Befragung der Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Merkel

Kanzlerin Merkel spricht im Deutschen Bundestag

Bundeskanzlerin Merkel stellte sich im Bundestag den Fragen der Abgeordneten.

Foto: Bundesregierung/Denzel

94. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 10. April 2019

Beginn: 13.00 Uhr


Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte nehmen Sie Platz. Ich eröffne die Sitzung.

Anstelle der für diese Sitzungswoche bisher verlangten Aktuellen Stunden soll heute eine interfraktionell vereinbarte Aktuelle Stunde mit dem Titel „Wohnraummiete in Deutschland“ durchgeführt werden. Jede Fraktion soll dabei einen Redner zusätzlich stellen können. Es ist des Weiteren interfraktionell vereinbart worden, am Donnerstag auf die Durchführung einer Aktuellen Stunde zu verzichten. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Befragung der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat mitgeteilt, dass heute die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel zur Verfügung steht.

Die Fraktionen haben mich gebeten, bei der Worterteilung an Fragesteller – abweichend von den neuen Regeln – heute auf eine thematische Bündelung der Fragen zu verzichten und, abgesehen von den jeweiligen Nachfragen, die Fragen streng in der vereinbarten Reihenfolge der Fraktionen aufzurufen. Ich werde der Bitte entsprechen.

Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie mögen, haben Sie jetzt das Wort zu einleitenden Ausführungen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kabinett hat sich heute unter anderem natürlich mit dem heute noch stattfindenden Europäischen Rat und der Frage des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union befasst. Wenn das gilt, was im Augenblick dieser Befragung gilt, dann bleiben uns nur noch knapp 59 Stunden Zeit, um gemeinsam einen ungeordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zu verhindern. Ich sage für die deutsche Bundesregierung, dass das Szenario eines ungeordneten Austritts nicht in unserem Interesse ist. Deshalb sind wir auch sehr froh, dass die britische Premierministerin, die gestern ja auch noch einmal in Berlin war, uns noch einmal ihre feste Absicht versichert hat, gemeinsam mit der Opposition im Unterhaus einen Ausweg aus der schwierigen Situation zu finden. Sie hat deshalb um eine Verschiebung des Austrittsdatums bis zum 30. Juni gebeten. Wir wissen, dass solche Gespräche fraktionsübergreifend Ausdauer und Kompromissbereitschaft erfordern. Deshalb sind ich und die Bundesregierung der Meinung, dass wir den beiden Parteien ein vernünftiges Maß an Zeit geben sollten; denn ein geordneter Austritt ist nur gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich möglich.

Wir werden also heute Abend darüber diskutieren, dass wir Großbritannien mehr Zeit einräumen. Wir knüpfen natürlich auch Erwartungen daran. Das bedeutet vor allen Dingen, dass die europäischen Institutionen weiterhin reibungslos funktionieren können. Dazu gehört die ordnungsgemäße Durchführung der Europawahl im Mai in Großbritannien ebenso wie natürlich die Bereitschaft, bei Entscheidungen konstruktiv mitzuwirken. Wir haben dem Schreiben der britischen Premierministerin entnehmen können, dass Großbritannien nunmehr bereit ist, die Vorbereitungen für die Durchführung der Europawahl vorzunehmen. Falls eine Abstimmung über das Austrittsabkommen bis zum 22. Mai nicht möglich ist, wird also am Donnerstag, dem 23. Mai, die Europawahl in Großbritannien durchgeführt.

Wir werden darüber beratschlagen, welche Art von Verlängerung wir Großbritannien einräumen wollen. Es kann gut sein, dass es eine längere Verlängerung als die von der britischen Premierministerin erbetene ist; aber wir werden diese Verlängerung so ausgestalten, dass Großbritannien, wenn es das Austrittsabkommen verabschiedet hat, sehr schnell danach den Austritt geordnet vollziehen kann. Für diesen Fall haben wir Vorsorge getroffen und eine Übergangsphase von zwei Jahren vereinbart.

Die Bundesregierung ist, um es zusammenzufassen, weiterhin sehr an einem geordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union interessiert.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die erste Frage stellt Tobias Peterka, AfD.

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben ja im Hinblick auf das Internet wiederholt von „Neuland“ bzw. „unbekanntem Terrain“ gesprochen. Mit der Urheberrechtsrichtlinie – dort Artikel 17, ehemals Artikel 13 – wird nun bei modernen Content-Plattformen die Meinungsvielfalt von jungen Leuten von Brüssel beschnitten: Aus Neu mach Alt durch Uploadfilter. Werden Sie, Frau Bundeskanzlerin, gemäß dem Koalitionsvertrag dafür sorgen, dass Deutschland die Richtlinie zumindest mit einer Enthaltung im Europäischen Rat noch stoppt? Sie als Kanzlerin können das schaffen. 2015 hat das mit der Grenzöffnung ja auch funktioniert.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ist die Frage beendet?

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Ja.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben viele Jahre daran gearbeitet, einen Kompromiss zu einem verbesserten Urheberrechtsschutz auf der europäischen Ebene zu finden, und in diesem Zusammenhang ist auch Artikel 17 dieser neuen Richtlinie zu verstehen. Das Wort „Uploadfilter“, das Sie genannt haben und das die Gemüter in der öffentlichen Diskussion erhitzt, kommt in diesem Artikel 17 gar nicht vor. Vielmehr geht es dort darum, dass Plattformen eine Verantwortung für das Management der Inhalte haben, die über diese Plattform weitertransportiert werden. In diesem Zusammenhang glauben wir, dass man überhaupt noch nicht genau weiß, wie dann die Umsetzung in nationales Recht erfolgt. Wir sehen keine Gefahr, dass dort Inhalte in irgendeiner Weise automatisch unterdrückt werden. Vielmehr sehen wir den großen Missstand, dass heute Inhalte von Kreativen sozusagen ohne Bepreisung weiterverwendet werden. Das ist nicht im Sinne der Kreativwirtschaft. Das ist nicht im Sinne des Schutzes des geistigen Eigentums. Ich halte diesen Kompromiss für vertretbar – und die Bundesregierung auch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Andrea Nahles [SPD])

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Ja.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Wenn Sie so liebenswürdig wären, mir ein Zeichen zu geben, wenn Sie das möchten. Dann brauche ich nicht jedes Mal zu fragen.

Tobias Matthias Peterka (AfD):

Ja, das möchte ich sehr gerne. – Wie stehen Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu den Recherchen, die besagen, dass mit Herrn Macron wohl ein Kuhhandel stattfand: „Frankreich bekommt die Uploadfilter, Deutschland dafür Nord Stream 2“?

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Würden Sie auch unter Eid bestreiten, dass dies so war?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich muss erst mal die Wortwahl zurückweisen. Natürlich haben wir mit Frankreich darüber gesprochen, wie wir diese Urheberrechtsrichtlinie vernünftig umsetzen und auch zu einem Ende führen; denn wir können ja dem sozusagen Zerfließen des Werts des geistigen Eigentums nicht einfach zuschauen. Insofern gab es dort durchaus Kompromissbereitschaft von beiden Seiten. Frankreich hätte gerne keinerlei Ausnahme gemacht, auch nicht für kleine Start-ups. Die Bundesregierung war der Meinung, dass wir gerade jungen kleineren Firmen eine Entwicklungsmöglichkeit geben und diese nicht zu früh mit allen Regulierungen überschütten sollten. Deshalb hat man hier eine ausgewogene Ausnahme gefunden.

Es war ein Kompromiss in der Sache wie im Übrigen auch die davon völlig unabhängige Gasrichtlinie ein Kompromiss in der Sache ist oder das Handelsmandat mit den Vereinigten Staaten von Amerika, das wir gerade als EU verhandeln, oder, oder, oder. Es ist ganz normal, dass man versucht, sich zwischen den verschiedenen Nationalstaaten zu einigen. Sie sind ja alle miteinander, glaube ich, froh, wenn die deutsch-französische Einigungsfähigkeit gegeben ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Christian Petry, SPD.

Christian Petry (SPD):

Frau Bundeskanzlerin, eine der Kernforderungen der SPD ist ein gemeinsamer europäischer Rahmen für existenzsichernde Mindestlöhne. Jetzt haben wir dies auch im Koalitionsvertrag so festgeschrieben. Ihre Nachfolgerin, Frau Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich darüber aber negativ geäußert. Sie hat auch mit ihren europapolitischen Vorstellungen viele von uns irritiert, sei es mit der Forderung nach dem Bau eines gemeinsamen europäischen Flugzeugträgers oder nach der Streichung des Sitzes des Europäischen Parlaments in Straßburg, was die französische Seite durchaus schlecht goutiert hat.

Um nochmals auf den europäischen Mindestlohn zurückzukommen: Würden Sie bitte ausführen, wie Sie persönlich dazu stehen bzw. wie die Bundesregierung dazu steht?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich will jetzt nicht die Pfeile von mir weglenken, wenn ich sage, dass ich mich zu den Fragen, die Sie angesprochen haben und die nicht den Mindestlohn betrafen, schon geäußert habe, und zwar sehr ähnlich wie Annegret Kramp-Karrenbauer.

Aber zurück zum Mindestlohn. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung in der Tat Formulierungen dafür gefunden, und es kommt hier immer sehr auf die Details der Formulierung an. Ja, wir wollen, dass es eine vernünftige Mindestlohnszenerie innerhalb der Europäischen Union gibt. Jetzt ist immer die Frage: Wie gestalte ich die aus? Denn die heutigen Mindestlöhne sind sehr unterschiedlich, die heutigen Lebenshaltungskosten und Einkommenssituationen sind sehr unterschiedlich. Darüber kann gesprochen werden. Das ist auch ganz im Sinne der Bundesregierung. Wir stehen da voll zum Koalitionsvertrag. Aber das heißt – so viel ist auch klar –: kein einheitlicher Mindestlohn in ganz Europa.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nachfrage?

Christian Petry (SPD):

Ja. – Dass es keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn geben wird, haben wir, glaube ich, auch so vereinbart. Es geht um die entsprechende Existenzsicherung bzw. um die entsprechende Orientierung an den Voraussetzungen – 60 Prozent des Durchschnittseinkommen etc. pp. – in den einzelnen Mitgliedstaaten.

(Christian Lindner [FDP]: Warum besprecht ihr das nicht im Koalitionsausschuss?)

Habe ich Sie also richtig verstanden, dass wir in diesem Sinne mit Ihrer Unterstützung oder unter Ihrer Ägide die Forderung nach einem europäischen Mindestlohn umsetzen können?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir werden als Bundesregierung nach der Europawahl zu solchen Fragen sicherlich Position beziehen, wenn sie denn von der Kommission in Vorschlägen aufgegriffen werden, selbstverständlich.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Christian Lindner, FDP, stellt die nächste Frage.

Christian Lindner (FDP):

Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin!

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Guten Tag!

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Christian Lindner (FDP):

Ich dachte, ihr seid eine bürgerliche Partei.

(Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP])

Frau Bundeskanzlerin, Ihre Regierung verfolgt seit vielen Jahren im Klimaschutz einen sektorspezifischen Ansatz mit ordnungsrechtlichen Vorgaben in den einzelnen Sektoren. Sie haben in der letzten Regierungserklärung auch hier noch mal dargetan, dass Sie auf Jahresscheibenbasis sektorspezifische Ziele erreichen wollen. Die Bundesumweltministerin hat im gleichen Geiste einen Entwurf für ein Klimaschutzgesetz erarbeitet. Wir haben durch diesen Ansatz in Deutschland die weltweit höchsten CO2-Vermeidungskosten. Nun hat die neue CDU-Bundesvorsitzende in der vergangenen Woche bei einer Veranstaltung des BDI einen vollkommen anderen Ansatz vorgeschlagen. Sie ist für eine sektorübergreifende Herangehensweise, und sie will mit CO2-Budgets und CO2-Preisen arbeiten. Das ist also ein kompletter Paradigmenwechsel. Teilen Sie die fachliche Auffassung von Frau Kramp-Karrenbauer? Und falls ja: Welche Auswirkungen hat das auf die Klimapolitik Ihrer Regierung?

(Beifall bei der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Es trifft sich gut, dass heute das Klimakabinett, also der Ausschuss des Kabinetts, der sich mit Klimathemen beschäftigen wird, zum ersten Mal getagt hat. Wir haben uns eine Arbeitsagenda gegeben. Zu dieser Arbeitsagenda gehört, dass wir uns neben dem sektorspezifischen Ansatz, den wir in der Tat bisher für den Nichtzertifikatebereich verfolgt haben, auch anschauen, was es an neueren Gutachten gibt. Da gibt es zum Beispiel ein sehr interessantes Gutachten von Herrn Professor Schmidt, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, und Herrn Professor Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die dafür werben, auch im Nicht-ETS-Bereich einen CO2-Bepreisungsansatz zu verfolgen. Deshalb werden wir uns mit diesen neueren Erkenntnissen auseinandersetzen und schauen, ob gegebenenfalls allein Ordnungsrecht oder steuerliche Maßnahmen, wie wir sie ja für die Gebäudewirtschaft schon lange ins Auge gefasst haben, oder aber auch solche Bepreisungsansätze zur Geltung kommen, bevor wir die gesetzlichen Maßnahmen festlegen. Wir werden diese Gutachten dann auch zurate ziehen. Im ETS-Bereich gibt es ja heute bereits eine Bepreisung. Insofern haben wir damit in weiten Bereichen der Industrie bereits Erfahrung.

Wir schauen uns das also an. Wir haben noch keine abschließenden Entscheidungen getroffen, außer einer: Wir verpflichten uns – und das auch durch gesetzliche Maßnahmen –, die Klimaschutzziele 2030 vollumfänglich einzuhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Christian Lindner (FDP):

Frau Bundeskanzlerin, ich entnehme Ihrer Aussage, dass Sie offensichtlich bereit sind, den bisherigen methodischen Zugang im Klimaschutz in Deutschland infrage zu stellen und marktwirtschaftlich neu zu regeln. Welche anderen alternativen Instrumente, um die CO2-Vermeidungskosten in Deutschland zu reduzieren, plant Ihre Regierung denn ins Werk zu setzen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir wären ja ignorant, wenn wir neueste Gutachten nicht in unsere Betrachtungen aufnehmen würden. Wir wissen, dass die preiswirtschaftlichen Signale nicht unstrittig sind. Nehmen wir nur einmal die Bepreisung von CO2-Vermeidungskosten im Industriebereich. Wenn der Preis pro Tonne auf über 20 Euro steigt, wird die Wirtschaft aufmerksam und sagt: Auch diese marktwirtschaftlichen Instrumente sind nicht frei von Auswirkungen. – Ankommen tut es eigentlich immer darauf, dass global möglichst viele an den gleichen Dingen teilnehmen.

Also: Wir haben das Ordnungsrecht als Möglichkeit, wir haben steuerliche Anreizmaßnahmen, und wir haben die generelle CO2-Bepreisung, die wir uns anschauen, für die wir uns aber noch nicht entschieden haben. Wir werden sie allerdings einbeziehen. Bis zum Jahresende wird es dann die entsprechenden gesetzlichen Vorschläge geben, über die wir hier natürlich gerne diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Jürgen Hardt, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Jürgen Hardt (CDU/CSU):

Frau Bundeskanzlerin, die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union hat in den letzten anderthalb Jahren über die PESCO eine neue Dimension erfahren. Es machen ja 25 der noch 28 Mitglieder der EU mit. Eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist notwendig und richtig und ein wichtiger Beitrag zur Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO. Aber das Ganze wird natürlich unvollkommen, wenn Großbritannien als wichtiger Beitragsleister zu unseren Verteidigungsanstrengungen nicht einbezogen ist, nicht nur über die NATO, sondern auch über die PESCO. Gibt es, wenn Großbritannien tatsächlich aus der EU austreten sollte, Überlegungen der Bundesregierung oder vielleicht auch schon Gespräche mit den Briten, wie die Zusammenarbeit gerade in diesem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union mit Großbritannien als dem engsten Verbündeten der EU in Sicherheitsfragen in Europa aussehen könnte?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben immer zwei Szenarien ins Auge zu fassen. Das eine Szenario, das wir anstreben, ist der geordnete Austritt Großbritanniens. Dann würde man in den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien natürlich auch die Frage der Mitwirkung bei PESCO diskutieren. Sollte es nicht zu einem geordneten Austritt kommen, was ich nicht möchte, dann wäre Großbritannien ein Drittstaat. Wir beschäftigen uns auch mit der Frage, wie PESCO und Drittstaaten miteinander verbunden werden könnten; denn auch bei Norwegen stellt sich diese Frage. Das heißt, dann würden wir sehr schnell auch darüber nachdenken, wie wir Großbritannien eine Rolle in der PESCO, wenn von britischer Seite gewünscht, einräumen könnten. Aber der organischere und vorzugswürdigere Prozess wäre, in der zweijährigen Übergangszeit im Rahmen der zukünftigen Beziehungen auch diese Frage mit zu diskutieren.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Caren Lay, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Caren Lay (DIE LINKE):

Frau Bundeskanzlerin, während Ihrer Amtszeit sind die Mieten in fast allen deutschen Städten explodiert; sie haben sich komplett von der Lohn- und Einkommensentwicklung entkoppelt. Die Innenstädte veröden, Menschen werden aus ihren Wohnungen verdrängt. Sie haben dieser tickenden Zeitbombe tatenlos zugesehen. Am vergangenen Wochenende sind deutschlandweit über 55 000 Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen Ihre nicht vorhandene Mietenpolitik protestiert. Es sind an einem einzigen Tag 15 000 Unterschriften für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gesammelt worden. Ich muss sagen: Ich habe von Ihnen nicht gehört, wie Sie dieses Problem bekämpfen wollen, nur dass Sie dieses Volksbegehren ablehnen. Aber was sind Ihre Antworten, um diesen Mietenwahnsinn endlich zu stoppen?

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass das in der Tat ein wirklich großes Problem ist. Deshalb haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung einen großen Teil dem Thema „Mieten und Wohnen“ gewidmet. Wir halten Enteignungen – das darf ich, glaube ich, für die ganze Koalition sagen – für den falschen Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der AfD)

Wir sind der Meinung, dass es darum geht, Missbrauch einzudämmen. Dazu haben wir in dieser Legislaturperiode ein Mietpreispaket auf den Weg gebracht. Wir haben eine Mietpreisbremse eingeführt, und wir arbeiten an weiteren Maßnahmen, zum Beispiel daran, wie auf dem Wohngipfel vereinbart: Wie kann ich besser Bauland zur Verfügung stellen? Wie kann ich bessere Kapazitäten der Bauwirtschaft hinbekommen?

Die Bundesregierung hat sich über das Versprochene hinaus verpflichtet, sozialen Wohnungsbau weiterhin zu unterstützen. Die Bundesregierung wird mit ihren eigenen Liegenschaften gerade auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung billigen verfügbaren Wohnraum bereitstellen. Wir werden eine Wohngeldnovelle erarbeiten. Wir werden die Abschreibungsmöglichkeiten für den Neubau von Wohnungen voranbringen. Das ist also ein ganzes Maßnahmenbündel. Aber zu glauben, es entstünden mehr Wohnungen, wenn wir diejenigen, die Wohnungen gebaut haben, enteignen, das halten wir für den komplett falschen Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Caren Lay (DIE LINKE):

Gerne.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Ich wäre auch Ihnen dankbar, wenn Sie mir ein Zeichen gäben.

Caren Lay (DIE LINKE):

Danke schön. – Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. – Sie merken es vielleicht selber: Etwa die gleiche vage Antwort haben Sie mir hier vor einem knappen Jahr schon einmal gegeben. Wir können, glaube ich, gemeinsam feststellen, dass das alles nichts genutzt hat. Auch der Bund hat seitdem noch keine einzige Wohnung gebaut; auch das möchte ich feststellen.

Wenn Sie gegen die Enteignung sind, was sind denn dann Ihre konkreten Schritte, um Spekulation einzudämmen? Was tun Sie gegen die aggressiven Machenschaften der großen Wohnungskonzerne?

(Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: Das ist doch Spekulation!)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Schauen Sie, wenn Sie mir vor einem Jahr hier schon einmal diese Frage gestellt haben, dann spricht das ja nicht gerade dafür, dass Sie aufnehmen, was wir zwischendurch gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Andrea Nahles [SPD])

Wir hatten einen Wohnungsgipfel. Wir schaffen – im Bundesrat liegend – Abschreibungsmöglichkeiten. Es hängt jetzt eigentlich nur an der Zustimmung der Grünen, dass wir endlich Tempo in die Sache kriegen. Wir haben das Baukindergeld beschlossen; Tausende von Familien haben davon schon Gebrauch gemacht. Ich bin gerne bereit, Ihnen schriftlich zuzusenden, was wir alles getan haben. Ich glaube aber, darum geht es gar nicht.

Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir mehr Wohnraum brauchen. Wir sagen, dass wir das nur durch konkrete Maßnahmen machen können, zum Beispiel indem neue Wohnungen entstehen und indem Praxen eingedämmt werden, die uns nicht weiterhelfen, nämlich der Mietwucher, den es an bestimmten Stellen gibt, und der Umstand, dass Bauland in Eigentum nicht bebaut wird. Man muss darüber nachdenken: Was kann ich da tun?

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind Sie ganz schnell bei dem Thema!)

Da kann man zum Beispiel auch steuerliche Maßnahmen ins Auge fassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Bundeskanzlerin, wie der Kollege Lindner möchte ich etwas zum Thema Klimaschutz fragen. Anders als Herr Lindner glaube ich aber nicht, dass wir mit CO2-Vermeidungskosten ein Problem haben, sondern beim Thema „CO2-Vermeidung und Klimaschutz“ insgesamt.

Schauen wir uns an, was Sie beispielsweise 2007 gesagt haben – ich zitiere –:

Ein Weiter-so gibt es nicht. Der Klimaschutz ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts.

Sie haben die Rolle Deutschlands betont. Sie haben betont, dass sich an unserer CO2-lastigen Wirtschaft etwas ändern muss. Wir haben pro Kopf etwa 9 Tonnen CO2-Emissionen; in afrikanischen Staaten sind es teilweise weniger als 1 Tonne. Wenn man sich die Bilanz Ihrer Kanzlerschaft anguckt, dann sieht man, dass die Emissionen mehr oder weniger gleich geblieben sind.

Meine Frage an Sie wäre jetzt: Wie erklären Sie eigentlich angesichts Ihrer klaren Ansage zu Beginn Ihrer Kanzlerschaft das desaströse Ergebnis, das wir heute haben?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich sehe es, was Ihre Einschätzung anbelangt, natürlich nicht so. Wir haben uns für die Zeit von 1990 bis 2010 eine Reduktion der CO2-Emissionen um 20 Prozent vorgenommen. Das haben wir auch eingehalten. Für die Zeit von 2010 bis 2020 haben wir uns noch einmal eine Reduktion von 20 Prozent vorgenommen. Nach jetzigem Stand ist zu erwarten, dass wir deutlich über 30 Prozent erreichen werden. Das heißt: Man kann nicht sagen, dass in den letzten Jahren nichts geschehen ist. Da ist sehr wohl auch sehr gezielt gehandelt worden.

Wir müssen dennoch mehr tun. Deshalb haben wir uns ja verpflichtet, die 2030er-Klimaziele rechtlich zu fixieren und dazu die entsprechenden Maßnahmen durchzusetzen. Sie wissen, dass gerade im Industriebereich Erhebliches geleistet wurde, auch durch den Zertifikatehandel. Wir haben den Zertifikatehandel verbessert. Der CO2-Preis ist jetzt nicht mehr bei 3 bis 4 Euro pro Tonne, sondern beträgt um die 20 Euro pro Tonne. Das hat auch eine Signalwirkung. Jetzt geht es darum, dass wir im Nicht-ETS-Bereich etwas machen. Ich glaube, das Ergebnis der Kohlekommission, in der sich, wie ich finde, auch die Umweltverbände dankenswerterweise sehr verantwortlich eingebracht haben, spricht für sich und führt dazu, dass wir in diesem großen Bereich der Stromerzeugung eine Klarheit haben, die wir uns vor zwei Jahren gewünscht hätten. Insofern gibt es hier erhebliche Fortschritte, was mich positiv stimmt, dass wir auch die noch vor uns stehenden Aufgaben meistern können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Krischer.

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Bundeskanzlerin, ich kann Ihr Bild der Wirklichkeit an der Stelle nicht teilen. Sie haben eben gesagt, wir hätten die Emissionen von 2010 bis 2020 um 20 Prozent reduziert. Wenn es vorher auch 20 Prozent gewesen wären, wären das 40 Prozent, und dann hätten wir jetzt das Ziel erreicht. Wir verfehlen es aber krachend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben ein Ziel von 40 Prozent und erreichen gerade mal 30 Prozent. In den letzten zehn Jahren ist praktisch nichts an Emissionen reduziert worden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Verkehrsbereich sind die Emissionen sogar gestiegen. Ich kann nicht verstehen, wie man das als Erfolg verkaufen kann. Die Bilanz der letzten zehn Jahre ist desaströs. Deshalb möchte ich Sie fragen: Warum kämpft Deutschland, wie beim letzten Energieministerrat, eigentlich an der Seite Polens gegen die Niederlande, gegen Spanien und gegen Schweden, die sich für das Ziel, bis 2050 den Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien zu gewinnen, einsetzen?

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Krischer!

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Für die Position Deutschlands habe ich kein Verständnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Krischer, Nachfragen sollen eigentlich nur 30 Sekunden dauern. – Frau Bundeskanzlerin.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Das Traurige ist, Herr Krischer, dass ich weiß, dass Sie mir gut zuhören, und es dann trotzdem falsch wiedergeben. Ich habe nicht gesagt: Wir haben 40 Prozent erreicht. Ich habe gesagt: Wir werden deutlich über 30 Prozent erreichen. Das kann uns aber nicht zufriedenstellen. Deshalb werden wir bis 2030 entsprechende gesetzliche Maßnahmen umsetzen.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verkehrsbereich! Landwirtschaft!)

Dann habe ich über die Punkte gesprochen, die ich in der Tat für sehr bedeutsam halte.

Die erneuerbaren Energien sind inzwischen unser wichtigster Energieerzeugungspfeiler. Wenn wir gemeinsam mit den Grünen den Leitungsbau genauso leidenschaftlich voranbringen wie die Erstellung von Windanlagen, dann wird das 2030er-Ziel noch leichter zu erreichen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der AfD und der FDP)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD.

Udo Theodor Hemmelgarn (AfD):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die Bundesregierung hat sicherlich zur Kenntnis genommen, dass derzeit die Enteignung von Wohnungsbauunternehmen in bestimmten politischen Kreisen ernsthaft diskutiert wird. Hier werden grundlegende Wertentscheidungen des Grundgesetzes angegriffen, und es wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in bisher unbekanntem Ausmaß gefährdet. Diese Diskussion ist Ergebnis einer völlig verfehlten Wohnungsbaupolitik. Sie ist aber auch das Ergebnis einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die Sie als Kanzlerin während der letzten 13 Jahre maßgeblich zu verantworten haben. Daher meine Frage an Sie: Fühlen Sie angesichts dieser Diskussionen eine persönliche Verantwortung für den beispiellosen Tabubruch und für die gesellschaftliche Entwicklung, die dorthin geführt hat?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, ich weiß jetzt nicht, welchen Tabubruch Sie ansprechen.

(Udo Theodor Hemmelgarn [AfD]: Enteignung!)

– Ja, für die Wortmeldungen der Opposition bin ich nicht verantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich mache sie mir nicht zu eigen. Ich bin gegen Enteignungen. Das habe ich hier schon doppelt und dreifach gesagt, aber ich wiederhole es gerne.

Wir haben in bestimmten Ballungsgebieten ein Problem; das ist richtig. Darauf gibt es zwei Antworten. Das eine ist, dass wir gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland schaffen, das heißt, dass wir die Schwierigkeiten der Menschen in den ländlichen Räumen sehen und zum Beispiel gezielt Ansiedlungen von Behörden und Unternehmen vor Ort fördern; das ist ganz wichtig. Das andere ist, dass wir auf die Entwicklung in den Ballungsgebieten reagieren. Ich habe der Kollegin von den Linken bereits ausführlich dargestellt, welche Maßnahmen wir unternehmen. Politik besteht darin, immer wieder auf Probleme, die auftreten, zu reagieren. Ich hoffe, das können wir schnell. Deshalb setze ich auf Planungsbeschleunigung und hoffe auf die Beratung im Bundesrat am Freitag, damit wir die Sonderabschreibungen für den Wohnungsbau durchbekommen usw. usf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Udo Theodor Hemmelgarn (AfD):

Ja. – Frau Bundeskanzlerin, im Hinblick auf den grundgesetzlichen Schutz des Eigentums nach Artikel 14 nehmen wir mit Erstaunen wahr, dass sich auch Teile des Koalitionspartners SPD an der Diskussion beteiligen und Enteignungen befürworten.

(Andrea Nahles [SPD]: Das ist doch Unsinn!)

Wie beurteilt die Bundesregierung die Positionierung des Koalitionspartners SPD in dieser Frage?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich bin froh, dass sich die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eindeutig geäußert hat und Enteignungen ablehnt. Das stellt mich zufrieden, und darauf setze ich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Claudia Moll, SPD, stellt die nächste Frage.

Claudia Moll (SPD):

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, meine Frage bezieht sich auf das Thema Pflege. Ich habe bis zum 23. September 2017 fast 30 Jahre in der Pflege gearbeitet, und zwar sehr gerne. Im letzten Jahr haben wir zusammen mit der Union das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz auf den Weg gebracht. Das ist zwar ein kleiner Schritt gewesen, aber ein sehr guter. Er geht in die richtige Richtung. Nur brauchen wir jetzt dringend Tariflöhne für die Pflegefachkräfte.

(Beifall bei der SPD)

Sie sind unterbezahlt, dabei hat man als Pflegefachkraft eine sehr große Verantwortung. Ohne Tariflöhne geht es nicht mehr.

Aber nicht nur an die Tariflöhne müssen wir ran. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir die Eigenanteile für die Pflege neu gestalten. Es kann nicht sein – da spreche ich aus Erfahrung –, dass es Pflegebedürftige bzw. Angehörige gibt, die die Pflege wirklich nicht mehr bezahlen können. Wir sollten endlich zu einer Deckelung des Eigenanteils bei den Pflegekosten kommen. Viele vergessen, dass auch viele junge Familien davon betroffen sind; denn auch junge Menschen können aufgrund von Unfall oder Krankheit pflegebedürftig sein. Das wird ganz oft vergessen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin, schauen Sie einmal auf die Ampel!

Claudia Moll (SPD):

Ja, ich beeile mich.

(Heiterkeit)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Bundeskanzlerin.

(Claudia Moll [SPD]: Nein! Ich muss doch noch fragen! Ich habe doch noch gar nicht gefragt!)

– Nein, die Zeit ist jetzt um. Entschuldigung, das tut mir leid. Die Zeit für Ihre Frage ist jetzt deutlich abgelaufen.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Um Ihnen zu Hilfe zu eilen: Ich vermute, ich habe Ihre Frage erahnt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie stehen nun wirklich für die Menschen, die in der Pflege arbeiten und wissen, wovon sie sprechen. Dass dieses Thema die Menschen wirklich umtreibt, das weiß ich. Deshalb haben wir in diesem Zusammenhang ja auch schon einiges auf den Weg gebracht.

Wir haben vereinbart, dass wir sowohl über Mindestlöhne als auch über Tariflöhne sprechen. Ich unterstütze dabei Hubertus Heil, der dieses Unterfangen jetzt in Angriff genommen hat. Er steht in engem Austausch mit dem für Pflege zuständigen Gesundheits- und Pflegeminister Jens Spahn. Wir müssen aber sehen, dass wir im Zusammenhang mit Tarifverträgen nicht nur über Regierungshandeln sprechen, sondern auch die Tarifparteien miteinander zu einer Einigung kommen müssen. Doch das gestaltet sich im Pflegebereich – das wissen Sie sicherlich besser als ich – wegen der verschiedenen Träger komplizierter, als wir alle miteinander gedacht haben. Deswegen wird das Thema aber nicht zu den Akten gelegt, sondern es werden intensive Gespräche geführt, die in den nächsten Monaten – das wird nicht auf die lange Bank geschoben – abgeschlossen werden.

Was die Deckelung der Eigenbeteiligung anbelangt, haben wir im Koalitionsvertrag erst einmal vereinbart, dass die Kinder von Pflegebedürftigen in gewisser Weise entlastet werden. Jetzt hat die SPD einen neuen Vorschlag eingebracht. Wir sind, wie immer, gerne bereit, darüber in der Koalition zu diskutieren. Dazu kann ich Ihnen heute noch keine Zustimmung geben; aber wir werden ihn uns anschauen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Möchten Sie noch eine Frage stellen?

Claudia Moll (SPD):

Ja, natürlich.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Aber nur 30 Sekunden.

Claudia Moll (SPD):

Ja. – Ich möchte keine Frage stellen, sondern ich habe eine Bitte: Lassen Sie uns doch gemeinsam dieses ganze System von Kopf bis Fuß umkrempeln!

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Da muss ich jetzt bei aller Bereitschaft zur Einigkeit doch etwas widersprechen.

(Claudia Moll [SPD]: Schade!)

Nach einem langen Diskussionsprozess haben wir das System von den Pflegestufen umgestellt auf die Pflegegrade. Mit den Pflegegesetzen, die wir jetzt verabschiedet haben, haben wir vieles vorangebracht. Wenn wir den Menschen jetzt mitteilen würden, dass wir finden, dass das, was wir in vierjähriger Arbeit gemacht haben, falsch ist und wir jetzt alles vom Kopf auf die Füße stellen müssen, dann wäre das, wie ich finde, keine gute Mitteilung. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Ich sage nicht, dass wir am Ende dieses Weges angekommen sind; aber gerade die Pflegegrade sind gut, gerade für Demenzkranke; das gilt auch für vieles andere. Ich stelle jetzt nicht das gesamte System wieder zur Disposition, sondern wir arbeiten weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Bettina Stark-Watzinger, FDP, stellt die nächste Frage.

Bettina Stark-Watzinger (FDP):

Frau Kanzlerin, die mit den Stimmen der CDU/CSU unter Rot-Grün eingeführte sogenannte Doppelverbeitragung von Betriebsrenten und Direktversicherungen ist eine Ungerechtigkeit, die circa 6 Millionen Menschen in unserem Land betrifft, Menschen, die für das Alter vorgesorgt haben und sich auf die damals – vor 2004 – bestehenden Regelungen verlassen haben. Jetzt haben wir vernommen, dass der Parteitag der CDU in Hamburg und die SPD, vertreten durch Frau Nahles, sich für die Abschaffung der Doppelverbeitragung eingesetzt haben. Wir haben vernommen, dass Minister Spahn eine Gesetzesinitiative auf den Weg bringen wollte, die Sie blockiert haben. Meine Frage ist: Wie rechtfertigen Sie das, bzw. wie erklären Sie das den circa 6 Millionen betroffenen Menschen in unserem Land? Und vor allen Dingen: Wie können Sie das erklären vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren die Steuereinnahmen sehr stark gesprudelt sind?

(Beifall bei der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir hatten in der Tat eine gute Einnahmesituation des Staates. Wir haben damit ja auch sehr viele gute Dinge auf den Weg gebracht. Die Doppelverbeitragung ist in der Tat ein Thema, das viele Menschen umtreibt, so auch die Vertreter der CDU, der CSU und der SPD. Die Frage der Doppelverbeitragung ist rechtsstaatlich überprüft worden. Das Bundesverfassungsgericht hat gegen diese Praxis nichts einzuwenden gehabt. Ich finde das erst einmal wichtig. Man kann damit sagen: Von der Rechtssituation her ist das vertretbar; die Regelung ist nicht für rechtswidrig erklärt worden. – Dennoch gibt es Enttäuschungen und in diesem Zusammenhang immer wieder Vorstöße.

Ich persönlich bin als Bundeskanzlerin auch dafür verantwortlich, dass geprüft wird, ob das, was wir uns wünschen, machbar ist und in den Haushalt passt, und dass jedes Projekt hinsichtlich der Wichtigkeit mit anderen Projekten abgewogen wird. Da ich dafür bin, dass wir die sogenannte schwarze Null weiter einhalten, also weiterhin einen ausgeglichenen Haushalt haben, habe ich Bedenken gegen bestimmte Vorgehensweisen geltend gemacht.

Im Übrigen muss man sich immer anschauen: Mache ich das für die Zukunft, mache ich das auch noch für die Vergangenheit, und welche anderen Projekte kann ich dann nicht machen? In diesem Abwägungsprozess befinden wir uns, und da konnte ich noch kein grünes Licht geben.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage, Frau Stark-Watzinger?

Bettina Stark-Watzinger (FDP):

Frau Kanzlerin, ich möchte noch einmal nachfragen. Ich halte erst einmal fest: Nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist auch sinnvoll für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.

Zweitens möchte ich Sie fragen: Es kann nicht sein, dass mit Blick auf neue sozialpolitische Vorhaben, bei denen wir zum Beispiel über eine Respektrente ohne Bedürfnisprüfung sprechen, Menschen, die Konsumverzicht geübt haben, die für ihr Alter vorsorgen, um eigenständig zu leben, nicht entlastet werden. Deswegen frage ich Sie konkret: Werden Sie Ihre Richtlinienkompetenz in Anspruch nehmen, sodass, bevor solche Maßnahmen ergriffen werden, die Ungerechtigkeiten in unserem Sozialsystem beendet werden?

(Beifall bei der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich bin der Meinung, dass eine sogenannte Respektrente oder Grundrente, wie wir sie im Koalitionsvertrag genannt haben, ohne Bedürftigkeitsprüfung nicht richtig wäre, und ich lehne das deshalb ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Man kann an der Art der Bedürftigkeitsprüfung etwas ändern, das soll unbürokratisch sein.

Zweitens kann ich hier nicht mit einem einfachen Ja, wie Sie es gern von mir hören würden, sagen, dass wir diese Praxis der Doppelverbeitragung ändern. Das hat Gründe, die in der allgemeinen Abwägung liegen. Wir haben eben über Pflege gesprochen, wir haben die Grundrente Plus noch in unserer Planung, und wir haben bei den prioritären Vorhaben, die wir in der Bundesregierung haben, leider keine Finanzen eingeplant für diese Maßnahme, und wir müssen auf die Solidität der sozialen Sicherungssysteme insgesamt achten.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Gunther Krichbaum, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, dass sich die Bundesregierung und der große Teil des Parlaments in einem Ziel einig wissen, dass wir alles daransetzen sollten, einen harten Brexit zu vermeiden. Er hätte wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch verheerende Konsequenzen, im Übrigen für Europa wie auch selbstverständlich für Großbritannien. Insbesondere müssen wir natürlich auch an Irland und Nordirland denken.

Meine Frage ist nun dahin gehend: Es gibt verschiedene Modelle für eine Verlängerung, die auch heute im Europäischen Rat erörtert werden: die kurzfristige Verlängerung bis zum 30. Juni, also bis kurz vor der Konstituierung des Europäischen Parlaments, oder darüber hinaus. Michel Barnier, der Chefunterhändler der Europäischen Union, hat am letzten Freitag im AStV, also im Ausschuss der Ständigen Vertreter, verdeutlicht, dass er nicht für eine zu lange Verlängerung einsteht, weil er das Risiko sieht, dass die Europäische Union in Geiselhaft genommen werden könnte und dass wir zum Teil diese Unstimmigkeit in Großbritannien zu uns in die Europäische Union importieren.

Meine Frage ist die: Für welche Position tritt die Bundesregierung ein? Für welche Art der Verlängerung?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, dass die Verlängerung so kurz wie möglich sein sollte, aber sie sollte uns auch eine gewisse Ruhe geben, sodass wir uns nicht alle zwei Wochen wieder mit dem gleichen Thema befassen müssen; denn ich glaube, wir können davon ausgehen, dass unser Wunsch, dass es einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gibt, erhalten bleibt.

Mit der Mitteilung der britischen Regierung, dass sie Vorbereitungen für das Abhalten der Europawahl trifft und diese Europawahl gegebenenfalls auch durchführt, ist für mich ein wichtiger Punkt des Funktionierens der Europäischen Union eingetreten. Wir müssen uns jetzt immer fragen – ich sage einmal, das ist eine historische Entscheidung, erstmalig tritt ein Land aus der Europäischen Union aus –: Wie werden wir in fünf oder zehn Jahren auf diese Frage schauen?

Ich glaube, es ist richtig, dass die 27 Mitgliedstaaten sich im Übrigen seit langem sehr einig entschieden haben, wenn möglich die Wünsche Großbritanniens bei unseren Entscheidungen zu berücksichtigen. Deshalb trete ich dafür ein, wenn es dafür heute eine breite Mehrheit gibt, dass wir die Verlängerung durchaus über mehrere Monate machen können, aber nicht hinauszögern und dass dann, wenn Großbritannien entschieden hat, der Austritt sofort erfolgen kann.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke. – Zusatzfrage?

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Frau Bundeskanzlerin, wir möchten, nicht zuletzt durch den Aachener Vertrag, uns in zentralen politischen Fragen zwischen Deutschland und Frankreich abstimmen. Daher meine Frage: Hat es vorbereitend zu dem heutigen Treffen auch ein Abstimmungstreffen mit Frankreich gegeben?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Es hat selbstverständlich permanent Gespräche mit der französischen Seite gegeben. Es wird auch heute vor dem Europäischen Rat noch ein Treffen von mir mit dem französischen Präsidenten geben, bei dem wir noch einmal unsere Positionen abstimmen, und ich denke, wir werden heute Abend zu einem Ergebnis kommen, das nicht an einer deutsch-französischen Nichteinigkeit scheitern wird.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Sevim Dağdelen, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, das Europäische Parlament und auch der US-amerikanische Kongress haben wegweisende Beschlüsse gefasst, indem sie ihre Unterstützung für diesen mörderischen Jemen-Krieg durch die islamistische Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien einstellen wollen. Vor wenigen Tagen erst wurden nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF zwei Schulen in der jemenitischen Hauptstadt von der saudischen Luftwaffe wieder getroffen, zahlreiche Kinder getötet und verletzt. Sie haben jetzt im Bundessicherheitsrat beschlossen, dass es wieder Genehmigungen geben soll für Gemeinschaftsprojekte wie Tornados und Eurofighter an Saudi-Arabien oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate.

Meine Frage ist – auch angesichts der Berichterstattung jetzt bei „Tagesschau“, von „German Arms“ und anderen Journalisten, dass genau diese deutschen Waffen in diesem mörderischen Krieg im Jemen eingesetzt werden –: Warum stoppen Sie nicht die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien, obwohl Sie doch genau wissen, dass diese Tornados und Eurofighter im Jemen-Krieg eingesetzt werden?

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, erstens haben wir heute gerade im Kabinett, wenn ich das kurz erwähnen darf, die deutsche Beteiligung an der Mission zur Umsetzung des Hudaida-Friedensabkommens beschlossen. Wir bringen uns sehr intensiv – insbesondere der Bundesaußenminister – in die Frage ein: Wie können wir zu einer Konfliktlösung hier beitragen?

Zweitens kennen Sie die Beschlüsse. Wir sind natürlich in einer Abwägung. Wir sind Teil von europäischen Gemeinschaftsprojekten. Nebenbei: Über die Beschlüsse des Bundessicherheitsrates berichte ich natürlich nicht. Aber ich kann sagen, dass wir in den Gemeinschaftsprojekten vereinbart haben, insbesondere mit Großbritannien, dass keine Auslieferung an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate erfolgt, aber dass wir den Weiterbau ermöglichen. Ich glaube, es geht hier um ein Spannungsfeld, zugegebenermaßen, zwischen Verbindlichkeit und Verlässlichkeit Deutschlands als ein Teil europäischer Rüstungspolitik und gleichzeitig unseren politischen Zielen. Auch unsere Partner wie Großbritannien und Frankreich haben sehr wohl beachtliche politische Erwägungen in diesem Zusammenhang angestellt. Das ist Europa: dass wir dann immer wieder versuchen, auch gute gemeinsame Lösungen zu finden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage?

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Ja. – Frau Bundeskanzlerin, es ist ja bezeichnend, dass Sie bei Ihrer Abwägung zu dem Schluss gekommen sind, dass die europäische Zusammenarbeit bei Rüstungsproduktion für Sie einen höheren Stellenwert hat, als Menschenleben zu retten im Jemen, indem man einfach keine Waffen mehr und auch nicht Gemeinschaftsgüter wie die Kampfjets Eurofighter und Tornado liefert.

Aber wenn Sie schon an einer Konfliktlösung interessiert sind: Wäre die Lösung des Konfliktes nicht einfacher, indem man keine Kriegspartei ist – durch Waffenlieferungen –, anstatt unglaubwürdig als neutraler Beobachter im Jemen aufzutreten? Warum stoppen Sie nicht einfach diese Waffenlieferungen an Saudi-Arabien?

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Gut, wir müssen uns erst einmal vergegenwärtigen, dass Saudi-Arabien nicht die einzige Konfliktpartei in diesem Krieg ist; es gibt da auch durchaus eine Rolle des Iran.

Zweitens habe ich eben deutlich gemacht, welche Randbedingungen wir auch für den Weiterbau von Gemeinschaftsprojekten gesetzt haben, um dann die Situation noch einmal zu bewerten, bevor es zu Auslieferungen kommt.

Drittens hat die Bundesregierung unsere nationale Ansicht deutlich gemacht, dass es zurzeit keine – es gibt eine Ruhensanordnung; die ist um sechs Monate verlängert worden – Möglichkeit für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate gibt.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Bundeskanzlerin, die Bundesregierung streitet ja momentan öffentlich über die Ausrichtung einer Nationalen Industriestrategie. Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat vorgeschlagen, das europäische Wettbewerbsrecht aufzuweichen, um Fusionen und Marktmacht von Großkonzernen zu ermöglichen.

Dem widerspricht Ihr Bundeskanzleramtsminister Helge Braun – ich nehme an, mit Ihrer Unterstützung –, er lässt sich im „Handelsblatt“ zitieren mit:

Unsere Unternehmen sollen wegen ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten erfolgreich sein und nicht, weil europäische Verbraucher zu hohe Preise bezahlen.

Deswegen würde ich Sie fragen: Was ist denn da eigentlich gerade los in der Bundesregierung? Haben Sie es für notwendig gehalten – das Bundeskanzleramt –, in dieser Form so öffentlich die Notbremse zu ziehen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, ich glaube, wir sind uns einig, Frau Kollegin, dass lebendige Diskussionen uns in der Sache immer voranbringen

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und dass wir über die Frage, welchen Anteil der Industrie an der Wertschöpfung in unseren Ländern wir in Zukunft wollen und welche Maßnahmen wir in einem komplizierten internationalen Umfeld – China, Protektionismus von anderen Ländern – wählen sollen, diskutieren müssen.

Ich bin sehr dankbar, dass der Bundeswirtschaftsminister den Stein ins Wasser geworfen hat und eine Industriestrategie vorgeschlagen hat und alle eingeladen hat, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.

Ich sehe keinen Widerspruch zwischen den Aussagen des Bundeswirtschaftsministers und des Chefs des Bundeskanzleramts. Natürlich wollen wir, dass Unternehmen ihren Marktplatz behaupten im Wettbewerb – in einem fairen Wettbewerb. Bei dem Wort „fair“ können wir sofort ansetzen: Was bedeutet das, wo gibt es welche staatlichen Subventionen, und welche Art der Reaktion müssen wir europäischerseits finden? Das hat dann etwas mit dem Wettbewerbsrecht zu tun.

Im Zusammenhang mit dem Wettbewerbsrecht stellt sich die interessante Frage, wie man „Marktmacht“ eigentlich definiert. Zurzeit wird die Marktmacht durch den Ausschreibungsmarkt definiert. Nehmen wir mal das Beispiel von Siemens und Alstom: Es gibt heute zwar keine chinesischen Bewerber für den Ausschreibungsmarkt der Europäischen Union, die in Rede stehende Fusion von Siemens und Alstom könnte aber in zehn Jahren von Bedeutung sein. Ist jetzt der heutige Ausschreibungsmarkt das Relevante, oder ist der heutige Markt des größten chinesischen Eisenbahnbauers – auf dem globalen Markt hat er bereits heute einen Anteil von über 50 Prozent – das entscheidende Kriterium? Darüber müssen wir sprechen, und ich glaube, das machen auch Sie.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Zusatzfrage.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat recht, Altmaier oder Braun?)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Beide. – Sie wollte wissen, ob Herr Altmaier oder Herr Braun. Ich sage: beide.

Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das halte ich für nicht zusammenbringbar. Diese Quadratur des Kreises müssen Sie noch mal in Ruhe erklären.

Frau Bundeskanzlerin, Herr Altmaier konnte mir bisher vor allen Dingen nicht erklären, was er konkret am europäischen Wettbewerbsrecht ändern will. Ich habe ihm gesagt: Eine Diskussion alleine ist noch kein Vorschlag.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich bin ja gerade extrem spezifisch geworden.

Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sie haben gerade das Beispiel „Siemens/Alstom“ gebracht. Angesichts der Tatsache, dass bei dem geltenden europäischen Wettbewerbsrecht von 7 000 Fusionen nur 29 untersagt wurden, habe ich einfach die Frage: Gibt es außer Siemens/Alstom für Sie noch ein anderes Beispiel, an dem Sie darlegen können, warum das europäische Wettbewerbsrecht verändert werden muss?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nun gut, das war das jüngste Beispiel.

(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur ein anderes!)

Ich habe mich sehr viel mit dem Telekommunikationsmarkt beschäftigt und bin mir nicht sicher, ob die Konsolidierung da so schnell gelaufen ist, wie wir uns das wünschen würden. Inzwischen hat dort aber manches stattgefunden.

Ich habe jetzt kein zweites Beispiel parat, das gerade aktuell ist, aber ich habe Ihnen doch gesagt, welche systemische Frage wir stellen müssen. Wenn ein Unternehmen aus einem Land wie China über 50 Prozent des globalen Angebots im Bereich der Eisenbahn macht und heute auf dem europäischen Markt noch nicht tätig ist, dann stellt sich die Frage, ob wir nicht durch Alstom und Siemens einen globalen Player schaffen sollten, der mit dieser großen globalen Marktmacht konkurrieren kann. Ist dann der heutige Ausschreibungsmarkt in der Europäischen Union die relevante Entscheidungsgröße, oder ist die Frage, welche globale Marktmacht ein Unternehmen hat, das heute noch nicht in Europa engagiert ist, entscheidend? Über diese Frage werde ich weiter diskutieren.

Sie können ja eine andere Meinung haben, aber dass wir diese Frage stellen, ist, glaube ich, lebenswichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Dr. Gottfried Curio, AfD, stellt die nächste Frage.

Dr. Gottfried Curio (AfD):

Frau Bundeskanzlerin, aktuelle Bilder zeigen einen gewaltsamen Durchbruchsversuch von 2 000 Migranten, um von Griechenland zur geschlossenen Balkanroute zu gelangen. Angreifer mit Kindern als Schutzschilder schleudern Steine gegen die Einsatzkräfte. Nur ein robuster Polizeieinsatz verhindert das gewaltsame Durchbrechen der Grenze. Diese notwendige Aktion wird hierzulande oft mit dem Ausdruck „Hässliche Bilder“ verleumdet.

Sie haben sich mit dem Global Compact for Migration zur Förderung von Migration schlechthin verpflichtet – auch jenseits von Flucht oder Arbeitsaufnahme. Das ist ein weiterer Magnet für illegale Migration. Mit einem erfolgreichen Durchbruch auf die Balkanroute ist jetzt jederzeit zu rechnen.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Ihnen gehen die Themen aus!)

Im September 2015 haben Sie die bereits vorbereitete Sicherung der deutschen Grenze verhindert. Werden Sie diesmal Vorkehrungen für einen tatsächlich effektiven Grenzschutz treffen

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind immer noch im Jahr 2015!)

und Leute, die ohne Fluchtgrund – der Krieg in Syrien ist aus – als Karawane aus bereits sicheren Ländern kommen, abweisen? Das heißt: Werden Sie die Grenze, wenn nötig, effektiv und robust sichern?

(Beifall bei der AfD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben seit 2015 ja eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, darunter auch eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Deshalb hilft Frontex in Griechenland, und deshalb gibt es auch eine deutsch-griechische Zusammenarbeit und einen sehr engen Austausch. Auf dieser Grundlage werden wir auch weiter arbeiten.

Ich mahne in Richtung Griechenland allerdings an, dass wir bis heute keine vollständige Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens haben. Die türkische Seite hat einen sehr viel besseren Grenzschutz eingesetzt; wir unterstützen die Türkei ja auch bezüglich der Flüchtlinge. Aber das Abkommen zur Rückführung syrischer Flüchtlinge, die illegal über die Ägäis kommen, von Griechenland in die Türkei, wird nicht in ausreichendem Maße umgesetzt. Hier arbeiten wir auch mit der griechischen Regierung daran, dass das umgesetzt wird.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke. – Zusatzfrage?

Dr. Gottfried Curio (AfD):

Dennoch: Sie stehen ja in Ihrem eigenen Wort, dass sich 2015 nicht wiederholt; wir reden jetzt nicht vom Skandal der stillen Dauerzuwanderung.

Österreich und Bosnien warnen vor gigantischen sich formierenden Migrantentrecks: 60 000 in Griechenland, 40 000 in der Türkei. Bulgarien ist bereit, 3 000 Soldaten an die Grenze zu schicken, um die Trecks zu stoppen. Deren Ziel ist Deutschland, wo man selbst als vollziehbar Ausreisepflichtiger im Land bleibt und per Dauerduldung das Sozialsystem ausbeutet.

Deshalb: Würden Sie diesmal Ihrer Pflicht zum Grenzschutz, wenn nötig, nachkommen oder wieder einen Innenminister behindern?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich sage noch mal, dass der Grenzschutz im Wesentlichen an der Außengrenze stattzufinden hat: dazu eben das EU-Türkei-Abkommen, dazu die Maßnahmen an der bulgarischen Grenze zur Türkei und an anderen Außengrenzen der Europäischen Union. Wir haben eine exzellente Zusammenarbeit mit Griechenland. Deshalb glaube ich, dass wir diese Dinge gemeinsam bewältigen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke. – Nächste Frage stellt Kerstin Tack, SPD.

Kerstin Tack (SPD):

Herzlichen Dank, Frau Bundeskanzlerin. – Meine Frage bezieht sich auf die Paketbranche. Wir nehmen ja wahr, dass für die allermeisten Menschen in Deutschland heute das Internet in der Tat kein Neuland mehr ist. Wir nehmen auch wahr, dass das Bestellen im Internet ganz besonders für die Paketbranche zu einem Megawachstum geführt hat, allerdings sehr häufig auf dem Rücken der Beschäftigten in dieser Branche.

Wir haben im Februar dieses Jahres eine groß angelegte Kontrolle durch den Zoll gehabt, der über 12 000 Menschen kontrolliert und festgestellt hat, dass wir wirklich schwierige Situationen haben, nicht nur illegale Beschäftigung, sondern insbesondere auch das Ausbleiben von Leistungen der Sozialversicherung. Wir haben in der Vergangenheit immer gemeinsam festgestellt: Wenn wir Kenntnis über schwierige Arbeitsbedingungen haben, haben wir das als politischen Handlungsauftrag gesehen, gesetzgeberisch tätig zu werden. Diesen sehen wir auch in dieser Branche.

Der Arbeitsminister möchte gerne die Nachunternehmerhaftung, wie wir sie ja in der letzten Legislatur für die Fleischindustrie mit großem Erfolg gemeinsam definiert haben, auch für die Paketbranche einführen, damit die in Haftung genommen werden können, die durch Sub- und Sub-Subunternehmen dafür sorgen, dass keine Sozialversicherungsbeiträge geleistet werden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin.

Kerstin Tack (SPD):

Meine Frage ist: Unterstützen Sie diese Initiative?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich unterstütze, dass wir zu mehr geordneten Verhältnissen in der Paketbranche kommen. Ich glaube, dass es dort in der Tat Vorkommnisse gibt, die nicht in Ordnung sind. Ob das Instrument der Nachunternehmerhaftung hier das richtige ist, dazu habe ich mich noch nicht mit einer positiven Meinung geäußert.

Ich glaube, wir können die Kontrolldichte noch erhöhen. Wir müssen mit der Branche sprechen. Dann muss man sehen, was wir machen, wenn das alles nichts fruchtet. Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an dem Punkt angekommen, um die Nachunternehmerhaftung auch für diese Branche durchzusetzen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Möchten Sie noch eine Zusatzfrage stellen? – Bitte.

Kerstin Tack (SPD):

Ja. – Wir haben uns in der Vergangenheit in der Regel bei Kenntnis solch schwieriger Verstöße sehr viel schneller und eindeutiger gesetzgeberisch positioniert. Können Sie mir die Gründe nennen, warum Sie bei der Paketbranche anders als in der Fleischbranche oder in der Baubranche hier aktuell einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf nicht sehen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich glaube, wir beschäftigen uns in der öffentlichen Diskussion noch nicht so lange mit dieser Frage. Die Vorschläge aus Ihren Reihen sind da auch relativ neu. Deshalb müssen wir diese Diskussion noch etwas fortsetzen.

Wir sollten nicht als einzigen ordnungspolitischen Ansatz immer die Nachunternehmerhaftung nehmen. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Der Staat hat hier vor allen Dingen eine wichtige Kontrollfunktion,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die übrigens vom Bundesfinanzministerium gut ausgeübt wird.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Stephan Thomae stellt die nächste Frage.

Stephan Thomae (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, eine Frage zu Artikel 17 Urheberrechtslinie, den Uploadfiltern. Da hat heute im Rechtsausschuss die Koalition mit ihrer Stimmenmehrheit einen Antrag der FDP zur Beratung dieses Themas von der Tagesordnung abgesetzt.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Abgelehnt wahrscheinlich, nicht?

Stephan Thomae (FDP):

Die Begründung der Koalition war, es gebe noch Klärungsbedarf.

Meine Frage an Sie ist: Was für ein Klärungsbedarf besteht da noch? Ist noch etwas zu klären? Erwägt vielleicht die Regierung, im Ministerrat doch nicht zuzustimmen? Oder sagen Sie: „Nein, es ist eigentlich nichts mehr zu klären, alles klar. Das war nur ein Vorwand, um den Antrag der FDP abzusetzen“? Was ist denn nun richtig? Gibt es noch Klärungsbedarf, oder war das nur ein vorgeschobener Grund?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Also, zu den Vorgängen im Ausschuss kann ich zugegebenermaßen jetzt nicht viel sagen. Ich weiß nur, dass wir uns bezüglich unseres Abstimmungsverhaltens auch noch mit einer Protokollerklärung, die wir abgeben – wir haben schon einmal eine abgegeben – beschäftigen.

(Christian Lindner [FDP]: Protokollerklärung! Ganz großes Kaliber!)

Sie wird noch abgestimmt.

Im AStV wird ja morgen abgestimmt. Dann wird am 15. April dieses Jahres im Agrarrat sozusagen unter TOP 1 darüber abgestimmt. Aber die grundsätzlich positive Einstellung, dass dieser Kompromiss tragfähig ist, steht nicht infrage.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage?

Stephan Thomae (FDP):

Vielen Dank. – Eine Nachfrage genau zu diesem Punkt. „Protokollerklärung“, das ist eine neue Information. Können Sie uns informieren, was Inhalt, Gegenstand dieser Protokollerklärung sein soll?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Nein, weil wir daran arbeiten.

Stephan Thomae (FDP):

Ich habe vernommen, dass bereits ein Vorschlag seitens der SPD eingegangen ist, der momentan aber noch von Ihrer Fraktion verhindert wird bzw. dem entgegengetreten werden soll.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wenn Sie vernommen haben, dass es einen Vorschlag der SPD, also der zuständigen Ministerin, gibt, dann ist das keine neue Information. Aber in der Tat wird in der Koalition noch an der Formulierung dieser Protokollerklärung gearbeitet. Wenn sie fertig ist, bekommen Sie diese genauso zur Kenntnis wie die Initiative der SPD, die Ihnen schon bekannt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Theurer [FDP]: Das Parlament wird nicht informiert, wenn es noch Einfluss nehmen kann! Das ist interessant!)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Die nächste Frage stellt Florian Hahn, CDU/CSU.

Florian Hahn (CDU/CSU):

Frau Bundeskanzlerin, das Thema Brexit ist sozusagen medial omnipräsent. Es gibt aber auch viele andere Themen, die auf EU-Ebene gerade für die Zukunft unseres Landes sehr wichtig sind, beispielsweise der Umgang der Europäischen Union mit China. Ein EU-China-Gipfel hat bereits stattgefunden. Mich interessiert: In letzter Minute konnte noch eine Abschlusserklärung konsentiert werden. Der Grund, warum das so lange gedauert hat, war, dass man sich nicht auf Floskeln, sondern auf substanzielle Inhalte geeinigt hat. Ist das insgesamt ein Indiz oder ein Signal dafür, dass die EU inzwischen eine andere Strategie gegenüber China verfolgt?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Wir haben sehr hart um diese Abschlusserklärung gerungen. Ich bin sehr dankbar, dass die Kommission hier hart verhandelt hat. Wir werden ein Investitionsschutzabkommen mit China, wenn es so eintritt wie verabredet, 2020 haben. Wir sind weitergekommen zum Beispiel bei den Herkunftsbezeichnungen; das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt. Wir hatten in Frankreich, als der französische Präsident Jean-Claude Juncker und mich eingeladen hatte, um mit dem chinesischen Präsidenten zu sprechen, all diese Themen angesprochen und darauf hingewiesen, dass Multilateralismus eine faire, beidseitige reziproke Herangehensweise erfordert. Ich glaube, dass wir durch die China-Strategie-Diskussion, die wir im letzten Europäischen Rat geführt haben, innerhalb der Europäischen Union ein Stück weit sensibler geworden sind bezüglich der Wichtigkeit eines einheitlichen Auftretens, auch wenn das nicht überall und abschließend klappt; das muss man auch sagen. Die Bundesregierung hat sich übrigens vorgenommen, während der deutschen Präsidentschaft einen Vollgipfel mit 27 Mitgliedstaaten plus China abzuhalten, um gerade an der Kohärenz unserer Chinapolitik zu arbeiten.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Fabio De Masi, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Fabio De Masi (DIE LINKE):

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben 2014 auf dem G-20-Gipfel in Brisbane gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

Das heißt, es wird nie wieder notwendig sein, dass Steuerzahler dafür eintreten müssen, dass, wenn große Banken zusammenbrechen, sie dann praktisch ein erpresserisches Potenzial entwickeln und Steuerzahler diese Banken retten müssen.

Nun verhandelt die Deutsche Bank mit der Commerzbank, an der der Bund beteiligt ist, über eine Fusion. Wir wissen ja: Zwei kranke Truthähne ergeben keinen Adler. – Sehen Sie nicht das Risiko, dass da wieder eine solch große Bank entsteht, dass die Steuerzahler quasi enteignet werden,

(Christian Lindner [FDP]: Ihr wart doch für Enteignung! Jetzt plötzlich nicht mehr?)

weil sich eine solche Megabank in der nächsten Krise selbst verstaatlicht, und können Sie ausschließen, dass dann dafür Steuergelder fließen werden?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich lehne erst einmal ab, auf diese Art und Weise über zwei Bankinstitute in Deutschland zu sprechen. Das tut wirklich nicht gut.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Alle Banken unterliegen inzwischen einem europäischen Aufsichtsregime. Wir haben zudem eine deutsche Finanzmarktkontrolle. Bei allen Fusionen, die stattfinden werden, werden die systemischen Risiken sehr gut berücksichtigt. Wir wissen: Je größer die Banken sind, desto stärker sind die Eigenkapitalanforderungen. All das ist inzwischen geregelt. Insofern steht das, was ich in Brisbane gesagt habe, nicht nur auf dem Papier. Wir haben auch die entsprechenden Dinge dazu gemacht. Unter dieser Maßgabe werden auch die aktuellen Gespräche geführt. Sie sind ergebnisoffen. Sie sind nach Marktbedingungen der Öffentlichkeit mitzuteilen. Ich finde, es ist nicht unsere Sache, wertend einzugreifen, bevor die Gespräche zu Ende geführt wurden.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Eine Zusatzfrage.

Fabio De Masi (DIE LINKE):

Frau Bundeskanzlerin, mit Verlaub, zur Deutschen Bank würde mir noch viel mehr einfallen, nicht nur der Vergleich mit dem Truthahn. Die haben eine durchaus beachtliche Strafakte angesammelt. Ich möchte dann doch feststellen – vielleicht widersprechen Sie dieser Bewertung –, dass Ihre Aussage von 2014 nicht mehr gilt; denn Sie schließen keine Steuergelder für die Deutsche Bank aus.

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich habe gerade gesagt, dass die Aussage gilt und inzwischen in die Tat umgesetzt wurde durch eine Vielzahl ordnungspolitischer Maßnahmen. Also: Ich widerspreche Ihnen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Bundeskanzlerin, Gesundheitsminister Jens Spahn möchte 5 Millionen Euro für eine Studie ausgeben, um die psychischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen zu erforschen; es geht um das sogenannte Post-Abortion-Syndrom. Zur Vorbereitung der Ausschreibungen hat das Gesundheitsministerium zwei Fachgespräche durchführen lassen. Ergebnis des ersten Fachgesprächs war, dass die involvierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Fragestellung als nicht evidenzbasiert zurückgewiesen haben. Ergebnis des zweiten Fachgespräches war, dass auch die Beratungsinstitutionen gesagt haben, dass es keinen Erkenntnisbedarf gibt. Meine Frage ist: Ist diese Studie nicht einfach reine Geldverschwendung, um einen schlechten Kompromiss beim § 219a StGB durchzusetzen?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich finde den Kompromiss, den wir beim § 219a gefunden haben, einen sehr guten Kompromiss, auf den wir sehr viel Energie verwandt haben.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kann man es auch ausdrücken!)

Ich halte die Studie auch für sinnvoll und vernünftig, und deshalb, glaube ich, wird sie auch durchgeführt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage.

Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nun wissen wir ja, dass die Versorgungslage sowohl mit Blick auf Schwangerschaftsabbrüche als auch mit Blick auf Hebammen beispielsweise nicht gut ist, genau genommen sogar sehr schlecht ist. Wären diese Gelder, die jetzt für diese Studie ausgegeben werden sollen, in diesem Bereich nicht deutlich besser investiert?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Unsere neuen Regelungen und Ergänzen des § 219a haben ja geradezu den Sinn, dass Frauen darüber informiert sind, wann und wo die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs besteht.

Die Frage der Hebammen ist ein ganz anderes Kapitel, mit dem wir uns ja auch sehr, sehr intensiv beschäftigen. Insofern glaube ich, dass wir durch unsere Regelung die Situation eher verbessern, als dass wir sie verschlechtern.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Dr. Axel Gehrke, AfD, stellt die nächste Frage.

Dr. Axel Gehrke (AfD):

Frau Bundeskanzlerin, fehlende Fachkenntnisse ausländischer Ärzte aus Drittstaaten, die in Deutschland arbeiten, haben leider bereits Menschenleben gekostet. Selbst echte Dokumente aus Drittstaaten bieten keine Gewähr für korrekt bescheinigte Qualifikationen. Halten Sie es deswegen für geboten, zukünftig bundeseinheitlich zu regeln, dass ausländische Ärzte aus Drittstaaten einer Prüfung unterzogen werden, die zumindest unserem Dritten Staatsexamen entspricht, und dass sie vor allem eine Zulassung erst dann erhalten, wenn sie gute Fähigkeiten der sprachlichen Kommunikation – auf Deutsch natürlich – nachweisen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Es gibt ja die staatliche Zulassung in den Gesundheitsberufen. Wir haben da einen Zusammenschluss der Bundesländer, die für diese Zulassung zuständig sind, befördert. Wir haben immer dafür geworben. Die Bundesländer haben sich darauf eingestellt, damit nicht jedes einzelne Bundesland jede Berufsgruppe im Gesundheitssystem zulassen muss. Das ist jetzt ins Laufen gekommen, und ich vertraue hier voll auf die Kompetenz der Länder.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage.

Dr. Axel Gehrke (AfD):

Das war sehr ausweichend, Frau Bundeskanzlerin. Ich meine gerade die Presseberichte über einen Libyer, der verurteilt wurde, weil er Urkunden gefälscht hatte, damit als Arzt tätig gewesen war und dann durch Unfähigkeit aufgefallen war. Sind solche Meldungen für Sie Einzelfälle, oder welche anderen Möglichkeiten sehen Sie, die Patienten vor fachlicher Nichtbehandlung entsprechend zu schützen?

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Solche Fälle führen natürlich dazu, dass man die Zulassungsbestimmungen sich immer wieder mal anschaut, auch die Prozeduren; das ist ja völlig klar. Aber solche Fälle hat es leider auch schon bei deutschen Staatsbürgern gegeben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Bernhard Daldrup, SPD, stellt die nächste Frage.

Bernhard Daldrup (SPD):

Frau Bundeskanzlerin, wir sind bei der Grundsteuerreform zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf der Zielgeraden und haben nach jahrzehntelangen Diskussionen die Chance, nun ein neues Grundsteuerrecht zu verabschieden. Deswegen würde ich gerne wissen, ob Sie meine Auffassung teilen, dass es angesichts der Bedeutung der Grundsteuer für die Kommunen in Deutschland und der Verpflichtung des Bundes, für gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen, auch weiterhin ein in Gesamtdeutschland geltendes einheitliches Grundsteuerrecht gelten sollte. Oder sind Sie eher der Auffassung, dass es eine Öffnungsklausel und damit sozusagen eine unglaubliche Differenzierung des Grundsteuerrechtes in Deutschland geben sollte?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich habe durchaus Sympathie für die Vorschläge meiner Fraktion, dass man auch Abweichungen ermöglichen sollte. Der Bundesfinanzminister betrachtet das ja auch und bewertet das auch. Wichtig ist, dass wir dann zu einer gemeinsamen Regelung kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage.

Bernhard Daldrup (SPD):

Würde es zu einer solchen Situation kommen, hätten wir dann nicht eine Lage, wie wir sie jahrzehntelang in Verhältnis zwischen Bund und unterschiedlichen Ländern gehabt haben, und das hohe Risiko, dass die Grundsteuer möglicherweise vollständig wegfällt? Wie wäre Ihre Auffassung dann, wie denn eigentlich die jährlich 14 Milliarden Euro Einnahmeausfälle der Kommunen kompensiert werden können?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Jetzt wollen wir nicht den Teufel an die Wand malen. Wir wollen ein Grundsteuerrecht in time bis zum Jahresende – das ist ganz klar –, und das werden wir auch gemeinsam hinbekommen; denn die Kommunen warten darauf. Wenn ich recht informiert bin, gibt es in den Kommunen sowieso Unterscheidungsmöglichkeiten auch durch die Hebesätze und vieles andere mehr. Wir haben sowieso kein einheitliches Steuerrecht überall.

(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht das Problem!)

Insofern ist es eine Fiktion, einfach zu sagen: Das muss alles über einen Kamm geschoren werden. – Aber wir wollen, dass in time, also in der notwendigen Zeit, ein Gesetz vorliegt. Das eint uns in der Koalition, glaube ich.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Die letzte Frage in dieser Regierungsbefragung stellt der Kollege Michael Theurer, FDP.

Michael Theurer (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Ihre Antwort zu Alstom und Siemens überzeugt nicht. Was machen Sie denn mit den anderen Wettbewerbern Tyco und Bombardier? Mit der Industriestrategie will der Bundeswirtschaftsminister ja den Wettbewerb einschränken und die Fusionskontrolle schwächen. Er will auch eine Industrieholding schaffen über die KfW, die Beteiligungen an Unternehmen erwirbt. Das hat zu massiver Kritik geführt: bei Unternehmen, bei den Industrieverbänden, insbesondere im Mittelstand und bei den Familienunternehmen. Wann sprechen Sie Peter Altmaier Ihr vollstes Vertrauen aus?

(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Ich habe ja schon gesagt, dass die Initiative von mir sehr positiv eingeschätzt wird und dass es darüber natürlich eine kontroverse Diskussion gibt. Herr Theurer, Sie wissen doch auch, dass wir durch die globalen Entwicklungen – jetzt habe ich noch gar nicht von der Plattformwirtschaft gesprochen – völlig neue Herausforderungen beim Kartellrecht haben. Wenn das Kartellrecht so bleibt, wie es in den 50er- und 60er-Jahren war, dann werden wir damit nicht hinkommen. Darüber zu sprechen, gebietet die Vernunft, auch mit Blick auf die Möglichkeit, dass wir weltweit führend bleiben.

Bei Mobilitätsplattformen und anderem haben wir noch ganz andere Probleme. Deshalb führen wir all die Plattformdiskussionen durch. Als Bundeskanzlerin lade ich immer den Chef des Bundeskartellamtes ein, damit gerade da Sensitivität entsteht und wir gemeinsame Antworten finden; denn das Kartellamt agiert natürlich unabhängig.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Zusatzfrage.

Michael Theurer (FDP):

Ein Wettbewerbsrecht für die digitale Ökonomie ist absolut notwendig; aber bei der Industriestrategie von Peter Altmaier kommt die Kritik insbesondere aus dem deutschen Mittelstand, von den Familienunternehmen, zum Beispiel von Herrn Eben-Worlée oder von Frau Leibinger-Kammüller von Trumpf. Nehmen Sie die Sorgen des deutschen Mittelstandes nicht ernst, und warum machen Sie sich die Position des deutschen Mittelstands nicht zu eigen?

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Schauen Sie, ich nehme die Position des deutschen Mittelstandes natürlich ernst, weil er das Rückgrat unserer Wirtschaft ist. Aber der deutsche Mittelstand prosperiert nur, wenn wir auch ein paar große Player haben. Über diese Dinge zu sprechen, ist notwendig. Da gibt es keine eineindeutigen Antworten. Niemand macht doch eine Industriestrategie gegen den deutschen Mittelstand. Große mittelständische Unternehmen, zum Beispiel die Firma Herrenknecht – die Ihnen wahrscheinlich genauso gut bekannt ist wie Frau Leibinger-Kammüller von Trumpf –, wissen, was sie für Wettbewerbsbedingungen heute auf der Welt haben und wie sie darauf reagieren müssen. Gott sei Dank gibt es eine Antwort, und die müssen wir voranbringen: Innovation, Innovation, Innovation. Dort, wo wir ein Stück besser sind als andere, schaffen wir es meistens auch, auf die Märkte zu kommen. Diese Weisheit gilt nach wie vor, mit und ohne Altmaiers Industriestrategie.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Danke sehr. – Mit diesem Appell schließe ich die Regierungsbefragung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Andrea Nahles [SPD])