getan. 

Selbst über die jetzige deutsche Bundesregierung hinaus haben wir uns verpflichtet, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass die Ukraine Transitland bleibt. Genau darum geht es, und insofern, glaube ich, haben wir da in den letzten Wochen ganz wichtige Schritte unternommen.

Frage: Herr Ministerpräsident, Sie haben die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Polen und Deutschland angesprochen. Sie haben aber auch darüber informiert, dass Sie auch über problematische Fragen reden werden. Abgesehen von Nord Stream 2: Welche Themen sind problematisch? Haben Sie Lösungen erarbeiten können?

Frau Bundeskanzlerin, dies ist ja Ihr letzter offizieller Besuch in Polen. Ich würde Sie gerne um eine Zusammenfassung bitten. Wie haben sich die deutsch-polnischen Beziehungen in den letzten 16 Jahren verändert und wie sollten sie sich in den nächsten Jahren verändern? Was sollte Ihr Nachfolger da besonders hervorheben?

MP Morawiecki: Was die schwierigen Themen angeht, so habe ich einige angesprochen. Ich möchte hier zwei hervorheben, und ich glaube, dass sich unsere Standpunkte diesbezüglich am heutigen Tag angenähert haben.

Erstens: breit verstandene Klimapolitik. Da kommt mir der Ausspruch in den Sinn: Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es ist klar, dass der Klimawandel passiert; das betrifft ja auch die europäische Gesetzgebung, und es gibt ja viele Probleme rund um uns herum. Wir möchten aber nicht die ganze Automobilindustrie verlieren und an China abgeben. Das Gleiche gilt auch für die Chemieindustrie: Das soll nicht an die USA und Indien gehen. Der Terminplan für die Veränderungen muss also auch den technologischen Wandel berücksichtigen, und jegliche Reflexionen im Zusammenhang mit der EU-Gesetzgebung müssen auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaften berücksichtigen. Das erwarten unsere Menschen von uns, und das ist eine Frage, mit der wir uns heute befasst haben.

Zweitens: breit verstandene Migrationspolitik. Vor fünf Jahren waren die Unterschiede zwischen uns ziemlich groß, und die Spannungen steigen an. Das gilt nicht nur die Südflanke, sondern jetzt auch für die Südostflanke und die Ostflanke; es gibt dort Spannungen. Im Osten haben wir Hybridattacken in Form von Migrationsbewegungen, die durch das Regime von Lukaschenko künstlich verursacht worden sind. Ich bin ein großer Anhänger dessen, unsere Politik der Verteidigung zu stärken. Es geht hier um Grenzen, aber auch um Cyberattacken. Wir müssen hier auch unsere Ziele und die Instrumente im Bereich der Migrationspolitik unter einen Hut bringen. Es geht hier also um Flüchtlinge, um die Anerkennung von Asyl usw. Ein gutes Zeichen dafür ist das, was in der politischen Reflexion zum Beispiel in Brüssel und auch in Berlin bezüglich der Ereignisse an der polnisch-belarussischen Grenze passiert. Dazu zählt auch unsere Zusammenarbeit bei der Evakuierung der Personen aus Kabul, aus Afghanistan. Das war wirklich vorbildlich. Die Welt wird also komplexer und immer schwieriger. Das Ganze wird uns auch in Zukunft dazu bewegen, dass Polen und Deutschland eng zusammenarbeiten   auch in den schwierigen Themen.

BK’in Merkel: Ich kannte Polen schon zu Zeiten des Kalten Krieges und ich bin mir der polnischen Geschichte sehr bewusst. Ich habe den Mut der Mitglieder von Solidarność bewundert und bin mir vollkommen bewusst, wie wir davon auch in Deutschland profitiert haben. Deshalb sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen unter jeder polnischen Regierung für mich eine Herzensangelegenheit gewesen.

Nun gibt es in Polen genauso unterschiedliche politische Meinungen wie in Deutschland. Das heißt, es gibt mit jeder Regierung Konstanten, über die man spricht; es gibt aber manchmal auch unterschiedliche Meinungen. Ich als Bundeskanzlerin habe aber immer die innere Verpflichtung, alles zu tun, um gemeinsame Lösungen zu finden, selbst wenn es schwierig erscheint. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass aus Meinungsunterschieden Vorurteile werden können, aus Vorurteilen können schlechte Worte werden, und aus schlechten Worten können dann noch viel schlimmere Dinge entstehen. Irgendwo   ohne zu übertreiben   sind gute deutsch-polnische Beziehungen also auch immer eine Friedensversicherung und eine Sicherheitsversicherung. Deshalb muss man da alle Kraft aufwenden. Das hat mir immer Freude gemacht. 

Ich schätze den klaren Blick   aller polnischen Regierungen, muss ich sagen   auf geostrategische Herausforderungen. Deutschland fühlt sich vielleicht manchmal ein bisschen sicher, weil wir in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg irgendwie auch sehr lange von den Vereinigten Staaten von Amerika und den anderen Alliierten behütet waren. Die ganze Entwicklung deutet aber darauf hin, dass die Sichtweise, dass sich Europa um seine Sicherheit sehr viel mehr selbst kümmern muss, richtig ist. Deshalb haben wir unter meiner Regierung seit den Beschlüssen von Wales auch den Verteidigungsetat aufgestockt. Ich will ausdrücklich anerkennen, dass ein Land wie Polen schon weit vor Deutschland die zwei Prozent Verteidigungsausgaben erreicht hat, und das bei schwierigeren sozialen Verhältnissen. Das ist die richtige Antwort, und Deutschland hat da noch nachzuholen.

Insofern war es mir immer ein Herzensanliegen, und das wird es bis zum letzten Tag meiner Amtszeit bleiben. Und wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin bin, wird Polen immer noch ein interessantes Land für mich sein, das ich wahrscheinlich auch gerne wieder bereisen werde.

MP Morawiecki: Ich danke Ihnen! Auf diese Art und Weise beenden wir unser Treffen. – Danke schön!

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