Integration bedeutet Rechte und Pflichten

Zuwanderung Integration bedeutet Rechte und Pflichten

Der Staat habe viele Angebote zur Integration gemacht, sagt Bundeskanzlerin Angele Merkel im Interview mit der Bild am Sonntag. Gleichzeitig verdeutlicht sie: "Wir können von denjenigen, die hierher kommen, erwarten, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren, dass sie unsere Sprache lernen." Missstände müssten offen diskutiert werden. "Verschweigen verstärkt nur Vorurteile."

  • Interview mit Angela Merkel
  • Bild am Sonntag

BILD am SONNTAG: Frau Bundeskanzlerin, der Vorstand der Bundesbank hat die Entlassung seines Mitglieds Thilo Sarrazin beantragt. Finden Sie das richtig?

Angela Merkel: Ich habe das mit Respekt zur Kenntnis genommen. Mir ist es wichtig, dass bei der Bundesbank Ruhe einkehrt, damit sie sich ganz ihren wichtigen Aufgaben widmen kann. Wir sollten auch gar nicht so viel über Herrn Sarrazin sprechen, sondern über das große Thema Integration. Zur Lösung der Probleme trägt er gar nichts bei, er erschwert sie im Gegenteil. Er fällt Pauschalurteile, spaltet die Gesellschaft und macht eine ganze Bevölkerungsgruppe verächtlich.

Hat die Diskussion dem Ansehen und der Unabhängigkeit der Bundesbank geschadet?

Die Vorstände der Bundesbank haben diese Entscheidung einmütig und wie stets in vollständiger Unabhängigkeit getroffen. Bei dieser Unabhängigkeit, auf der das weltweite Ansehen unserer Zentralbank beruht, bleibt es auch in Zukunft.

Unsere Leserin Renate Schuhmacher aus Frankfurt schreibt: „Die Politik geht so vehement auf Sarrazin los, weil man sich die verfehlte Migrationspolitik nicht eingestehen und das Gesicht nicht verlieren will.“ Ist das so falsch?

Ja, weil das wirklich nicht der Punkt ist. Vielmehr ist die Integration eine der ganz großen Aufgaben der Politik. Ich kenne die Probleme bei der Integration. Im November wird im Übrigen der nächste Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt stattfinden, auf dem wir über Fortschritte bei der Integration genauso sprechen wie über Probleme.

Von 1962 bis 1974 kamen 8,8 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik. 5,2 Millionen – vor allem Italiener, Spanier und Griechen – sind wieder gegangen. 3,3 Millionen – hauptsächlich Türken – sind geblieben. Viele von ihnen sind weitgehend ohne Bildung. Haben sie das Bildungsniveau in Deutschland abgesenkt, uns also dümmer gemacht?

Mit dümmer machen, wie Sie es nennen, hat das nichts zu tun, sondern mit verpassten Chancen. Denn es stimmt leider, dass Kinder aus Migrantenfamilien bis heute im Schnitt schlechtere Schulergebnisse haben. Sie haben häufiger keinen Schulabschluss, sie gehen seltener aufs Gymnasium. In den letzten Jahren hat sich durch unsere Maßnahmen zwar vieles verbessert, aber wir können natürlich mit diesem Zustand noch nicht zufrieden sein.

Unbestreitbar sind in Deutschland Parallelgesellschaften entstanden. Lassen Sie uns die Probleme beim Namen nennen: Ein hoher Anteil muslimischer Migranten verweigert auch in zweiter, dritter Generation das Erlernen der deutschen Sprache. Warum verlangen wir nicht, wie z. B. in Israel, von Einwanderern nachdrücklich und mit Sanktionen belegt, Deutsch zu lernen?

Genau das tun wir doch mittlerweile. Besonders die unionsgeführten Bundesländer haben hier schon eine Reihe von Gegenmaßnahmen eingeführt, zum Beispiel verpflichtende Sprachtests vor Schulbeginn und Sprachkurse für die, die zu uns kommen. So müssen junge Frauen in der Türkei, die zu ihrem Ehemann in Deutschland nachziehen wollen, vorher Grund-Sprachkenntnisse erwerben. Das haben wir gegen manchen Widerstand durchgesetzt. Trotz allem: Das Sprachniveau ist oft noch zu niedrig.

Laut dem Innen-Experten der Union, Bosbach, brechen 20 Prozent der Ausländer die verpflichtenden Sprach- und Integrationskurse ab oder treten sie gar nicht erst an – folgenlos! Kann das so bleiben?

Verpflichtung heißt Verpflichtung und muss eingehalten werden. Unsere Ämter sollten das noch stärker überprüfen. Es gibt Sanktionen und die müssen greifen. Wir arbeiten daran, mit allen Neuzuwanderern Integrationsvereinbarungen zu schließen.

Eine Frage an die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel: Wird Intelligenz überwiegend vererbt oder erworben?

Von solchen Vererbungstheorien halte ich nichts, schon gar nicht, wenn einer damit ganze Volksgruppen irgendwie einstufen will. Jedes Kind – ob deutsch oder türkisch – hat seine Chance verdient. Auch wenn ich mich wiederhole – der Schlüssel, in der Schule erfolgreich zu sein und einen Beruf zu lernen, ist, die deutsche Sprache zu beherrschen.

Michael Rehmer aus Bremen schreibt: „Dass es eine besonders hohe Kriminalitätsrate unter türkischen und arabischen Jugendlichen gibt, ist eine Tatsache.“ Dazu sagt das Kriminologische Institut Niedersachsen: 23,5 Prozent der sehr religiösen muslimischen Jugendlichen neigen zur Gewalt. Beunruhigt Sie das?

Das ist ein großes Problem, und wir können offen darüber sprechen, ohne dass der Verdacht der Fremdenfeindlichkeit aufkommt. Aber ich warne davor, Gewalt mit einer bestimmten Religion zu verbinden. Das führt in die Irre. Gewalt bei jungen Menschen ist oft ein Zeichen dafür, dass sie keine Perspektive für sich sehen. Und da hilft nur Bildung, Bildung, Bildung. Unser Staat macht da viele Angebote, aber die Hauptverantwortung liegt bei den Eltern, die ihnen Schule und Gesellschaft nicht abnehmen können.

Was machen wir mit den Einwanderern, die all die schönen Angebote nicht wahrnehmen, sich der Integration stur verweigern, aber alle Leistungen des deutschen Staats in Anspruch nehmen?

Strenge ist wichtig. Und dazu gehört, dass wir die Probleme beim Namen nennen, das bedeutet: Integration heißt Rechte und Pflichten. Sie ist ein Geben und Nehmen.

In Duisburg-Marxloh sind 35 Prozent der Bevölkerung nicht deutsch. Wenn dort die Polizei einen Raser oder Kleinkriminellen fassen will, wird sie bedroht, bis sie sich zurückzieht. Und das ist kein Einzelfall.

Es darf in Deutschland keinen Ort und keine Viertel geben, wo unsere Polizei das Recht nicht durchsetzen kann. Es würde sicher helfen, wenn wir in Polizei, Jugendämtern und anderen Behörden mehr Migranten hätten. Überhaupt sind Vorbilder wichtig: Migranten, die es mit Fleiß und Talent geschafft haben, können für Kinder Ansporn sein. Nehmen Sie berühmte Beispiele wie Mesut Özil oder auch die niedersächsische CDU-Sozialministerin Aygül Özkan.

Der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung beträgt knapp 19 Prozent. Sie stellen aber 28 Prozent der Hartz-IV-Empfänger. Die größte Gruppe sind Spätaussiedler, gefolgt von Türken. Zeigt das nicht, dass die Größe des Problems uns schlicht überfordert?

Nein, aber es zeigt, dass wir es ernst nehmen müssen. Wir können es packen, aber es ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft, und die lösen wir nicht gegeneinander, sondern nur miteinander.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass Deutschland aufgrund der üppigen Zahlungen aus dem Sozialsystem in einer Art Negativauslese die falschen Einwanderer anzieht, die Leistungsbereiten aber in die USA gehen, wo der Staat keinen Dollar für sie ausgibt?

In den 60er- und 70er-Jahren hat unser Land die Gastarbeiter geholt, die zum Aufbau des Wohlstands sehr beigetragen haben. Man kann also wahrlich nicht sagen, dass wir Einwanderung ohne starke Eigeninteressen zugelassen hätten. Dennoch haben viele danach – gerade auch zu rot-grünen Zeiten – einen sogenannten Multi-Kulti-Traum geträumt und Zuwanderer zu wenig in die Pflicht genommen. Meine Regierung hat das geändert, weil sie dazu eine realitätsnahe Haltung einnimmt.

Angesichts des dramatischen Fachkräftemangels fordern viele, unter anderem Ihr Wirtschaftsminister: Deutschland braucht den verstärkten Zuzug von Facharbeitern.

Wir haben den Zugang für qualifizierte Arbeitskräfte wie Ingenieure in den vergangenen Jahren schon erleichtert. Aber erst einmal müssen wir auch unsere Probleme zu Hause lösen. So dürfen wir nicht übersehen, dass in Deutschland bereits viele Ausländer leben, die Stellen für Fachkräfte besetzen könnten, deren Berufsabschlüsse wir aber nicht anerkennen. Das muss sich ändern. Wir können es uns nicht leisten, dass ein Arzt oder Ingenieur aus dem Ausland hier keine seiner Qualifikation angemessene Stelle findet. Und nicht zuletzt haben wir 2,2 Millionen Hartz-IV-Empfänger, die arbeitsfähig sind, aber keinen Job finden. Ich sehe nicht ein, dass Pflegekräfte künftig nur noch aus Osteuropa kommen. Daran können wir etwas ändern.

Braucht Deutschland in Zukunft ein Ministerium für Integration und Zuwanderung?

Die Integration ist eine der zentralen Aufgaben unserer Gesellschaft, die ich in der Bundesregierung durch die Integrationsbeauftragte gestärkt habe. Das Thema betrifft Städte, Gemeinden und den Bund. Den Menschen ist es letztlich egal, welche Instanz sich der Probleme annimmt, Hauptsache, sie werden gelöst. Unsere Integrationsbeauftragte Maria Böhmer macht gute Arbeit.

Müssen wir von den Einwanderern mehr Anpassung verlangen?

Wir können von denjenigen, die hierher kommen, erwarten, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren, dass sie unsere Sprache lernen. Dass Männer ihren Frauen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, dass Mädchen an Klassenfahrten und am Sportunterricht teilnehmen dürfen. Gewalt an den Schulen und andere Missstände müssen offen diskutiert werden. Verschweigen verstärkt nur Vorurteile.

Die SPD, die Thilo Sarrazin ausschließen will, wird von Protesten überschwemmt. Und in Umfragen sympathisieren mehr Unionsanhänger als SPD-Anhänger mit ihm. Würde Sarrazin auch aus der CDU ausgeschlossen?

Herr Sarrazin ist nicht in der CDU, wofür es gute Gründe gibt. Schon deshalb stellt sich die Frage nicht.

Unser Leser Herr Rehmer rät Sarrazin, aus der SPD auszutreten und eine eigene Partei rechts von der Union zu gründen. Damit steht er sicher nicht allein. Wie groß ist diese Gefahr aus Sicht der CDU-Vorsitzenden?

Die Union stellt sich den Problemen des Landes, gerade auch denen der Integration, und geht sie an. Doch wir können nicht in drei, vier Jahren die Versäumnisse der vergangenen 30 Jahre ausgleichen. Das dauert länger als eine Legislaturperiode. Meine Regierung hat das seit Ende 2005 konsequent angepackt.

Das Gespräch führten: Walter Mayer, Michael Backhaus und Martin S. Lambeck