Nachdenken über neue Formen der Bürgerbeteiligung

Interview Nachdenken über neue Formen der Bürgerbeteiligung

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht sich im Interview mit der Magdeburger Volksstimme für bessere Formen der Bürgerbeteiligung an Infrastrukturausgaben aus. "Wir müssen kreativ darüber nachdenken, wie man Bürger rechtzeitig und besser über Großprojekte informieren kann." 

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Magdeburger Volksstimme"
Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21

Proteste auffangen durch frühere Beteiligung

Foto: picture alliance / dpa

Volksstimme: Die Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen stellen eine Klage gegen den Länderfinanzausgleich in Aussicht. Was sagt die Kanzlerin dazu?

Angela Merkel: Der Solidarpakt gilt bis 2019, und niemand stellt ihn in Frage. Auch die drei Länder wollen das nicht. Es geht ihnen vielmehr darum, dass einige Länder ihren Nehmerstatus so nutzen, dass sie sich Dinge leisten, für die die Zahlerländer selbst kein Geld übrig haben.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus hat deshalb deutlich gemacht, dass die Klage vermieden werden könne, wenn mittelfristig darüber verhandelt werde, wie ein zukünftiger Länderfinanzausgleich aussehen könnte.

Volksstimme: Im Zusammenhang mit der Reform des Hartz-IV-Gesetzes wird im Vermittlungsausschuss über Bildungschancen für Kinder und über Mindestlöhne für Leiharbeiter gestritten. Was macht es der von Ihnen geführten Koalition so schwer, der dahintersteckenden Logik zu folgen?

Merkel: Das Thema Bildungschancen für Kinder von Hartz-IV-Empfängern hat diese Bundesregierung durch ihren Vorschlag eines Bildungs- und Teilhabepakets überhaupt erst ins Blickfeld gerückt. Und dass vernünftige Löhne wichtig sind, damit ein Arbeitsverhältnis den Menschen Ansporn sein kann, versteht sich von selbst.

Aber ich bin überzeugt, dass uns ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, wie er von SPD und Grünen gefordert wird, unter dem Strich Arbeitsplätze kosten würde.

Volksstimme: Im Vermittlungsausschuss konzentriert man sich auf die Zeitarbeit.

Merkel: Richtig. Wir reden darüber, weil das für viele Menschen von Bedeutung ist, denn es geht um die Frage der gleichen Bezahlung, genauer gesagt, ab wann den Zeitarbeitern genauso viel gezahlt werden muss wie der Stammbelegschaft eines Unternehmens.

Grundsätzlich gilt ja in der Zeitarbeit der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nur wenn Tarifverträge es anders vorsehen, darf davon abgewichen werden. Genau solche Abweichungsverträge für Zeitarbeiter haben die Tarifpartner vereinbart. Die Stahlbranche hat da die aus meiner Sicht gute Sonderregelung, indem sie die gleiche Bezahlung für Stammbelegschaften und Leiharbeiter festgeschrieben hat.

Volksstimme: Nach den Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 ist viel über Bürgerbeteiligung gesprochen worden, wenn Infrastrukturvorhaben geplant werden. Nun war unlängst zu lesen, dass ein Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium die Beteiligung der Bürger einschränken will. Bitte lösen Sie diesen Widerspruch auf.

Merkel: Wir wollen keineswegs weniger Bürgerbeteiligung, sondern wir überlegen, wie den Belangen der Menschen besser als jetzt entsprochen werden kann. Der Widerspruch ist doch, dass bei Stuttgart 21 in den Planfeststellungsverfahren alle Anhörungen stattgefunden haben und trotzdem viele Bürger Jahre später nicht das Gefühl hatten, ausreichend beteiligt worden zu sein.

Wir müssen also kreativ darüber nachdenken, ob es noch andere Formen gibt, wie man Bürger rechtzeitig und besser über Großprojekte informieren kann und sie bessere Formen der Mitwirkung an solchen Anhörungsprozessen bekommen können. Bei Stuttgart 21 stand die Vermittlung Heiner Geißlers am Ende des Prozesses, womöglich gehört so etwas in Zukunft an den Anfang. Darüber reden jetzt die beteiligten Ministerien. Wir werden beizeiten einen guten Entwurf vorlegen.

Volksstimme: Innerhalb der Ministerrunde gibt es offenbar Zweifel, dass die Reform der Bundeswehr finanzierbar sei. Es heißt, die geforderten acht Milliarden Euro Einsparung werden nicht machbar sein. Sie haben dem Bundesverteidigungsminister oft den Rücken gestärkt. Tun Sie das auch in dieser Frage?

Merkel: Ja, wie ich allen Ministern den Rücken stärke. Und für alle gilt, dass jeder im Rahmen seiner Aufgaben sparen muss. Wir verfolgen konsequent unseren Kurs, wieder zu soliden Finanzen zu kommen. Die Schuldenbremse im Grundgesetz zwingt uns überdies dazu. Der Sparbetrag, den wir uns für den nächsten Haushalt vorgenommen haben, wird also auch erzielt werden. Gleichzeitig ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir das, was für unsere Sicherheit notwendig ist, dennoch aufbringen werden. Wir haben immer gesagt, dass die Bundeswehrreform nicht nach Kassenlage gemacht wird.

Volksstimme: Eine Reihe unerfreulicher Vorgänge in der Bundeswehr hat am Ansehen des Verteidigungsministers gekratzt. Meinen Sie, dass er der richtige Mann für eine Reform ist, auf die heftige Reaktionen zu erwarten sind - etwa wenn Standorte geschlossen werden?

Merkel: Natürlich ist er das, und die ganze Regierung wird ihn darin unterstützen. Wir wissen alle, dass eine so bedeutende Reform wie die Bundeswehrreform, die für die Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert entscheidend ist, lokale oder regionale Folgen haben wird. Deshalb werden alle Entscheidungen sorgsam und umsichtig erfolgen.

Volksstimme: Wie bewerten Sie aus Berliner Sicht die Arbeit der CDU/SPD-Koalition in Sachsen-Anhalt?

Merkel: Die Koalition hat gut gearbeitet. Daran hat jeder Partner seinen Anteil. Dass ich jetzt im Landtagswahlkampf für meine eigene Partei werbe, ist selbstverständlich. Das wird gleichzeitig in einem Klima geschehen, das das Geleistete nicht in Frage stellt. Es gibt nämlich einige Gründe für die CDU-geführte Koalition, stolz darauf zu sein, was sie geschafft hat.

Volksstimme: Was würde eine rot-rote Regierung für Sachsen-Anhalt bedeuten?

Merkel: Sachsen-Anhalt würde zurückfallen. Das Land hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt. Es gewinnt in ganz Deutschland an Ansehen. Sachsen-Anhalt ist zunehmend ein gesuchter Standort, denken Sie nur an die Chemieindustrie oder auch die moderne Landwirtschaftsforschung. Das sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Die jetzige Landesregierung hat für die Arbeitsplätze hier einiges erreicht. Es ist ein gutes Zeichen, dass man jetzt schon wieder gute Aussichten hat, Menschen, die Sachsen-Anhalt verlassen haben, zur Rückkehr zu bewegen.

Interview von: Gerald Semkat, Steffen Honig, Michael Bock und Peter Wendt

Quelle: Magdeburger Volksstimme