Bürgerdialog und Bürgerbeteiligung

Steffen Wenzel (politik-digital): Herzlich willkommen, liebe Zuschauerinnen, herzlich willkommen, liebe Zuschauer, hier live aus dem Bundeskanzleramt. Herzlich willkommen, Frau Bundeskanzlerin!

Angela Merkel: Ja, guten Abend und auch herzlich willkommen an die Zuschauer.

Steffen Wenzel (politik-digital): Frau Bundeskanzlerin, seit dem 1. Februar ist das Portal „Dialog über Deutschland“ online. Die Bürgerinnen und Bürger haben da jetzt die Möglichkeit, eigene Ideen für die Zukunft Deutschlands einzubringen, sie zu diskutieren und sie auch zu bewerten. Warum gehen Sie diesen Weg, und welche Impulse erwarten Sie aus diesen Diskussionsbeiträgen für ihre Arbeit?

Angela Merkel: Erst mal wollten wir die Diskussion sowieso darauf lenken: Wie stellen sich die Menschen in Deutschland ihre eigene Zukunft vor? Wie wollen sie Deutschland haben – in fünf oder zehn Jahren, also ein bisschen über das aktuelle Tagesgeschehen hinaus gedacht? Und dazu haben wir Experten befragt, dazu werde ich auch in drei Städte reisen und dort in Treffen mit jeweils 100 Bürgern Stellung nehmen. Aber wir haben gedacht, wir wollen auch die neuen Möglichkeiten, nämlich übers Internet online mit dabei zu sein, nutzen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, auf die Fragen zu antworten: Wie wollen wir zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Und wie wollen wir lernen? Und was die ersten Tage gezeigt haben, ist eigentlich schon eine sehr, sehr gute Resonanz.

Steffen Wenzel (politik-digital): Ja, auf jeden Fall haben Sie eine große Resonanz. Die Fragen sind doch relativ große Fragen, die Sie dort stellen, und auch sehr heterogene Fragen. Manchmal vermisst man so ein bisschen die Klammer, was das alles zusammenhält. Wie wollen Sie das am Ende wieder zusammenführen, dass Sie sagen: Hier habe ich jetzt einen Impuls dafür bekommen, der mich auch als Bundeskanzlerin weiterbringt.

Angela Merkel: Also, ich finde die Fragen nicht heterogen. Ich glaube, dass die Menschen schon wissen wollen, wie soll das eigentlich sein, wenn wir im Durchschnitt älter werden, wenn wir weniger werden, wenn wir vielfältiger werden als Bevölkerung. Wie wollen wir da eigentlich zusammenleben? Wie ist das, wenn die Familienstrukturen nicht mehr so sind, wie wir sie heute kennen, Eltern und Kinder vielleicht mehr getrennt leben, viele ältere Menschen alleine sind? Das, glaube ich, ist eine spannende Frage. Dann die Frage: Wovon wollen wir unseren Wohlstand erhalten? Und dann ist das große Thema: Wir müssen dauernd lernen, wie man ja auch am Internet sieht: jeden Tage eine Neuerung. Insofern, glaube ich, haben wir schon zentrale Fragen aufgeworfen. Und die Klammer wird natürlich nachher sein, dass die Nutzer ja auch die Fragen bewerten können, dass wir daraus dann auch ein Gefühl bekommen, welche Fragen sind wichtig. Wir werden die über 120 Experten dann auch fragen: Welche Anregungen finden Sie gut? Und dann suchen wir uns zu Schluss ja auch die Vorschläge aus, die wir umsetzen können. Das ist ja jetzt nicht eine philosophische Diskussion, die wir hier machen, sondern wir wollen ja, dass wir zum Schluss sagen können: Durch die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, der Experten, schicken wir uns jetzt an, durch Handeln auch das und das umzusetzen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Sie sprachen jetzt gerade die Experten an. Hätte man diesen Expertendialog jetzt nicht auch schon in diese Phase mit einbeziehen können, damit man diese Nutzer, die jetzt darüber diskutieren, quasi jetzt auch schon anhand der Expertenmeinungen ein Bild bekommen, wie die Experten darüber denken, so dass man das jetzt schon zusammengeführt hätte?

Angela Merkel: Ja, das ist so eine Frage. Dann hätte man vielleicht gesagt: Ihr gebt uns ja schon wieder so viel vor, und ihr schränkt unsere Phantasie ein. Also, wir haben gesagt: Lassen wir doch mal die Menschen zu diesen drei Fragen ihre Ideen sagen. Ich will nicht ausschließen – jetzt sind wir ja gerade mal noch nicht mal zehn Tage unterwegs, das Ganze geht ja noch bis Ostern –, dass wir vielleicht so zur Mitte des Prozesses auch mal einige Anregungen von Experten einstellen und mal fragen: Was meint ihr dazu? Das will ich nicht ausschließen. Aber erst mal sollte jetzt – ohne schon Schere im Kopf: Was hat der Experte gesagt? – der Bürger seine Meinung sagen können.

Steffen Wenzel (politik-digital): Das tut er auch, und das hat er auch bei uns getan. Wir haben ja nicht nur ein Live-Interview, sondern wir haben vorher auch versucht, die Nutzer in dieses Gespräch mit einzubinden, indem wir ihnen die Möglichkeit gegeben haben, Fragen zu stellen. Die drei höchstbewerteten Fragen, die möchte ich Ihnen jetzt mal stellen – die quasi von den Nutzern kommen.

Die erste Frage kommt von Sebastian Liebram: Inwieweit ist unsere Gesellschaft, insbesondere im Hinblick auf die Verfügbarkeit von IT-Ressourcen und die Internetkompetenzen älterer Mitbürger für den Umstieg von der klassischen Bürgerbeteiligung hin zur neuartigen Online-Beteiligung bereit?

Eine etwas lange und komplizierte Frage, aber...

Angela Merkel: ... gut formuliert.

Steffen Wenzel (politik-digital): Gut formuliert, genau.

Angela Merkel: Also, ich glaube, dass die Bereitschaft jeden Tag wächst, auch die Bekanntschaft, dass die Technik ja einfacher zu handhaben wird, damit auch die Barrieren – kann ich das, und wie viele Fehlversuche unternehme ich erst, bevor ich mal erfolgreich bin –, diese Barrieren werden immer geringer. Und ich glaube, die Bereitschaft ist da. Was wir beachten müssen ist: Wir müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass jeder auch Zugang zu den technischen Voraussetzungen hat. Wir wollen bis 2014 dann soweit sein, dass jeder auch Zugang zum Breitband-Internet hat, aber wenn man mal überlegt, wie schnell sich die bewegten Bilder durchsetzen, dann muss man aufpassen, dass gerade im ländlichen Raum nicht Hundertausende von Haushalten abgeschnitten sind. Und damit müssen wir uns auch beschäftigen: Was sind die Rahmenbedingungen, wie können wir private Investoren dafür gewinnen? Ich glaube, dass – auch wenn man sich mal die Altersstruktur der Internetnutzer anschaut – auch die Älteren sehr neugierig sind. Aber wir werden natürlich niemanden zwingen können. Ich kann nicht sagen: Du kannst deine demokratischen Rechte nur wahrnehmen, wenn du es übers Internet tust. Das heißt: Wir wollen offen sein, aber wir werden auch immer andere Wege noch ermöglichen müssen, weil wir ja auch Fairness und Gleichheit in der Gesellschaft bezüglich der Wahrnehmung demokratischer Rechte brauchen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Ich glaube auch, es muss ja keine Entweder-Oder–Entscheidung sein, sondern es geht darum, dass man beide Formen von Bürgerbeteiligung weiterhin fördern will und nicht nur jetzt alles komplett auf Online setzen möchte.

Angela Merkel: Genau, aber wir haben durch Online natürlich ganz andere Interaktionsmöglichkeiten. Wir können schneller antworten, wir haben mehr Menschen, die sich daran beteiligen, und diese Möglichkeiten sollte die Politik auch weitestgehend nutzen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Die zweite Frage oder die Frage, die den Platz 2 erreicht hatte, war von Westegrubi: Frau Bundeskanzlerin, halten Sie die Abstimmungsergebnisse des Online-Zukunftsdialogs für glaubwürdig?

Angela Merkel: Sie sind natürlich in sich erst mal glaubwürdig. Wir haben wenige Attacken – nur einen einzigen Manipulationsversuch – bis jetzt gehabt. Ansonsten geht das sehr fair und gesittet zu in unserem Internetdialog. Natürlich wissen wir, dass nur ein Teil der Bevölkerung daran teilnimmt; manchmal sind es auch Gruppen, die sich einem Ziel verschrieben haben und die dann gemeinsam ein bisschen Druck machen. Aber insgesamt, glaube ich, werden Fragen aufgeworfen, die schon auch die breite Öffentlichkeit interessieren und die mir auch sonst begegnen. Ich kann ja sehen: Wenn das jetzt alles Fragen wären, die ich sonst noch nie gehört habe, dann müsste ich fragen: Ist das glaubwürdig? Aber ich glaube schon, dass da Fragen vorkommen und dass es insgesamt glaubwürdig ist. Und je mehr mitmachen, umso besser.

Steffen Wenzel (politik-digital): Wie stehen Sie denn zu solchen Beiträgen, die jetzt natürlich auch ganz klare Lobbyverbände auf bestimmten Ebenen sind. Also ich denke mal an die Cannabisgeschichte, die jetzt ja auch in Ihrem anderen Dialog bei YouTube ja schon aufgetaucht ist, das heißt, die sind jetzt auch wieder da. Wie gehen Sie damit um?

Angela Merkel: Na ja, man merkt, es ist eine gut organisierte Community und die versucht, ihr Ziel deutlich zu machen. Aber das verschiebt mir jetzt nicht Blick dafür, dass es nicht das einzige Problem ist, was Deutschland umtreibt. Aber ich habe da auch Respekt davor, wenn eine Gruppe sich für ein Ziel – auch wenn ich es nicht teile – einsetzt und immer wieder geschlossen auftritt. Und ich hoffe nur, dass eben möglichst viele, die gemeinsame Ziele haben, jetzt auch zueinanderfinden.

Steffen Wenzel (politik-digital): Gast fragt – und das ist der Platz 3 gewesen in unsere Abstimmung –:

Was kostet dieser Online-Dialog eigentlich? Ist das keine unzulässige Unterstützung der die Regierung stellenden Parteien?

Angela Merkel: Nein, das glaube ich nicht. Das ist Regierungsarbeit. Wir haben schon in der vergangenen Legislaturperiode einmal einen Zukunftskongress gemacht – haben uns überlegt, wir müssen mehr Menschen mit einbinden, wenn wir über die Zukunft des Landes diskutieren. Das kostet mehrere Hunderttausend Euro. Das mag sich erst mal viel anhören, [ich] will allerdings sagen: Wenn wir zum Beispiel Zeitungsannoncen schalten – wir hatten das jetzt gerade im Blick auf die Integration –, da ist man sehr schnell bei einer Million. Also, ich glaube, wenn man guckt, wie viel Chancen wir damit geben und wie viele Menschen wir damit auch erreichen können, wie viel Zugriffe wir schon hatten, dass wir jetzt schon über 4.000 Vorschläge haben, dann ist das Geld gut eingesetzt, wenn ich es mit anderen Maßnahmen, die wir auch machen, vergleiche. Jeder hat Zugang und es ist eben Teil unserer Regierungsarbeit, und ich glaube, das ist o.k.

Steffen Wenzel (politik-digital): Kritiker schrieben ja, dass es quasi der Auftakt des Wahlkampfes jetzt schon für 2013 sein könnte, insbesondere um Bürgernähe zu simulieren. Wie gehen Sie denn mit solcher Kritik um?

Angela Merkel: Schauen Sie: Was kann man tun? Sitzt man im Haus und rührt sich nicht und geht nicht raus oder erscheint nicht im Internet, heißt es: Was machen die da? Closed Shop und sind nur abgeschlossen mit ihren Zirkeln. Versucht man, sich an alle zu wenden, kann man wieder sagen: Was soll das, wen wollen sie erreichen? Ich finde – das ist ja sowieso manchmal so –, man sollte erst mal das Gute sehen. Jede Partei hat ihre Internetplattform, da kann jeder seine Parteipolitik betreiben. Ich habe einen Amtseid geschworen dafür, dass ich das Gute und das Beste möglichst für Deutschland tue. Und da, glaube ich, kann ich die Menschen schon mal fragen: Wie stellt Ihr Euch das Land in fünf oder zehn Jahren vor? Und insofern finde ich, dass viele da wieder so ängstlich und auch ein bisschen kleinteilig sind.

Steffen Wenzel (politik-digital): Es heißt ja auch, wenn man jetzt über Online-Bürgerbeteiligung und Online-Bürgerbeteiligungsverfahren redet, auch immer wieder, dass das eventuell ein erster Schritt zu mehr direkter Demokratie sein könnte. Wie stehen Sie denn dazu?

Angela Merkel: Na ja, es ist ein Zugang, sich sozusagen kenntlich zu machen und auch gehört zu werden. Demokratie – wenn sie dann zur Entscheidung kommt – ist allerdings ja immer noch darauf angewiesen, dass wir repräsentative Resultate haben. Das heißt, wir müssen dann allen die Chance geben, bei etwas mitzumachen. Und insofern glaube ich: Es ist mehr direkte Kommunikation zwischen Politik und Bürger, aber noch nicht eine völlig neue Form der Entscheidungsfindung. Das muss man, glaube ich, beides unterscheiden. Und selbst wenn jetzt hier Hunderttausende mitmachen, bleibt es immer noch so, dass Deutschland 80 Millionen Einwohner hat, und das darf man nicht vergessen. Und deshalb hat man ja manchmal auch Reaktionen, da denkt man: Das ist ja ganz eindeutig. Und wenn man dann nachher eine Gesamtbefragung macht, ist das Ergebnis eben doch anders. Aber ich finde es einfach gut, dass Menschen ohne große Barrieren – Brief schreiben, in den Kasten werfen – einfach mal ihre Ideen mit eingeben können und vor allen Dingen sich auch vernetzen können, andere Gedanken bewerten können und damit ja viel mehr auch voneinander lernen, einander Anregungen-Geben entsteht.

Steffen Wenzel (politik-digital): Aber da sind wir natürlich auch wieder bei den Konsequenzen. Also, das heißt, das, was Sie dort rein geben – würden Ihnen jetzt die Anhänger der direkten Demokratie sagen – muss ja auch eine Konsequenz auf die Entscheidung dann der Politiker oder der Entscheidungsträger haben. Wie weit würden Sie denn da gehen? Dass Sie sagen: Also, wie nehme ich das in meine Arbeit mit auf, wie wird es mich in meiner Arbeit beeinflussen?

Angela Merkel: Erstens nehmen wir jeden Vorschlag auf, und jeder kriegt auch eine Reaktion. Zweitens lassen wir die Experten noch einmal die Vorschläge auch bewerten und wir lassen die anderen Beteiligten im Internet ja auch die Vorschläge bewerten. Und die bestbewerteten Vorschlagenden werden dann zu mir ins Kanzleramt eingeladen. Da werden wir noch einmal diskutieren, was sind ihre Vorschläge. Und wir werden dann nachher versuchen, aus den Vorschlägen, die ja zum Teil auch zu ähnlichen Themen sind, ganz konkrete Projekte zu formulieren, die wir dann auch umsetzen wollen. Und ich hoffe – wir sind ja auch im Experimentierstadium, wir haben ja so etwas noch nicht gemacht –, dass da ein paar Dinge rauskommen, die wir vielleicht nicht gemacht hätten, wenn wir diesen Dialog nicht gehabt hätten. Und ich bin da auch durchaus bereit – und werde auch andere Mitglieder der Regierung versuchen zu überzeugen –, vielleicht etwas zu tun, was wir bislang noch nicht wollten.

Steffen Wenzel (politik-digital): Ist es dann nicht schade, dass es auch viele Beiträge gibt, die vielleicht sehr konstruktiv sind, aber leider nicht die genügende Mehrheit bekommen, um dann von Ihnen ins Kanzleramt eingeladen zu werden – Menschen, die tolle Ideen haben, aber die es einfach nicht schaffen, genügend Stimmen dafür zu bekommen.

Angela Merkel: Deshalb machen wir ja zwei Dinge. Wir lassen diejenigen kommen, die die besten Bewertungen hatten, und wir fragen die Experten und zeigen denen die Vorschläge, dass die noch einmal gucken, was sie besonders toll finden. Und dann haben wir zum Schluss eine Gruppe von 20 – zehn durch die Experten rausgenommen. Und wenn mir etwas ganz Tolles auffällt, oder jemandem sonst, dann geben wir vielleicht auch noch eine Chance, aber wir müssen ja gerecht sein, also einerseits wollen die Mitmacher ja auch nicht, dass dann zum Schluss der Herzenswunsch von Frau Merkel genommen wird, obwohl er vielleicht nur eine Stimme hat. Und andererseits kann es passieren, dass der Meistbewertete noch nicht der Beste ist. Deshalb machen wir den doppelten Ansatz, um mal zu schauen, dass wir möglichst gerecht sind.

Steffen Wenzel (politik-digital): Jetzt sind Sie ja in Ihrer täglichen Arbeit mit ganz anderen Problemen auch beschäftigt, die quasi den politischen Alltag prägen. Ob es jetzt die Euro-Krise ist, oder ob es Syrien ist. Also es sind ja doch Themen, die – na, ich sag mal – doch eine ganz andere Bedeutung noch mal haben, als jetzt die Zukunft Deutschlands auf der Ebene.

Angela Merkel: Na, da widersprech’ ich. Ich glaube, dass der Bürgerdialog und die ganze Diskussion, die wir jetzt führen, die mal auf fünf, zehn Jahre ausgerichtet ist, auch mich in meiner täglichen Arbeit zwingt, zu überlegen: Was du jetzt gerade machst für den Euro in Griechenland oder für die Zukunft des Rentensystems oder für den Haushalt 2013 – wie ordnet sich das ein in die großen Fragen. Und vieles davon machen wir doch, weil wir glauben, in Europa können wir besser zusammenleben. Und wenn wir fragen „Wovon wollen wir leben?“, dann machen wir Entscheidungen im Forschungsbereich oder bei der Bildung. Das heißt also, ich glaube, auch mir und den Regierungsmitgliedern tut ein solcher Dialog über eine längere Strecke gut, um das, was wir täglich tun, auch ordentlich einzuordnen und vielleicht auch besser erklären zu können – im Blick darauf, was es für die lange Frist für die Menschen bedeutet.

Steffen Wenzel (politik-digital): Würden Sie denn so weit gehen – und darauf wollte ich eigentlich eben hinaus – dass Online-Bürgerbeteiligungsverfahren auch eine Hilfe sein können diese anderen Probleme? Dass Sie die Bürger noch stärker in solche Problematiken mit einbeziehen, sie informieren und deren Meinung dort auch abfragen?

Angela Merkel: Ja, das kann man sicherlich machen, und wir haben ja auch sehr, sehr viele Kontakte auch über die Reaktionen der Bürger. Wir werden mal im Anschluss an diesen Bürgerdialog überlegen, was man daraus lernen kann und ob vielleicht auch – sagen wir mal – thematisch enger gefasste Themen mal solch einer Diskussion ausgesetzt werden. Ich glaube, dass wir auch bei der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern – zum Beispiel an großen Infrastrukturprojekten – ja zu neuen Möglichkeiten kommen werden und dass da das Internet auch eine riesen Rolle spielen wird. Und da geht das zum Beispiel natürlich noch sehr viel besser, wenn Sie zum Beispiel – nehmen wir mal jetzt den Stuttgarter Bahnhof oder neue Autobahnstrecken –, dann ist das ja eine Bevölkerungsgruppe, die direkt beeinflusst ist und von der man natürlich dann sehr gut auch ein Bild bekommen kann über solche Bürgerdialoge. Also ich glaube, das wird auf den verschiedenen Ebenen – von der Kommune übers Land bis hin zum Bund – zunehmend eine Rolle spielen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Na, das glaube ich auf jeden Fall auch, insbesondere Stichwort Energiewende. Das heißt, es wird ja auch für große Veränderungen in diesem Land sorgen. Also Windparke müssen entstehen. Es müssen…

Angela Merkel: … Netz müssen gebaut werden…

Steffen Wenzel (politik-digital): Netze müssen gebaut werden, und das hat natürlich – gerade auf kommunaler Ebene – extreme Auswirkungen. Viele Menschen sind für die Energiewende, viele wollen aber nicht quasi den Strommast vor der Haustür haben. Ist da Bürgerbeteiligung notwendig – Onlinebürgerbeteiligung auch? Ich möchte das nicht immer unterscheiden nur in online und offline.

Angela Merkel: Ja, natürlich sind dort neue Formen der Bürgerbeteiligung auch notwendig. Allerdings eben auch mit der Konsequenz, dass man zum Schluss eine konstruktive Lösung braucht. Man kann nicht für Windenergie sein und anschließend sagen, es wird kein neues Netz gebaut. Das wird nicht klappen. Aber ich denke, die Kommunikation wird eine sehr viel stärkere Rolle in Zukunft spielen. Was für die Politik immer ein sehr spannender Punkt ist: Zu welchem Zeitpunkt soll ich diese Kommunikation eigentlich machen? Ich meine, wenn wir jetzt umstrittene Infrastrukturprojekte sehen, wie zum Beispiel Stuttgart 21, dann hat es ja da Planfeststellungsverfahren gegeben – die liegen zum Teil Jahre zurück. Da sind die Bürger beteiligt gewesen. Wahrscheinlich waren sogar auch ziemlich viele daran beteiligt. Aber dann sind vier, fünf Jahre vergangen, und plötzlich kommt es zum Baubeginn, und dann gibt es wieder eine ganz andere Gruppe, die sich dafür interessiert. Wir müssen noch stärker lernen, zu welchen Zeitpunkten kann der Bürger noch etwas beeinflussen, zu welchem Zeitpunkt wird es für ihn sichtbar und wie können wir die beste Einbindung der Bürgerinnen und Bürger erreichen?

Steffen Wenzel (politik-digital): Es sind ja meistens – gerade bei diesem Thema natürlich – kommunale Probleme und natürlich auch kommunale Hoheiten. Wie würden Sie denn jetzt als Bundeskanzlerin darauf einwirken, helfen, zu sagen: Also Leute, da müssen wir was tun, wir müssen die Bürger vorher stärker einbinden, damit es eben nicht wieder zu so etwas kommt wie Stuttgart 21, sondern dass wir vorher nicht nur aufklären, sondern auch diskutieren, wie wir solche Projekte stemmen wollen?

Angela Merkel: Ja, wir haben ja zum Teil die Gesetzgebungskompetenz nicht für das konkrete Projekt, aber die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Planfeststellungsverfahren – dafür macht der Bund ja die Gesetze, und da können wir sehr wohl – zusammen mit den Ländern – entscheiden, in welcher Art und Weise wird welche Beteiligung garantiert. Und da sind wir schon dabei, jetzt auch durch Gesetzesnovellen – gerade bei den Planfeststellungsverfahren – zu versuchen, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Würden Sie denn auch Förderprogramme für Online-Bürgerbeteiligung ins Leben rufen, dass das jetzt etwas ist, was Sie sagen, das muss gefördert werden?

Angela Merkel: Ich habe den Eindruck, das spricht sich ganz gut rum. Ich bin dann mehr dafür, dass wir uns überlegen, wie wir in die ländlichen Räume ordentlichen Internetzugang bekommen, damit wir nicht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft in Deutschland haben: Der, der in der Stadt lebt, hat schon drei Glasfaserkabel-Anbieter, und diejenigen, die im ländlichen Raum, in den Dörfern leben, die haben noch fünf Jahre zu warten, ehe sie endlich mal ein bewegtes Bild auf ihren Computern sehen können. Das wäre nicht gut. Und da scheint es mir eher notwendig, die Rahmenbedingungen richtig zu setzen. Mitmachen – das schaffen die Leute schon. Das Zweite, was wir bieten können als Land und als Staat, das ist eine gute Bildung, so dass jeder auch den Zugang hat, sich sozusagen gebildet genug fühlt, da mitzumachen. Der Rest ergibt sich, glaube ich.

Steffen Wenzel (politik-digital): Als Abschlussfrage möchte ich den Spieß vielleicht noch einmal kurz umdrehen – nicht jetzt unbedingt fragen, wo Sie Deutschland in fünf oder zehn Jahren sehen, sondern wo Sie dieses Thema Internetgesellschaft und Online-Bürgerbeteiligung in fünf bis zehn Jahren sehen. Ich denke da auch an die baltischen Staaten, die ja sehr viel dort machen – auch im E-Government-Bereich insbesondere. Hier gibt es ja doch immer noch eine große Innovationsfeindlichkeit – gerade bei diesem Thema. Wie sehen Sie da die Möglichkeiten für Deutschland, dass wir da ein bisschen aufholen können?

Angela Merkel: Ja, also ich bewundere die baltischen Staaten zum Teil schon, die ihre Kabinettsitzung nur noch per Computer machen. Wir werden unsere…

Steffen Wenzel (politik-digital): Online wählen…

Angela Merkel: Ja, online wählen, auch eine Möglichkeit. Das ist ja bei uns mit der Rechtsprechung sehr kompliziert. Aber die ganze Archivierung der Verwaltungsvorgänge, da haben wir natürlich noch viel zu tun – die elektronische Gerichtsakte und vieles andere mehr. Wir arbeiten an der Nummer 115, der Behördennummer – das ist auch recht schwer –, dass man dann auch weiß, dass man überall dann Zugang übers Internet auch zu den Verwaltungen hat und irgendwo anruft und sofort gesagt kriegt, welches Passwort man eingibt, damit man hier und dort seinen Dienst auch vom Staat bekommt. Und ich stelle mir natürlich mehr Bereitschaft vor bei der Einführung der Gesundheitskarte zum Beispiel. Elektronische Personalausweise – womit man dann auch wieder die elektronische Signatur irgendwann vernünftig hinbekommt. Also, wir haben unheimlich viel zu tun und sind sehr…, doch, langsam an vielen Stellen.

Steffen Wenzel (politik-digital): Frau Bundeskanzlerin, ich hoffe, dass das besser wird, und Sie auch, …

Angela Merkel: Wir arbeiten daran!

Steffen Wenzel (politik-digital): … und ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Angela Merkel: Dankeschön, Ihnen auch.