Merkel: Wir brauchen mehr Europa

Interview Merkel: Wir brauchen mehr Europa

Vor der Diskussionsrunde mit dem britischen Premierminister Cameron und dem norwegischen Ministerpräsidenten Stoltenberg spricht die Kanzlerin im ARD-Morgenmagazin über die Erfahrungen mit ihrem Bürgerdialog. Auf dem EU-Gipfel will sie sich für mehr gemeinsame Haushaltspolitik einsetzen.

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Bundeskanzlerin Merkel zur Zukunft Europas im ARD-Morgenmagazin, 07.06.2012

Bundeskanzlerin Merkel im Morgenmagazin

Foto: ARD

ARD-Morgenmagazin: Viele Bürger, vor allem viele junge Menschen, können mit der Politik nichts mehr anfangen. In Deutschland hat das unter anderem auch zur Piratenpartei geführt. Nun setzen Sie sich mit zwei Regierungschefs aus Europa und jungen Leuten zusammen. Gibt es irgendein Patentrezept?

Angela Merkel: Ich habe von meiner Seite aus seit über einem Jahr einen Bürgerdialog geführt, weil ich denke, dass die Menschen mitreden wollen. Wir haben drei Zukunftsfragen diskutiert: Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? Wie wollen wir lernen? Wovon wollen wir leben? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich viele beteiligt haben. Es gab 11.000 Vorschläge, viele Bewertungen, viele Zugriffe auf die Seiten, Experten haben mitgemacht. Jetzt wollen wir mit Studenten noch einmal diskutieren: Wie sollen eigentlich die Regierungen, die Politiker mit den Menschen in einen engen Kontakt kommen? Ich stoße auf Aufgeschlossenheit auch in den Townhall-Formaten, die wir gemacht haben. Insofern würde ich sagen: Man muss es einfach tun, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Und dann gibt es für mich jedenfalls viele positive Erfahrungen.

ARD: Sie sagen selber, Sie haben ein relativ starkes Feedback. Was wollen aber diese jungen Leute, was ist ihnen wichtig?

Merkel : Wichtig nach meinen Erfahrungen ist ihnen, dass sie mitbestimmen können. Sie wollen aber auch Verantwortung übernehmen. Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass eine Riesenbereitschaft für ehrenamtliches Engagement ist und dass man sich eine bessere Vernetzung wünscht, dass man gern Anlaufstellen haben möchte "Wo kann ich mich einbringen?", dass man vielleicht auch mehr Anerkennung für das Ehrenamt möchte. Also: Eigenverantwortung, sehr viel soziales Engagement, eigentlich ein Bedürfnis, dass die Gesellschaft nicht zu weit auseinander driftet, sondern dass man sich um die Schwächeren auch kümmert. Insofern (ist da) sehr viel Interesse an einer menschlichen Gesellschaft.

ARD: Kommen wir auf das Phänomen der Piraten zurück. Diesem Phänomen steht die Politik, steht auch Ihre Partei, relativ ratlos gegenüber. Wie wollen Sie das angehen?

Merkel: Wir müssen einfach sehen: Das Internet verändert unser Leben komplett. Die Piraten haben dieses Internet sozusagen als Ausgangsmedium ihrer Parteikommunikation gewählt, während alle anderen das Internet ergänzend zu den klassischen Kommunikationswegen genommen haben. Ich glaube, das allein ist ein großer Reiz, auch die Möglichkeit, zum Teil anonym mitdiskutieren zu können. Jetzt schauen wir einmal, wie sich die Piratenpartei weiterentwickelt. Irgendwann müssen ja die Menschen auch immer wieder sagen: Wofür steht eine Partei? Wofür sind die einzelnen Mitglieder? Aber ich glaube, wir können als schon länger bestehende Parteien - jedenfalls sehe ich das für die CDU so - durchaus auch, gerade was den Umgang mit dem Internet anbelangt, einiges lernen.

ARD: Viele Menschen haben vor allem, wenn es um das Thema "Europa" geht, zwar viele Sorgen, aber wenn es um die Fragen zur Substanz Europas geht, schalten sie eigentlich ab. Wie kann man die denn erreichen?

Merkel: Das glaube ich auch nicht, dass sie einfach abschalten. Ich glaube, dass gemessen an vor zwanzig, dreißig Jahren bestimmte Dinge heute selbstverständlich für die jungen Menschen geworden sind, zum Beispiel die Reisefreizügigkeit. Man sieht, wenn über das Schengen-Abkommen diskutiert wird, dass da viele Menschen sagen: Das ist doch wohl nicht euer Ernst, dass ihr jetzt wieder Grenzen errichten wollt. Man hat sich, wenn man Studenten trifft, völlig daran gewöhnt, in Europa teilweise studieren zu können. Was man an Europa nicht schätzt, das ist manchmal Bürokratie, Regelungen, die man nicht einsieht, die dem normalen Menschenverstand scheinbar ein bisschen widersprechen. Da müssen wir schauen, dass wir Bürokratieabbau in Europa auch voranbringen. Insgesamt gibt es, glaube ich, ein großes Einsehen, dass bei sieben Milliarden Menschen auf der Welt wir Europäer gut daran tun, uns als 500 Millionen Menschen, die Freiheit wollen - Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Freiheit der Religion - da zusammenzuschließen und für unsere Werte zu kämpfen und einzutreten.

ARD: Wenn Sie am Ende dieses Monats erneut zu einem großen EU-Gipfel zusammenkommen, dann will man den großen Wurf schaffen. Es ist von einem Master-Plan die Rede. Frau Bundeskanzlerin, was ist der Kern dieses Master-Plans, wo soll es eigentlich hingehen?

Merkel: Ich glaube nicht, dass es einen einzigen Rat gibt, auf dem der große Wurf entstehen wird. Aber was wir seit geraumer Zeit tun und wo sicherlich im Juni auch noch mal ein Arbeitsplan vorgelegt wird, ist, dass wir sagen, wir brauchen mehr Europa. Wir brauchen nicht nur eine Währungsunion, sondern wir brauchen auch eine so genannte Fiskalunion, also mehr gemeinsame Haushaltspolitik. Wir brauchen vor allen Dingen auch eine politische Union. Das heißt, wir müssen Schritt für Schritt im weiteren Verlauf doch auch Kompetenzen an Europa abgeben, Europa auch Kontrollmöglichkeiten einräumen. Wir haben zum Beispiel jetzt schon etwas, was es bis jetzt so noch nicht gab: Nach dem neuen Stabilitätspakt, dem so genannten Sixpack, darf die Kommission die Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit der Länder beurteilen und zu jedem Land einen Bericht schreiben. Wir müssen uns als Länder dann auch mit den Schwächen, die wir haben, befassen. Ich finde, das ist schon ein Stück mehr Europa. So wird es jetzt fortentwickelt werden. Dann kommt zu einer einheitlichen Währung eben auch mehr gemeinsame Politik.

ARD: Sind Sie denn auch bereit sich zu bewegen? Sie gelten bisher als die "Mrs. No", die immer nur sagt, sparen, sparen, sparen. Sind Sie jetzt auch bereit, mehr Wachstum in Europa zuzulassen?

Merkel: Also, ich war es, die den so genannten Euro-Plus-Pakt eingeführt hat, wo es nur um Wachstumsfragen, Wettbewerbsfähigkeitsfragen geht. Ich glaube, dass Haushaltskonsolidierung und Wachstum zwei Seiten von ein und derselben Medaille sind. Ohne solide Finanzen gibt es kein Wachstum. Aber solide Finanzen allein reichen noch nicht. sondern dazu kommen andere Punkte. Das sind eben vor allen Dingen die Fragen der Wettbewerbsfähigkeit - was nichts anderes heißt, als dass man seine Produkte so produzieren kann, dass man sie überall auf der Welt möglichst gut verkaufen kann. Das ist das, wofür ich eintrete. Ich glaube, das ist auch in Europa unbestritten. Denn nicht umsonst haben 25 EU-Staaten - also weit mehr als die Euro-Mitgliedsstaaten - den Fiskalpakt unterschrieben und das irische Volk ihn auch in einem Referendum bestätigt.

ARD: Sind Sie denn auch bereit, ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zuzulassen? Das heißt, dass andere EU-Staaten, die nicht mitmachen wollen, einfach zurückbleiben?

Merkel: Ja, das haben wir heute schon in verschiedenen Bereichen. Das Schengen zum Beispiel war immer ein Projekt, wo einige vorangegangen sind, andere nachgekommen sind. Wir haben durch den Euro quasi ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wir haben zwei Länder, wie Großbritannien und Dänemark, die von Anfang an gesagt haben, beim Euro machen wir nicht mit. Das wird sich verstärken. Denn wer in einer Währungsunion zusammen ist, wird enger zusammenrücken müssen. Wir müssen offen sein, es immer allen ermöglichen mitzumachen. Aber wir dürfen nicht deshalb stehenbleiben, weil der eine oder andere noch nicht mitgehen will.

Das Interview führte Werner Sonne für das ARD-Morgenmagazin .