Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Buzek

(Die Ausführungen des fremdsprachlichen Teils erfolgten anhand der Simultanübersetzung.)

Buzek: Einen schönen guten Tag! Ich bin sehr erfreut, Frau Bundeskanzlerin Merkel hier im Europäischen Parlament begrüßen zu können. Das ist heute besonders wichtig, denn wir haben gemeinsam diskutiert. Wir haben über die gegenwärtige Lage in der Europäischen Union diskutiert. Es waren sehr tiefgehende und sehr aufrichtige Diskussionen bei der Konferenz mit den Vertretern der im Europäischen Parlament vertretenen politischen Gruppen. Ich möchte Ihnen versichern, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie wirklich ein Fels der europäischen Integration sind. Sie haben nicht nur den Lissabonner Vertrag während der Diskussionen und Verhandlungen zu diesem Vertrag gerettet, sondern Sie sind auch ein Fels der Stabilität im Sturm der Finanzkrise.

Deutschland ist ein überaus wichtiges Land in der Europäischen Union. Es ist ein wichtiges Land in der Eurozone. Es ist auch ein Gründungsmitglied der Europäischen Union.

Die Zustimmung des Bundestags zur Ausweitung des EFSF war ein Signal der Zuversicht in Ihre Führungsqualitäten und in die Fähigkeit der Europäischen Union, die Krise zu managen. Ich bin überzeugt davon, dass wir gemeinsam eine solide neue Finanzarchitektur aufbauen können. Wir können das vollenden, wovon die Gründerväter der Europäischen Union geträumt haben: eine Wirtschaftsunion und eine politische Union.

Das Europäische Parlament ist überzeugt davon, dass sich die wirtschaftspolitische Steuerung der EU nach der Gemeinschaftsmethode richten sollte. Wir als Europäisches Parlament sind bereit, alle Probleme anzugehen, die notwendigerweise angepackt werden müssen, um weitere wirtschaftliche beziehungsweise finanzpolitische Schwierigkeiten zu verhindern.

Lassen Sie mich am Ende noch hinzufügen, dass wir ebenso bereit sind, die Zusammenarbeit zwischen den drei Institutionen, also zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament, das für die europäische Gesetzgebung verantwortlich ist, zu verstärken. Ich glaube, dass wir auch eine Art beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren brauchen. Aber das hängt natürlich von allen drei Institutionen ab. Wir sind bereit, die Diskussionen zu diesem Thema aufzunehmen. Manchmal müssen wir einfach noch viel zügiger auf die Erwartungen der Märkte und natürlich auch auf die Erwartungen unserer Bürger reagieren. Daher noch einmal vielen Dank für Ihren Besuch, Frau Bundeskanzlerin, und für die sehr tiefgehenden und fruchtbaren Diskussionen.

BK’in Merkel: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe heute sehr gerne die Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments besucht und habe sehr gerne eine Diskussion mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments geführt, weil ich damit dokumentieren möchte, dass die Mitgliedstaaten ‑ in diesem Fall die Bundesrepublik Deutschland und das Europäische Parlament genauso wie die Europäische Kommission ‑ im Bereich unserer unterschiedlichen Verantwortlichen eng miteinander zusammenarbeiten. Aber wir alle sind die Europäische Union mit ihren unterschiedlichen Organen.

Wir haben eine außerordentlich große Bewährungsprobe zu bestehen. Der Präsident der Europäischen Kommission hat letzte Woche bei seiner Ansprache im Europäischen Parlament deutlich gemacht, dass es vielleicht die größte Bewährungsprobe ist, in der sich Europäische Union befindet. Ich habe bei meinen Gesprächen hier gespürt, dass wir uns darüber einig sind, dass wir diese Krise überwinden wollen, dass wir wollen, dass Europa stärker aus dieser Krise herauskommt, als es in diese Krise hineingegangen ist.

Stärker aus der Krise herauskommen heißt mit Sicherheit auch, dass wir in Zukunft eher mehr Europa als weniger Europa brauchen, dass diese Krise uns die Möglichkeit gibt zu überlegen, wo Europa noch nicht richtig funktioniert. Wir haben in unserer Diskussion heute darüber gesprochen, was die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten sind.

Ein Punkt, der immer wieder aufgegriffen wird, ist: Wo findet die wirtschaftspolitische Koordinierung statt? Ich sage es so: Sie findet dort statt, wo wir Verantwortlichkeiten vergemeinschaftet haben, so zum Beispiel hinsichtlich vieler Zuständigkeiten im Binnenmarkt. Natürlich findet das auf der Ebene der Europäischen Union statt. Das heißt: Rechtssetzung durch die Kommission als Vorschlag und dann die Diskussion im Rat und im Europäischen Parlament.

Es gibt aber für das Funktionieren einer Wirtschafts- und Währungsunion auch Bereiche, die, wenn ich an Gehaltsverhandlungen in nationalen Ländern, an Steuersysteme und an Sozialsysteme denke, nach wie vor in nationaler Zuständigkeit liegen. Hier müssen wir natürlich innerhalb des Rates schauen, dass wir da, wo nationale Zuständigkeiten sind, uns, solange sie keine europäischen Zuständigkeiten sind, besser koordinieren, als wir das bisher gemacht haben, weil wir ansonsten Spannungen im europäischen Bereich erzeugen. Dieses muss verhindert werden. Das ist aber nicht gegen die Gemeinschaftsmethode gerichtet, sondern das ist die Notwendigkeit, sich dort, wo nationale Kompetenzen sind, auch national zu informieren und abzusprechen. Ein Beispiel dafür ist der Euro-Plus-Pakt. Ein anderes Beispiel sind die Zielvorgaben der Agenda 2020, die die Europäische Kommission ausgearbeitet hat, die der Rat beschlossen hat und die auch im Europäischen Parlament diskutiert werden.

Wir haben immer wieder gesagt ‑ auch beim Euro-Plus-Pakt, ähnlich wie das auch bei der Eurogruppe funktioniert ‑, dass wir dabei das Europäische Parlament nicht umgehen, sondern informieren, diskutieren, Anregungen aufnehmen, aber dass natürlich die eigentliche Zuständigkeit für Regelungen nach wie vor in den nationalen Parlamenten liegt.

Wir haben aus Überzeugung die Erweiterung des EFSF beschlossen. Wir sind der Meinung, dass es zwei Seiten einer Medaille gibt, und zwar europäische Solidarität auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, dass alle Mitgliedstaaten ihre Hausaufgaben machen. Ich glaube, dass dieses vom Europäischen Parlament nicht infrage gestellt wird. Meine beziehungsweise die deutsche Position ist: Da, wo wir merken, dass gerade die Währungsunion, der Euroraum nicht ausreichend funktioniert, dürfen auch Vertragsänderungen kein Tabu sein. Nur weil es schwierig war, den Lissabonner Vertrag zu entwickeln, kann man nicht sagen: Wir werden in den nächsten 30 Jahren keine Vertragsänderungen mehr vornehmen. Ob das notwendig sein wird, ist noch zu diskutieren. Aber wenn wir sagen, dass wir tendenziell mehr Europa, mehr Verbindlichkeiten, auch zum Teil mehr Durchgriffsrechte für Europa wollen, dann müssen wir auch die vertraglichen Voraussetzungen dafür schaffen können. Jedenfalls dürfen wir davor nicht zurückschrecken.

Danke für die Diskussion, Herr Präsident, und danke, dass ich heute hier sein darf.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, es hat aus dem Parlament in den vergangenen Monaten ‑ Sie haben das selber erwähnt ‑ viel Kritik daran gegeben, dass Sie immer wieder auf zwischenstaatliche Regelungen zurückgegriffen haben. Das gilt für die Rettungsschirme. Das gilt aber auch für den Vorschlag der Wirtschaftsregierungen, den Sie und der französische Präsident gemacht haben. Welche Rolle soll bei dieser Wirtschaftsregierung dem Europäischen Parlament zukommen?

BK’in Merkel: Also die Rettungsschirme sind aus der blanken Notwendigkeit der Budgetzuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten intergouvernemental zu schneidern gewesen ‑ mit Ausnahme der 60 Milliarden Euro, die wir aus dem europäischen Topf hatten. Hier haben wir dann schon gemerkt: Wenn es um Rettungsmechanismen oder Stabilisierungsmechanismen im Euroraum geht, dann kann man nicht einfach davon ausgehen, dass Nicht-Euro-Mitgliedstaaten dabei mitmachen. Deshalb ist das notgedrungen und von seiner ganzen Konsistenz her entsprechend der Budgethoheit jedes einzelnen Mitgliedstaates eine intergouvernementale Einigung. Ich glaube, an dieser Tatsache gibt es auch keine Kritik innerhalb des Europäischen Parlaments.

Genauso ist es so, dass die Eurogruppe auf der Ebene der Finanzminister schon seit Bestehen des Euro eine intergouvernementale Gruppe ist, die interessanterweise ja durch diesen WFA-Ausschuss sozusagen Kapazität aus der Kommission auf der Beamtenebene nutzt, aber immer einen Gruppenvorsitz hat, der aus einem der Mitgliedstaaten kommt.

Wenn jetzt eine wirtschaftspolitische oder finanzpolitische Koordinierung auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs unter den Eurostaaten stattfinden soll, dann kann das nicht anders laufen, als das auch auf der Ebene der Finanzminister schon seit zehn Jahren läuft. Das ist kein Affront gegen irgendeine Gemeinschaftsmethode. Und so wie Jean-Claude Juncker als Vorsitzender der Eurogruppe immer das Parlament informiert, wird das natürlich auch bei dem Euro-Plus-Pakt oder bei einer stärkeren Zusammenarbeit der Staats- und Regierungschefs der Fall sein. Wenn wir Herman Van Rompuy als Ratsvorsitzenden gebeten haben ‑ und wir haben extra nicht einen nationalen Regierungschef zu dem Sprecher der Eurogruppe auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gemacht ‑, dann wird Herman Van Rompuy natürlich dem Parlament genauso wie Jean-Claude Juncker zur Verfügung stehen. Und trotzdem: Budgethoheit ist nationale Zuständigkeit. Das kann doch auch dem Europäischen Parlament nicht zuwiderlaufen, und da braucht man keine Sorge zu haben, dass wir jetzt jemanden schwächen wollen. Im Gegenteil: Der Machtzuwachs des Europäischen Parlaments ‑ das hat man doch jetzt bei den Sixpack-Verhandlungen gesehen ‑ ist doch durch den Lissabon-Vertrag so erkennbar, dass wir uns als Rat noch daran gewöhnen müssen, dass wir alles und jedes zum Schluss mit dem Europäischen Parlament abzustimmen haben.

Frage: Ich habe eine Frage zur Rekapitalisierung der Banken. Sie haben vor kurzem darüber gesprochen, auch mit der Kommission. Meine Frage: Wer rekapitalisiert die Banken ‑ Europa mit dem EFSF oder die Mitgliedstaaten, die ja Souveränitätsrechte im Bereich des Haushalts haben?

Zweite Frage, die mit Italien zusammenhängt: Italien wurde von Moody’s abgewertet. Glauben Sie, dass Italien die politische Glaubwürdigkeit hat, die jetzt erforderlich ist, um dieser Krise die Stirn zu bieten?

BK’in Merkel: Italien muss seine Verpflichtungen umsetzen. Das hat Italien ja nach einigen Schwierigkeiten jetzt auch gemacht. Italien ist gestern von einer Agentur heruntergestuft worden. Von einer anderen war das schon vorher der Fall. Ich glaube, Vertrauen und Verlässlichkeit gewinnt jedes europäische Land wieder zurück ‑ man hat das jetzt bei Portugal gesehen ‑, wenn die vereinbarten Maßnahmen auch wirklich umgesetzt werden. Italien hat alle Chancen, dieses Vertrauen der Märkte wiederzugewinnen.

Zweitens, was die Rekapitalisierung der Banken anbelangt: Wir haben ja den EFSF als einen ganz klaren Fonds, der dann eintritt, wenn ein Land aus eigener Kraft eine bestimmte Maßnahme nicht schaffen kann. Wir haben die strenge Verabredung der Konditionalität, d. h. Leistung aus dem EFSF gibt es dann, wenn das Land bestimmte Verbesserungen seiner Gesamtsituation durchführt.

Das heißt, wenn zum Beispiel Deutschland Banken zu rekapitalisieren hat, dann ist unser erster Angang, dass wir das national machen. Also erst einmal müssen es die Banken selber versuchen. Als Zweites, wenn die Banken das aus eigener Kraft nicht schaffen, muss der Nationalstaat die notwendigen Mittel dazu bereitstellen. Und als Drittes, wenn ein Land das aus eigener Kraft nicht kann und die Stabilität des Euro als Ganzes in Gefahr gerät, weil das Land Schwierigkeiten hat, dann können die Möglichkeiten des EFSF genutzt werden. So ist die Philosophie aller Maßnahmen, und alle Möglichkeiten des EFSF sind immer an eine bestimmte Konditionalität gebunden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich möchte das Intergouvernementale wieder ansprechen. Die europäischen Beobachter sehen, dass die intergouvernementale Methode an ihre Grenzen gestoßen ist, dass sie nicht mehr funktioniert. Das Abkommen vom Juli vom Europäischen Rat ist immer noch nicht umgesetzt. Das bedeutet also: Sie treffen Entscheidungen, die letztendlich dann nicht umgesetzt werden, auf die keine Taten folgen. Stellen Sie sich da keine Fragen zu dieser intergouvernementalen Methode?

Die europäischen Beobachter beschäftigt jetzt vor allem, dass es neben der Finanzkrise der Eurozone auch eine politische Entscheidungskrise gibt. Sie als Mitglied des Europäischen Rates sind ja direkt daran beteiligt. Ich würde sogar sagen: Es gibt einfach keine erforderlichen politischen Entscheidungen und deshalb eine Krise.

BK’in Merkel: Das sehe ich naturgegeben natürlich nicht so. Wir haben am 21. Juli Entscheidungen getroffen. Und wenn diese Entscheidungen Mitte Oktober von allen Mitgliedstaaten umgesetzt sind, dann ist das, glaube ich, schon ein wichtiges Signal. Es gibt eine gute Chance, dass alle Länder das bis Mitte Oktober umsetzen werden. Es wird keine andere Methode geben können. Solange die nationalen Budgets in nationaler Hoheit sind, können sie nicht im Europäischen Parlament über nationale Budgets entscheiden. Das heißt, so wie die Verantwortlichkeiten in Europa verteilt sind, so wie die Zuständigkeiten verteilt werden, so müssen auch die Entscheidungen getroffen werden.

 

Ich darf vielleicht daran erinnern: Als wir das erste Griechenland-Hilfsprogramm gemacht haben oder als wir den EFSF gegründet haben, haben fast alle Regierungen innerhalb von ein oder zwei Wochen entschieden. Das heißt, gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Mitgliedstaaten genauso wie das Europäische Parlament und die Kommission immer wieder bewiesen: Wenn es darauf ankommt, dann können wir sehr schnell und auch sehr dezidiert entscheiden. Aber wir können nicht die Zuständigkeiten verändern. Wir haben auch ein paar Wochen gebraucht, um über das Sixpack miteinander zu verhandeln. Aber wir haben bis jetzt immer ein Ergebnis erzielt. Auch da bin ich sehr froh, dass wir das jetzt geschafft haben.

Buzek: Lassen Sie mich zum Schluss noch eines hinzufügen; es ist ja auch eine Frage zum Europäischen Parlament gestellt worden. Ich möchte hinzufügen, dass es für das Europäische Parlament von allergrößter Bedeutung ist, dass die Eurozone und alle Entscheidungen, die in der Eurozone fallen, auch anderen Mitgliedern der Europäischen Union offenstehen. Wir wissen, dass der Euro-Plus-Pakt heute für 23 Mitgliedstaaten gilt, weil sie beschlossen haben, in diesem Rahmen mit den 17 Mitgliedstaaten der Eurozone zusammenzuarbeiten.

Der zweite wichtigste Aspekt besteht darin, dass das Europäische Parlament bereit ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden und seine demokratische Kontrolle in allen Interessensbereichen wahrzunehmen, in denen wir Gemeinschaftsrechtsvorschriften haben. Wir haben ja eine Menge solcher Bereiche im Lissaboner Vertrag. In allen diesen Bereichen sollten wir als Europäisches Parlament demokratische Kontrolle ausüben.

Die dritte wichtige Information, die ich anbringen möchte, ist die Folgende: Manchmal können wir auch ein sogenanntes beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren anbieten. Wir wollen uns darauf vorbereiten, gemeinsam mit Kommission und Rat. Denn manchmal ist dies erforderlich. Wir alle wissen, dass die Entscheidungen, die von den Mitgliedstaaten und von den nationalen Parlamenten gefällt werden, oft auch sehr großen Zeitaufwand benötigen. Ich will nicht behaupten, dass sie zu lange in Anspruch nehmen; aber wir sind bereit, bei konkreten besonderen Rechtsakten das Verfahren zu beschleunigen.