Merkel: Beziehungen zu Lateinamerika stärken

Merkel: Beziehungen zu Lateinamerika stärken

Die gemeinsamen Werte machten Lateinamerika und Europa zu natürlichen Verbündeten, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview mit lateinamerikanischen Zeitungen. Für besonders wichtig hält die Kanzlerin, sich auf der internationalen Bühne besser abzustimmen.

  • Interview mit Angela Merkel
  • Grupo de Diarios de América

Grupo de Diarios de América (GDA): Nach jahrzehntelangem schmerzhaften Lernprozesses hat Lateinamerika sich politisch und vor allem wirtschaftlich erfolgreich und stabil entwickelt. Ihre Regierung veranstaltete im November dieses Jahres eine Konferenz über den Wandlungsprozess Lateinamerikas, auf dem Außenminister Westerwelle Lateinamerika als ein "neues Kraftzentrum der Welt" bezeichnete. Mit Blick auf die Weltfinanzkrise der letzten Jahre sagte die Generalsekretärin der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen, 2008 gegründeter Zusammenschluss aller zwölf südamerikanischen Länder), María Emma Mejía, dass Lateinamerika nicht mehr ein Teil des Problems, sondern endlich ein Teil der Lösung sei. Wie bewerten Sie diese Aussagen? Welche Bedeutung hat, Ihrer Meinung nach, dieser Wandlungsprozess Lateinamerikas in den Beziehungen zu Deutschland?

Angela Merkel: Lateinamerika hat in den letzten Jahren nicht nur einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung genommen, sondern auch außenpolitisch Handlungsspielraum und Selbstbewusstsein gewonnen. Das ist eine sehr gute Entwicklung, denn wir sehen jetzt die Chance, gemeinsam die Herausforderungen der Globalisierung besser zu meistern. Lateinamerikas neues außenpolitisches und wirtschaftliches Gewicht bringt jedoch auch mehr Verantwortung mit sich. Lateinamerika muss sich in Zukunft stärker als bisher einbringen, wenn es darum geht, nach Lösungen für die globalen Zukunftsfragen zu suchen. Für Deutschland heißt das, dass wir uns noch mehr mit unseren lateinamerikanischen Partnern abstimmen und gemeinsame Initiativen entwickeln. Das schließt die derzeitige Schuldenkrise mit ein.

GDA: Obwohl sich das Außenhandelsvolumen Deutschlands nach Lateinamerika in den letzten fünf Jahren sehr positiv entwickelt hat, warnen viele Experten aus der Region, dass Deutschland sowie die EU an Einfluss in Lateinamerika verlieren, weil die Region weiterhin unterschätzt wird. Aus Ihrer Sicht, welches sind die Hauptgebiete, in denen die Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika gestärkt werden müssten?

Merkel: Wir wollen auf allen Gebieten engere und stärkere Beziehungen zu Lateinamerika. Besonders wichtig ist es, dass wir uns auf der internationalen Bühne besser abstimmen, besonders im Rahmen der Vereinten Nationen. Lateinamerika und Europa sind natürliche Verbündete, denn wir haben gemeinsame Werte, die wir in der Welt von morgen verankern wollen. Wirtschaftlich arbeiten Deutsche und Lateinamerikaner schon seit über 100 Jahren engstens zusammen. Derzeit zeigt uns die Handelsstatistik, dass die deutsche Wirtschaft sich noch stärker Lateinamerika zuwendet. Das Potenzial unserer Zusammenarbeit ist aber noch lange nicht ausgeschöpft. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung und dem Fall des Eisernen Vorhangs haben unsere Unternehmen natürlich verstärkt auf die osteuropäischen Nachbarländer und die dynamisch wachsenden asiatischen Wirtschaftsräume gesetzt.

Die politische Stabilität und das solide Wirtschaftswachstum haben mittlerweile aber auch Lateinamerika hochattraktiv gemacht. Traditionell sind die Branchen Maschinen- und Automobilbau, Elektrotechnik sowie Chemie und Pharmazie in Lateinamerika stark vertreten. Immer wichtiger werden daneben die Rohstoffversorgung, alle Felder der Energiepolitik, aber auch die Bereiche Infrastruktur, Sicherheit, Medizintechnik und die Erkundung und Förderung der Öl- und Gasvorkommen in der Region. Auch unsere kleinen und mittleren Unternehmen sind auf diesen Gebieten sehr leistungsstark. Deutschland sieht Lateinamerika auch als einen wichtigen Standort für Wissenschaft und Forschung. Die Kooperation zwischen unseren Hochschulen und Forschungszentren wird immer enger und immer interessanter. In Chile wurde das erste Fraunhofer Institut eröffnet, in Argentinien das erste Max-Planck-Institut, und Außenminister Westerwelle wird im Februar das deutsche Wissenschaftshaus in Sao Paulo einweihen. Mich freut es besonders, dass an deutschen Hochschulen immer mehr Stipendiaten aus Lateinamerika zu finden sind; allein Brasilien will in den kommenden Jahren per Regierungsstipendium bis zu 10.000 junge Menschen schicken. 2013/2014 planen wir ein Deutschlandjahr in Brasilien, um uns in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur umfassend als Partner vorzustellen.

GDA: In den letzten Wochen hat die Welt aufmerksam und fast pausenlos nach Brüssel geschaut und dabei beobachtet, wie die Regierenden Europas agierten. In dieser Zeit wurden Sie von den Herausgebern der elf führenden lateinamerikanischen Zeitungen zur "Persönlichkeit des Jahres" gewählt. Sie begründeten ihre Wahl mit Ihrer Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und einen kühlen Kopf auch in sehr kritischen Situationen zu behalten. Was bedeutet es Ihnen, nicht nur in einem Land, sondern auf einem ganzen Kontinent zur Person des Jahres gewählt worden zu sein?

Merkel: Diese Auszeichnung ist für mich eine große Ehre. Wenn wir jetzt Fortschritte machen bei der Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, dann ist das aber nicht auf eine Person zurückzuführen, und auch nicht auf ein Land. Die Stärke der EU liegt darin, dass wir unsere Herausforderungen gemeinsam angehen, und gemeinsam aus der Vergangenheit lernen - und das tun wir jetzt mit großer Konsequenz.

GDA: Wirtschaftsminister Philipp Rösler hat gesagt, wenn das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika nicht zustande kommt, wäre es eine Lösung, bilaterale Abkommen zu schließen, zum Beispiel zwischen der EU und Brasilien. Ist dies eine offizielle Position ihrer Regierung?

Merkel: Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit Subregionen und einzelnen Ländern sind für uns ein besonders wichtiger Teil der Strategischen Partnerschaft der EU mit Lateinamerika. Sie öffnen Märkte, schaffen auf beiden Seiten Arbeitsplätze und Wachstum und unterstützen die lateinamerikanischen Partner bei ihrer nachhaltigen Entwicklung. Mich freut besonders, dass neben den bestehenden Abkommen mit Chile und Mexiko nun auch Abkommen mit Kolumbien, Peru und Zentralamerika zum Abschluss gebracht werden konnten. Die Verhandlungen mit dem Mercosur haben wir nach langem Stillstand 2010 wieder aufgenommen. Deutschland ist sehr daran interessiert, dass es damit nun zügig vorangeht. Wir wollen ein ehrgeiziges Abkommen, mit dem wir bestehende Handelshemmnisse umfassend abbauen.

Die Bundeskanzlerin gab das Interview der GDA-Gruppe, einem Zusammenschluss aus elf Tageszeitungen Lateinamerikas: La Nación (Argentinien), O Globo (Brasilien), El Mercurio (Chile), El Tiempo (Kolumbien), La Nación (Costa Rica), El Comercio (Ecuador), el Universal (Mexico), El Comercio (Peru), El Nuevo Día (Puerto Rico), El País (Uruguay) und El Nacional (Venezuela).