Merkel: Die Menschen erwarten nachvollziehbare Entscheidungsprozesse

Merkel: Die Menschen erwarten nachvollziehbare Entscheidungsprozesse

Im Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung nimmt Bundeskanzlerin Angela Merkel unter anderem Stellung zur Energiepolitik und zur Aussetzung der Wehrpflicht. "Ich begrüße außerordentlich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg sich einfach die Freiheit genommen hat, die Sicherheitsarchitektur jetzt noch einmal neu zu denken."

  • Interview mit Angela Merkel
  • Hannoversche Allgemeine Zeitung

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Frau Bundeskanzlerin, zu Beginn dieser Woche hat Ihr einstiger Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier alle überrascht mit der Mitteilung, er werde seiner schwer kranken Frau eine Niere spenden. Was haben Sie empfunden, als Sie das gehört haben?

Bundeskanzlerin Angela Merkel: Ich war natürlich sehr berührt und habe auch versucht, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Ich finde, es ist ein großartiger Schritt, zu dem sich Frank-Walter Steinmeier entschlossen hat. Ich habe ihn dann spontan gleich angerufen. Wir haben ja wirklich gut zusammengearbeitet in der Zeit der Großen Koalition. Und jenseits der politischen Meinungsverschiedenheiten sind wir ja alle auch Menschen. Gesundheit ist eine der Voraussetzungen dafür, dass wir überhaupt das umsetzen können, was wir politisch wollen.

HAZ: Steinmeiers Ehefrau hatte offenbar nur die Alternative, auf eine Warteliste zu kommen, die sehr lang ist.

Merkel: Es hat sich wieder gezeigt, dass die Zahl der Organe, die zur Verfügung stehen für diejenigen, die auf eine solche Spende warten, sehr beschränkt ist. Ich selber habe schon vielfach zu Organspenden aufgerufen. Ich glaube, dieses Beispiel, das uns allen sehr nahegeht, zeigt auch wieder, wie wichtig es ist, dass man sich Gedanken macht und im Zweifelsfall bereit ist, Organe zu spenden.

HAZ: Unter Leitung von Sigmar Gabriel ist die SPD soeben wieder ein Stück weit auf Distanz gegangen zur Rente mit 67, einem gemeinsamen Beschluss aus der Großen Koalition. Wer ist für Sie der herausforderndere Kandidat: Gabriel oder Steinmeier?

Merkel: In dieser Frage ist jedenfalls der Parteivorsitzende derjenige, der den Rückwärtsschritt eingeleitet hat - wider besseres Wissen. Es ist sehr bedauerlich, und das wird auch auf unseren Widerstand treffen, dass die SPD hier versucht, den Menschen ein X für ein U vorzumachen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Wir müssen dafür werben, dass die jungen Menschen nicht etwa unser Land verlassen, sondern weiter solidarisch mit den Älteren sind. Und das heißt, dass die Rente mit 67, die ja im Übrigen erst im Jahr 2029 eine Rente mit 67 ist, jetzt schrittweise eingeführt wird. Wenn wir das jetzt wieder aussetzen, dann wird natürlich auch der Druck im Arbeitsmarkt nachlassen, die Menschen länger arbeiten zu lassen, das Erwerbstätigkeitsalter wirklich bis 65 auszufüllen. Franz Müntefering hat das Richtige dazu gesagt. Es gibt keine Möglichkeit, den demografischen Wandel zu ignorieren.

HAZ: Frau Merkel, was haben eigentlich die Ostdeutschen davon, dass eine Ostdeutsche im Kanzleramt regiert?

Merkel: Das heißt ja nichts anderes, als dass wir ein Land sind, in dem in der Politik gleiche Chancen für die aus den neuen Bundesländern und die aus den alten bestehen. Zweitens war ich schon ein bisschen stolz darauf, dass gerade in den neuen Bundesländern das Wahlergebnis des letzten Jahres sehr stark zum Wahlsieg insgesamt beigetragen hat. Drittens geht es ganz Deutschland eigentlich in der Zeit, in der ich Bundeskanzlerin bin, schrittweise besser. Wenn man sich die Arbeitslosenzahlen anschaut, dann können wir sagen: Als ich Bundeskanzlerin wurde, waren etwa fünf Millionen Menschen arbeitslos. Jetzt sind wir bei knapp über drei Millionen. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern seit Anfang der neunziger Jahre. Das ist nicht allein mein Verdienst. Aber die Politik hat auch ein paar richtige Entscheidungen gefällt.

HAZ: Dennoch sind Sie und Ihre schwarz-gelbe Koalition seit den Wahlen in den Umfragen stark abgestürzt.

Merkel: In den ersten Monaten haben wir die Erwartungen der Menschen nicht erfüllt. Und deshalb sage ich: So, wie es war, kann und darf es nicht bleiben. Ich rede dabei gar nicht über die Ergebnisse unserer Politik. Die waren, glaube ich, gut für die wirtschaftliche Entwicklung. Es geht aber auch um die Prozesse, um die Frage, wie wir zu Entscheidungen kommen. Da war vieles nicht stimmig.

HAZ: Viele sagen, Sie müssten einfach Ihre Richtlinienkompetenz als Kanzlerin klarer machen.

Merkel: Es ist so in der Demokratie, dass ja nicht ich die Gesetze alleine schreibe. Aber es muss natürlich auch erkennbar werden, wo geht die Reise hin. Nehmen wir das Energiekonzept. Ich habe mein ganzes Leben lang noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich für eine längere Laufzeit von Kernkraftwerken bin. Dass ich sie für unabdingbar halte. Und dass ich trotzdem glaube, wir brauchen sie nur so lange, wie wir noch nicht im Zeitalter der erneuerbaren Energien angekommen sind. Ich habe da im Übrigen weniger Schachzüge und Winkelzüge gemacht als andere. Wenn ich jetzt Herrn Clement und Herrn Schily unterschreiben sehe, dass wir unbedingt längere Kernkraftwerkslaufzeiten haben, sage ich: Wir hätten das Problem nicht gehabt, wenn die beiden Herren schon frühzeitig die richtigen Einsichten gehabt hätten...

HAZ: ...dafür hat Michael Fuchs, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef, den Appell gegen die Brennelementesteuer unterzeichnet - auch komisch.

Merkel: Auch Michael Fuchs ist in die grundsätzlichen Fraktionsbeschlüsse natürlich eingebunden, dass wir diese Brennelementesteuer auf der Haushaltsklausur beschlossen haben. Und das ist auch von der Fraktion im Grundsatz so gebilligt worden. Das alles lenkt jetzt aber ab von der Frage: Was erwarten die Menschen? Ich glaube, die Menschen erwarten nachvollziehbare Entscheidungsprozesse, die nicht von Anfang an durch eine Person vorgegeben werden können, aber von der Richtung her von mir natürlich gelenkt und zu einem bestimmten Zeitpunkt, auch zu einem Ergebnis gebracht werden müssen. Das ist bei der Haushaltsklausur gelungen. Wir haben ein Ergebnis. Und wir haben auch deutlich gemacht, das ist nicht irgendein Sparpaket, sondern es geht um die Zukunft Deutschlands. Und jede der Sparmaßnahmen ist auch verbunden mit einer Weichenstellung in der Sache.

HAZ: Eine zentrale Weichenstellung steht jetzt bei der Wehrpflicht bevor: Ihr Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg will die Wehrpflicht aussetzen. Große Teile der Union haben da Bedenken. Hat Guttenberg Ihre Rückendeckung für diesen nach Maßstäben der Union fast revolutionären Plan?

Merkel: Ich begrüße außerordentlich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg sich einfach die Freiheit genommen hat, die Sicherheitsarchitektur jetzt noch einmal neu zu denken: Wie glauben er und das Bundesverteidigungsministerium, dass sie aussehen muss, damit unser Land die äußere Sicherheit auch garantieren kann, dass wir bündnisfähig bleiben und für die Aufgaben der Zukunft gerüstet sind? Ein Verteidigungsminister braucht natürlich die konstruktive Begleitung durch seine Bundeskanzlerin, wie er auch die Begleitung durch den Parteivorsitzenden der eigenen Partei benötigt.

HAZ: Hat er die?

Merkel: Ja, die hat er. Das heißt nicht, dass wie in Stein gemeißelt nun die Präferenz des Verteidigungsministers Wirklichkeit wird, sondern dass man an diesem Vorschlag noch einmal auch Modifikationen vornehmen kann. Und ich möchte mit den Parteien wirklich darüber diskutieren, denn die Menschen müssen ja auch mitgenommen werden. Unsere Mitglieder sind groß geworden in der Zeit der Wehrpflicht. Sie sind, glaube ich, alle bereit, darüber nachzudenken, wie ist die Situation heute. Aber wenn das par ordre du mufti geschieht, ohne dass Argumente ausgetauscht werden, dann ist das schwierig. Ich möchte, anders als das zum Beispiel die SPD bei der Agenda 2010 gemacht hat, unsere Mitglieder mitnehmen auf einen Weg. Und diesen Weg gemeinsam mit dem Verteidigungsminister zu gehen bin ich willens, und das ist jetzt die Aufgabe der nächsten Wochen.

Interview: Dieter Wonka

Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung