"Langfristige Stabilität im Euro-Raum ist zentral"

"Langfristige Stabilität im Euro-Raum ist zentral"

Warum in einer finanziellen Notlage im Euro-Raum der IWF eine substanzielle Rolle spielen sollte, erläutert Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Paussauer Neuen Presse. Es geht im Interview aber auch um ihre Reise in die Türkei nächste Woche. Von der Idee, in Deutschland türkische Gymnasien einzurichten, hält sie nichts.

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Passauer Neue Presse"

Das Interview im Wortlaut:

Passauer Neue Presse (PNP): Schwarz-Gelb auf neuem Tiefststand in den Umfragen. Union und FDP verlieren weiter an Zustimmung. Wie erklären Sie sich diesen Trend?

Angela Merkel: Meine Aufgabe ist es nicht, Umfragen zu interpretieren. Ich arbeite daran, unsere Werte zu verbessern. Wenn wir unsere Aufgaben in der Koalition konzentriert anpacken, werden sich die Umfragen für uns wieder zum Positiven entwickeln. Da bin ich sicher.

PNP: Selbst der Bundespräsident zeigt sich enttäuscht über die Arbeit der Regierung. Was muss besser werden?

Merkel: Der Bundespräsident hat mit Recht darauf hingewiesen, dass alle Beteiligten in der Regierung ihre Verantwortung kennen. Wir werden unserer Pflicht gerecht. Die Koalition hat viel vorangebracht. Der Haushalt 2010 ist verabschiedet, das Kurzarbeitergeld verlängert worden. Das Darlehen an die Bundesagentur haben wir in einen Zuschuss umgewandelt, wichtige Maßnahmen zur besseren Regulierung der Finanzmärkte sind auf dem Weg. Das sind wichtige Entscheidungen, die uns bei der Bekämpfung der Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise helfen.

PNP: Werden die ständigen Auseinandersetzungen in der Koalition wie zuletzt beim Thema Gesundheitsreform nicht langsam zu einer ernsthaften Belastung?

Merkel: Die Zusammenarbeit in der Bundesregierung ist gut. Das gilt auch bei der Gesundheitsreform. Der Koalitionsvertrag ist dabei der Rahmen unseres Regierungshandelns. Auf dieser Basis arbeitet jetzt die Regierungskommission unter Leitung von Gesundheitsminister Rösler. Die Reform ist wichtig, damit auch in Zukunft jeder die medizinische Versorgung bekommt, die er braucht.

PNP: Kein Ende im Streit um die Gesundheitsreform - wo bleibt Ihr Machtwort?

Merkel: Bei komplexen Themen muss es eine Diskussion geben, allerdings sollte sie sachlich und konstruktiv sein. Das wird unsere Arbeit prägen.

PNP: Die Gesundheitsreform wird die Bürger teuer zu stehen kommen, oder?

Merkel: Für die Bürger ist die Sicherung der hohen Qualität unseres Gesundheitssystems sehr wichtig. Wie gesagt, auch in Zukunft muss gelten, dass jeder unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die medizinische Versorgung bekommt, die notwendig ist. Die Diskussionen in den Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass dies in anderen Ländern keine Selbstverständlichkeit ist. Wir können trotz erforderlicher Verbesserungen alles in allem stolz auf unser Gesundheitssystem sein. Allerdings wird es in den kommenden Jahren in der Summe nicht billiger werden. Die Lebenserwartung steigt weiter an, unsere Gesellschaft wird immer älter. Jedes Jahr kommen durch den medizinischen Fortschritt neue teure Therapien hinzu. Wenn wir an der bisherigen Finanzierung unseres Gesundheitssystems festhielten, kämen diese steigenden Kosten auf die Lohnnebenkosten oben drauf und verteuerten die Arbeitsplätze in Deutschland. Dadurch würden sie an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wir wollen deshalb eine stärkere Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten erreichen. Und zusätzlich müssen wir auch die Ausgaben begrenzen. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler setzt zum Beispiel derzeit bereits bei den Medikamenten an.

PNP: Ist der Einstieg in eine steuerfinanzierte Gesundheitsprämie ohne Alternative?

Merkel: An einer neuen nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens führt kein Weg vorbei, wie wir es im Koalitionsvertrag skizziert haben. Und wir müssen die Kosten transparenter machen. Auch deshalb hat schon die Große Koalition in der letzten Legislaturperiode die Möglichkeit für Zusatzbeiträge geschaffen. Nicht wenige Versicherte haben ihre Krankenkasse bereits gewechselt. Diesen Wettbewerb brauchen wir.

Thema Steuerreform: Aus der FDP kommen erste Kompromisssignale. Wird die Reform verschoben, und fällt die Entlastung am Ende geringer aus?

Merkel: Wir werden wie verabredet die Ergebnisse der Steuerschätzung Anfang Mai genau anschauen. Dann können wir den Spielraum verlässlicher beurteilen. Klar ist, dass wir die Schuldenbremse im Grundgesetz einhalten werden. Wir werden uns bei der Einkommensteuer auf Entlastungen im Bereich des Mittelstandsbauches und der kalten Progression konzentrieren. Und wir dürfen die Finanzlage der Kommunen nicht aus dem Blick verlieren.

PNP: Themenwechsel: Bleibt es dabei, dass kein deutsches Steuergeld für die Griechenland-Hilfe bereitgestellt wird?

Merkel: Alle Mitgliedstaaten fühlen sich der Stabilität des Euroraums verpflichtet. Dies ist auch eine historische Verpflichtung und Verantwortung. Wir haben auf dem EU-Rat am 11. Februar in einem wichtigen Grundsatzbeschluss in Brüssel bekräftigt, dass wir zur Sicherung der Stabilität der Währungsunion entschlossen gemeinsam handeln werden. Das gilt. Der Maastricht-Vertrag legt im Übrigen den Grundsatz fest, dass jedes Land selbst seine Hausaufgaben bei der Konsolidierung seines Haushaltes erledigt. Die Maßnahmen, die Regierung und Parlament in Griechenland auf den Weg gebracht haben, haben wir mit großem Respekt begleitet und politisch unterstützt.

PNP: Sollte im Fall der Fälle der Internationale Währungsfonds (IWF) einspringen und Griechenland helfen?

Merkel: Ich habe von Beginn an deutlich gemacht, dass unser Handeln zwingend im Einklang mit europäischem und auch dem jeweiligen nationalen Recht stehen muss. Auf dieser Grundlage könnte im Rahmen einer Ultima Ratio, also eines äußersten Mittels in einer Notlage für den ganzen Währungsraum, der IWF eine substanzielle Rolle spielen, die nach den Regeln des IWF stets eine Beteiligung der Region, also für uns hier in Europa die der europäischen Staaten vorsehen würde. Wichtiger aber als diese Frage ist noch die Aufgabe, weit in die Zukunft zu denken, damit sich solch eine Situation nicht wiederholen kann.

PNP: Müssen die Europäischen Verträge geändert werden, um die Stabilität des Euro-Raums langfristig zu sichern?

Merkel: Ich trete entschieden dafür ein, dass wir für die Zukunft die nötigen Schlussfolgerungen ziehen. Wir sind in einer Situation, die bei Verabschiedung des Maastricht-Vertrages nicht ausreichend geregelt wurde. Wir brauchen verbesserte Prävention und Sanktionsmechanismen, die zum Beispiel in EU-Defizitverfahren künftig früher greifen. Defizitsünder mit finanziellen Sanktionen zu belegen, wenn das Land kein Geld mehr hat, ist nicht sinnvoll. Dann sind Strafzahlungen kontraproduktiv. Da müssen wir nach anderen Lösungen suchen, die den Staaten helfen, die Maastricht-Kriterien wieder zu erfüllen. Hier die beste Lösung zu finden, ist ein Prozess, der mehrere Jahre bis zum Inkrafttreten dauern kann, aber dafür werde ich werben.

PNP: Wirtschaftsminister Rainer Brüderle fordert ein Insolvenzrecht für zahlungsunfähige Staaten ...

Merkel: Das ist eine von mehreren Möglichkeiten, die wir prüfen werden. Wir benötigen geordnete und wirksame Verfahren und dazu können Insolvenzverfahren nicht nur für Banken, sondern auch in extremen Situationen für Staaten gehören. Es geht der Bundesregierung zentral um die langfristige Stabilität des Euro-Raumes. Das ist das, was uns und auch mich ganz persönlich leitet. Eine gute Europäerin zu sein, bedeutet, auf diese langfristige Stabilitäts-Union zu drängen. Eine nach den Maastricht-Verträgen nicht vorgesehene Hilfe darf nicht zu langfristiger Instabilität des Euro führen. Das müssen wir verhindern und das Problem der Überschuldung durch glaubwürdige Konsolidierung bei der Wurzel packen. So wird das Vertrauen in den Euro dauerhaft gestärkt.

  

PNP: Hat der Euro nicht nur an Stabilität, sondern auch an Vertrauen verloren?

Merkel: Wir müssen die Krise um Griechenland gut bewältigen. Dazu hat der EU-Rat am 11. Februar die entscheidende Grundlage beschlossen.

PNP: Wie groß ist die Gefahr, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise mit voller Wucht zurückkehrt?

Merkel: Die weltwirtschaftliche Gesamtsituation ist nach wie vor sehr fragil. Das gilt nicht nur für den Bankenbereich. Jetzt kommt es stark darauf an, in diesem Jahr noch mit unseren Konjunkturprogrammen die Folgen der Krise weiter wirksam zu bekämpfen, andererseits den Ausstieg aus der staatlichen Hilfe einzuleiten, sobald das möglich ist, damit die Verschuldung nicht überbordet. Die Strategien müssen auf Wachstum der Wirtschaft zielen und europäisch und weltweit koordiniert werden.

PNP: Die FDP warnt vor einer zu weit gehenden Bankenabgabe und einer pauschalen Lösung, der Opposition gehen die Regierungspläne nicht weit genug. Wie wird das geplante Instrument genau aussehen?

Merkel: Die Bankenabgabe ist ein Instrument unter mehreren, die wir planen, damit sich solche Krisen nicht wiederholen. Außerdem müssen die Banken in Zukunft mehr Eigenkapital haben. Spekulative Leerverkäufe werden wir gesetzlich verbieten. Bereits eingeführt haben wir neue Aufsichtsstrukturen und eine Vielzahl neuer Kontroll- und Warnmechanismen. Bei der Bankenabgabe müssen wir beachten, dass sie nicht das Kreditvolumen zu stark einschränken darf und die Krise womöglich wieder verschärft. Wir werden deshalb Banken höher belasten, die ein stärkeres Risiko darstellen. Sparkassen und genossenschaftliche Banken werden mit ihren hohen Einlagen dagegen weniger belastet. Die Einführung der Abgabe ist ein wichtiger Schritt im gesamten Spektrum der Sicherungsmaßnahmen.

PNP: Thema Hartz IV: Die SPD fordert die Erhöhung der Regelsätze. Welche Konsequenzen werden Sie aus dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ziehen?

Merkel: Die Konsequenzen sind sehr klar. Zunächst müssen die Regelsätze für Erwachsene überprüft werden, wobei zu beachten ist, dass das Bundesverfassungsgericht die Sätze nicht für zu niedrig erklärt hat. Die Leistungen für Kinder müssen dagegen völlig neu berechnet werden. Beide Berechnungen werden erst im Herbst fertiggestellt, denn zunächst müssen wir als Grundlage für die Neuregelung den genauen Bedarf von zig Tausenden Haushalten ermitteln und auswerten. In jedem Fall muss der Staat mehr Geld für die Bildung von Kindern bereit stellen und die Hilfe auch bei den Kindern ankommen. Bundesarbeitsministerin von der Leyen arbeitet bereits daran, dafür die angemessenen Regelungen zu finden. Unabhängig vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts werden wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger verbessern. Es muss größere Anreize geben, aus Hartz IV herauszukommen, denn Leistung muss sich lohnen.

PNP: Sie reisen nächste Woche in die Türkei. Außenminister Westerwelle hat Ankara bei seinem Antrittsbesuch Hoffnungen auf einen EU-Beitritt gemacht. Der türkische Ministerpräsident Erdogan beharrt auf der Mitgliedschaft - welche Botschaft haben Sie für ihn im Gepäck?

Merkel: Ich reise sehr gerne in die Türkei. Beim Thema EU-Mitgliedschaft sind der türkische Ministerpräsident Erdogan und ich seit langem unterschiedlicher Meinung. Dennoch gilt für die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, dass Verträge einzuhalten sind. In diesem Sinne führt die EU seit Jahren ergebnisoffene Verhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Meine Vorstellung ist unverändert eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei. Im Übrigen: Es gibt ein weites Feld von Themen, wo wir eng und erfolgreich zusammenarbeiten können, und das wird ein wichtiges Thema meiner Reise sein.

PNP: Der türkische Ministerpräsident spricht sich für die Einrichtung türkischer Gymnasien in Deutschland aus. Dient das der Integration?

Merkel: Das führt aus meiner Sicht nicht weiter, denn grundsätzlich sollten türkischstämmige Kinder und Jugendliche bei uns in deutsche Schulen gehen. Von der Vorstellung, dass alle türkischen Schüler hier auf ein türkisches Gymnasium gehen sollen, halte ich nichts.

PNP: Immer neue Fälle von Kindesmissbrauch: Die Regierung setzt einen Runden Tisch ein. Die Opposition ist kritisch. Was können dieses Gremium und der Gesetzgeber leisten?

Merkel: Beim Thema Kindesmissbrauch sollten alle Seiten und gesellschaftlichen Gruppen in erster Linie an die Opfer denken. Wir müssen alles daran setzen, solch schreckliche Taten in Zukunft zu verhindern. Der Runde Tisch soll keine parteipolitische Veranstaltung werden. Ich freue mich sehr, dass die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann die Aufgabe der Beauftragten der Bundesregierung hierzu übernommen hat. Es geht darum, zu helfen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und den Opfern Ansprechpartner zu geben.

Das Gespräch führten die Berliner PNP-Korrespondenten Andreas Herholz und Rasmus Buchsteiner. Die Passauer Neue Presse.