"Gespräch über Europa" nach der Vorstellung des Buchs "Angela Merkel – Die Kanzlerin und ihre Welt" von Stefan Kornelius

(Die Ausschrift der Ausführungen des Ministerpräsidenten erfolgte anhand der Simultanübersetzung.)

Kornelius: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen! Es freut mich sehr, dass der Saal nicht nur voll ist, sondern auch großes Interesse besteht. Wir wollen über Europa reden. Wir wollen aber nicht nur über die Krise reden. Wir wollen über die Politik, auch über Deutschland und Polen, sprechen.

Wenn man auf den Kalender schaut, dann ist heute ein ganz besonderer Tag. Wenn Sie in das Jahr 2010 zurückgehen, dann wurden am 22. April, also exakt heute vor drei Jahren, vom Europäischen Statistischen Amt Zahlen über das griechische Staatsdefizit veröffentlicht, das bis dahin noch nicht wirklich bemessen war. Das Ergebnis waren 13,6 Prozent. Wenn Sie so wollen, feiert heute nicht nur Ministerpräsident Tusk Geburtstag, sondern eben auch die Krise - was Gott sei Dank nichts miteinander zu tun hat. Heute vor drei Jahren begann die heiße Phase dieser Krise, und das Dilemma mit dem Rettungspaket nahm seinen Anfang.

Polen, Herr Ministerpräsident, ist nicht im Zentrum der Krise. Sie haben den Euro nicht in Ihrem Land eingeführt. Sie sind ein sehr dynamisches europäisches Mitglied. Bei den Budgetverhandlungen haben wir das ja stark gemerkt. Sie pflegen sehr stark eine europäische Note. Ein Narrativ, das vielleicht in der Krise ein Stück weit in den Hintergrund geraten ist, ist das große Thema der deutsch-polnischen Versöhnung und die Frage, wie diese Nachbarschaft sich gestaltet. Das steht ja auch irgendwo im Zentrum des europäischen Gründungsnarrativs, dass man eben die Themen Versöhnung und Krieg und Frieden ins Zentrum lenkt.

Wenn Sie nun auf die Krise schauen und daran denken, wie Sie seit 2007 als Ministerpräsident in Europa Polen geführt haben, was macht Ihnen heute am meisten Sorgen, und wo würden Sie gern dieses Europa sehen?

MP Tusk: (Der Beginn der Ausführungen wurde aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht übersetzt).

Ich weiß, dass gerade an dem Tag auch Lenin Geburtstag hat. Das sage ich nicht nur aufgrund meiner Ausbildung, sondern weil die Geschichte im politischen Leben unserer beiden Völker, des deutschen und des polnischen Volkes, immer eine außergewöhnliche Rolle spielen wird. Die Bedeutung der Geschichte für unsere Beziehungen, aber ich glaube auch für ganz Europa, kann durch die ökonomische Krise nicht reduziert werden. Denn an und für sich ist das Wesen des Zusammenlebens von Völkern nicht das Buchhaltungswesen allein.

In Zeiten der Krise glauben viele, dass das Einzige, das wirklich diskussions- und überlegungswert ist, die Situation der Banken, das Defizit und die Höhe der Arbeitslosigkeit ist. Im Alltag der Bevölkerungen ist das wirklich etwas Außergewöhnliches. Aber bei der Gelegenheit ist es öfter so, dass manche Politiker, Philosophen und Historiker eine falsche Überzeugung aufbauen wollen, dass das Wesen der Europäischen Union darin liegt, dass die Menschen Wohlstand gesichert haben und die Finanzinstitute auch dadurch Stabilität bekommen. Wenn die Europäische Union weiter bestünde, nur um ein Garant für die ökonomische Stabilität zu sein, dann würde eine jede ökonomische Krise das eigentliche Wesen der Europäischen Union in Frage stellen.

Ich bin mit Ihrer Beschreibung der Persönlichkeit von Angela Merkel einverstanden, wenn Sie über die Werte schreiben, die der Frau Bundeskanzlerin vorschweben. Ich bin in doppelter Hinsicht damit einverstanden: Erstens. Für Angela Merkel ist die Freiheit angesichts ihrer politischen Biografie in der Tat der oberste Wert. Aber ich bin auch damit einverstanden, dass die Freiheit für eine Politikerin das Erstrangige sein sollte. Es ist für die Deutschen und die Polen natürlich notwendig gewesen, zuerst Freiheit zu erkämpfen, um eine gemeinsame Sprache sprechen zu können. Es ist auch kein Zufall, dass die Frau Bundeskanzlerin und ich sehr glücklich sind, dass gerade zu unserer Zeit diese Beziehung zwischen Deutschland und Polen besser ist als je zuvor. Aber das ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass wir es durch unsere Biografien sehr zu schätzen wissen, dass wir Freiheit wiedererlangt haben - Polen und auch Ostdeutschland.

Wenn ich höre, dass man jammert, sich beklagt und mit der Europäischen Union, der Währungsunion und dem Euro nicht zufrieden ist, dass man glaubt, das hätte sich nicht bewährt und wir seien Opfer einer Wirtschaftskrise geworden, dann sehe ich, dass es nicht alle einsehen, dass diese Aufgaben, die sich die Europäer gestellt haben, als sie die Europäische Union gegründet haben, natürlich viel wichtiger als die Finanzsituation der einzelnen Länder sind. Das klingt heute geradezu unwahrscheinlich. Denn eigentlich an jedem Tag wird uns eingeredet - fast alle sagen das -, dass es nichts Wichtigeres als die Statistiken gibt, die sich auf Wirtschaft und Finanzen beziehen.

Aber das Leben heute und das Leben unserer Vorfahren zeigt, dass große politische Projekte wie die Europäische Union Größenwerten dienen, in denen Freiheit an erster Stelle steht. Deshalb habe ich mit größter Freude diese Einladung angenommen. Denn es ist wieder eine Gelegenheit für uns beide zu bestätigen, dass es in Europa noch Politiker gibt, die an den Sinn der Freiheit mehr als an alles andere glauben.

Kornelius: Das führt mich sofort zu der Nachfrage, was denn dann das Versprechen sein soll, wenn es Wohlstand nicht ist. Freiheit ist ein abstraktes Versprechen. Offenbar spüren nicht sehr viele Menschen, dass dieser Freiheitswert Europas nun auch Wert hat. Wir erleben eine starke Welle von Ressentiments, die aufleben. Wie sehen Sie aus polnischer Sicht gerade das Thema Ressentiments? Die deutsch-polnische Geschichte ist damit beladen. Die Vergangenheitsbewältigung ist mitten im Gange. Wir hatten am letzten Wochenende des Aufstands im Ghetto gedacht. Das schürt nach wie vor viele Emotionen. Was ist Ihr Ratschlag gegen zu viel Emotionalität und vor allem zu viele Ressentiments?

MP Tusk: Ich habe den Eindruck, dass wir sehr stark protestieren müssen, wenn man sagt, Freiheit sei etwas Abstraktes. Gott sei Dank zeigt uns die Erfahrung Deutschlands aus kommunistischer Zeit oder aus der Zeit der DDR, also unsere gemeinsamen Erfahrungen, dass Freiheit nichts Abstraktes ist und das Leben der Völker und der einzelnen Menschen keinen Sinn macht, wenn wir Freiheit verlieren. Freiheit scheint etwas sehr Offensichtliches und so Selbstverständliches zu sein, dass es in einem freien Europa geradezu abstrakt ist. Aber gerade diese Zeit der Zweifel, in der wir jetzt leben, lässt uns mit größter Sensibilität und Entschlossenheit jeden Tag daran erinnern, dass die heute allgemeine und so leicht zugängliche Freiheit ein defizitärer Wert für ganze Generationen und einen Großteil der heutigen Europäischen Union war.

Sie haben den Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto erwähnt. Ich war bei der 70-Jahres-Feier zum Gedenken an den Ausbruch des Aufstandes im Warschauer Ghetto dabei. Alle waren sehr stark beeindruckt von den Worten von Kazik beziehungsweise Symcha Ratajzer-Rotem, der einer der Protagonisten des Aufstandes war. Dieser letzte überlebende Anführer des Aufstandes hat die Gräueltaten der Deutschen in Warschau und die Gleichgültigkeit der Polen beschrieben. Er hat zum Schluss etwas gesagt, das alle sehr erschüttert hat. Auf die Frage nach seinen tragischen Erlebnissen, seinen persönlichen Erfahrungen und denen seines Volkes hat er gesagt, das Wichtigste für ihn an dieser Tragödie sei, dass er in Israel eine Frau getroffen habe, die später seine Frau geworden sei, und er dann Kinder und Enkelkinder bekommen habe. Er hat gesagt, das einzig Wichtige sei, dass man Europa und die Welt vor einer nächsten Katastrophe schütze. Für die Politikerinnen und Politiker von heute dürfe es nichts Wichtigeres geben. Der Tragödie und der Opfer müsse auch gedacht werden, um die ganze Zeit daran zu denken, dass uns niemand für alle Zeiten weder Freiheit noch Frieden garantiert habe. - Dies ist sein Appell, dass niemand, der regiert, vergisst, dass Frieden das Wichtigste ist.

Diesen Appell werde ich bis an mein Lebensende in mir behalten. In meinen Ohren werde ich das immer hören. Jedes Signal, dass gefährliche Ideologien wieder aufkommen könnten - egal, was auch immer in Europa ist -, muss von uns sehr ernst genommen werden, so wie wir auch einen jeden Versuch sehr ernst nehmen müssen, dass Geschichte gefälscht werden könnte.

Ich bin überzeugt, dass es für das Europa von heute vielleicht die größte Herausforderung ist. Es gehen jetzt Generationen ins aktive Leben, ohne Erfahrungen aus dieser Zeit zu haben. Sie steigen in das Berufsleben ein. Paradoxerweise kann man in diesen Generationen diese Nationalismen wieder aufkeimen lassen. Das wäre das Schrecklichste für uns alle. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe nicht nur für die Deutschen, sondern für die Nachbarn. Ich glaube, Respekt vor der historischen Wahrheit und eine Sensibilität für solche Entwicklungen ist eine außergewöhnliche Herausforderung - auch für die Deutschen für heute.

Kornelius: Frau Bundeskanzlerin, die Deutschen reagieren auch ein Stück weit auf diese Spannungen, die in Europa zu spüren sind. Das heißt, es gibt Ressentiments, und das schürt möglicherweise Gegenressentiments. Das ist nicht unbedingt die Botschaft, die Sie mit der Krise verbinden und die Sie zu dämpfen versuchen. Das Thema Freiheit als tragendes Element für Europa ist Ihnen wichtig. Aber Sie tragen es auch nicht ständig vor sich her. Das heißt, Sie sind sehr sachorientiert in der Krise.

Heute ist ein Tag, an dem in Brüssel wieder einmal Zahlen veröffentlicht werden. Eurostat hat heute wieder einen Zahlentag. Wir werden wohl die neuen Defizit-Hausnummern mitgeteilt bekommen.

Gleichzeitig fühlen wir uns in der Krisenbewältigung wie in einer Zwischenphase. Das heißt, vermeintlich ist es unter Kontrolle. Wir hatten schlimmere Phasen erlebt. Aber im Kern ist das Thema noch nicht gelöst. Sehen Sie ein Problem darin, dass im Moment die Emotion die Rationalität überholt?

BK’in Merkel: Also wenn ich darf, würde ich gern noch auf einen Ihrer Sätze eingehen, Freiheit sei etwas Abstraktes. Ich muss ganz ehrlich sagen: Für mich war in den ersten 34 Jahren meines Lebens ein Großteil von Freiheit etwas Abstraktes. Da habe ich nämlich nur davon gelesen und mir irgendwie vorgestellt, wie es sein könnte. Seitdem ist Freiheit - Gott sei Dank - Realität.

Vielleicht ist es ganz gut, wenn man sich ab und zu daran erinnert, dass wir jetzt Gott sei Dank in Freiheit leben, obwohl natürlich jedes Mal neu definiert werden muss, was das für eine Freiheit ist und wie das mit Verantwortung zusammenhängt. Aber wir müssen in Europa eins nicht tun, nämlich uns jeden Tag darüber unterhalten, wie wir die Freiheit wiedergewinnen.

Wir streiten uns mit Leidenschaft und nächtelang um die Frage, ob wir 808 Milliarden Euro oder doch 821 Milliarden Euro für die nächsten sieben Jahre ausgeben. Aber wir streiten uns nicht, ob wir Menschen verschiedener Religionen verfolgen, ob wir freie Presse, Reisefreiheit oder Meinungsfreiheit haben, ob wir also sagen können, was wir wollen.

Das heißt, all das, was in weiten Teilen der Welt nicht Realität ist, ist für 500 Millionen Menschen in Europa Realität und glücklicherweise auch noch in anderen Teilen der Welt, wenn ich hier den Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika sehe. Aber für 7 Milliarden Menschen ist Freiheit in der Form, wie wir sie haben, nicht Realität. Das müssen wir bei allem, was wir zu bewältigen haben, immer wieder sehen.

Das ist noch nicht lange her. Es ist siebzig Jahre her, dass es den Aufstand im Warschauer Ghetto gab. Als unser Bundestagspräsident am Donnerstagfrüh daran erinnert hat und der polnische Botschafter auf der Ehrentribüne saß, ist uns noch einmal vor Augen geführt worden, wie wenig es - vor der Geschichte betrachtet - eigentlich her ist, dass so unglaubliche Sachen passiert sind. Deshalb ist es in unserem ganzen Tagesgeschäft unglaublich wichtig, sich daran zu erinnern, dass vor 25 Jahren Teile Europas - und die beiden, die hier sitzen - Freiheit ersehnt haben, in verschiedener Weise für sie eingetreten sind und sie vielleicht auch zuhause in der Familie erlebt haben.

Polen hat die großartige Erfahrung von Solidarność. Aber ansonsten hat man jeden Tag Menschen gesehen, die dafür ins Gefängnis gegangen sind, die ihren Beruf nicht ausüben konnten, die den ganzen Tag etwas machen mussten, was sie niemals machen wollten. - Das darf man nicht ganz vergessen. Davon können wir die Zukunft nicht bauen; aber man darf es nicht vergessen.

Worum geht es jetzt in Europa?

Es ist richtig: Wir sind in einer Zwischenphase. Ich glaube, in Europa – das ist jedenfalls das, was mich leitet – hatten wir diesen unglaublichen Erfolg des Endes des Kalten Krieges auch durch gute Verbündete und ein Einstehen für die Freiheit. Dann gab es Menschen, die schon das Buch vom Ende der Geschichte geschrieben hatten, weil sie glaubten, auf der Welt sei nun nichts mehr zu tun.

Das hat sich wie immer in der Geschichte als völlig irrsinnig erwiesen. Es hat sich schnell gezeigt – denken Sie an den Konflikt im westlichen Balkan -, dass selbst in Europa und heute an vielen anderen Stellen – Syrien, Afghanistan, wir können das alles aufzählen – wieder viel zu tun ist und ganz neue Herausforderungen zu bewältigen sind. Boston hat uns ja jetzt am Wochenende in Atem gehalten.

Worum geht es? Es geht jetzt auf der einen Seite darum, dass wir dieses europäische Einigungswerk einigermaßen voranbringen. Dann geht es darum, dass sich eine Welt massiv ändert, dass viel mehr Menschen Freiheit atmen und auch so gut wie wir Europäer leben wollen. Ich glaube, wir Europäer stehen jetzt an der entscheidenden Stelle, wie wir - sagen wir einmal - die nächsten 50 oder 100 Jahre dastehen: Können wir unseren Wohlstand verbessern oder aber fallen wir zurück? - Darüber wird sich der Rest der Welt nicht fürchterlich aufregen, wenn wir uns darüber nicht aufregen. Der Rest der Welt regt sich darüber nicht auf.

Ein amerikanischer Investor ist natürlich vor allen Dingen erst einmal daran interessiert, aus der Eurokrise sein Geld zurückzubekommen. Das ist okay. Aber mein Interesse geht darüber hinaus: Ich würde gern ein zuverlässiger Zahler sein. Ja, ich möchte, dass Europa alle seine Staatsanleihen auch wieder zurückzahlen kann. Aber ich möchte außerdem - und das ist nicht das Interesse eines Investors, der für zehn oder zwanzig Jahre sein Geld anlegt -, dass Europa in zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren auch noch vorne mit dabei ist. Da sehe ich Chinesen, die sagen: „Unser letzter großer historischer Erfolg war im 10. Jahrhundert. Daran wollen wir wieder anknüpfen. Damals waren wir führend in Mathematik. Damals waren wir führend in der Seefahrt. Das muss uns im 21. Jahrhundert wieder gelungen.“ - Darauf sage ich: „Okay. Den Wettbewerb nehme ich auf. Aber ich möchte dabei sein.“

Wir Europäer haben uns manchmal daran gewöhnt, dass wir seit der Aufklärung irgendwie vorneweg sind. Dann haben wir uns damit abgefunden, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Amerikaner auf den Plan getreten sind. Seitdem denken wir, wir haben einen Rechtsanspruch auf führende Leistungen in der Welt. Den haben wir nicht. Das ist das, was im Ganzen steht.

Da sage ich: Mein Gott, wir sind so reich, wir sind so fähig, wir haben so viel Gutes aus der Geschichte erlebt. Es muss uns doch gelingen, auf diese und jene bürokratische Regelung zu verzichten oder diese und jene Arbeitsmarktänderung zu machen und dann wieder vorne mit dabei zu sein.

Kornelius: Gehen Sie so weit, dass Sie Sorge um die Freiheit haben, wenn sich der Fortschritt nicht kontinuierlich weiter entwickelt, also wenn diese Dynamik sich verstärkt?

BK’in Merkel: Wir müssen ja beide arbeiten. Deshalb lasse ich mich jetzt nicht von Sorgen leiten.

Interessant ist, dass natürlich die Ressentiments der Vergangenheit unglaublich schnell wieder erscheinen. Wir haben das auf dem westlichen Balkan erlebt, als die Krise kam. Plötzlich waren die Franzosen mit den Serben, die Deutschen mit den Kroaten; jeder war wieder da, wo er im ersten Weltkrieg schon einmal stand. Man musste unglaublich viel Kraft aufwenden, um Europa dann mit Hilfe der Vereinigten Staaten - Madeleine Albright - zu einem gemeinsamen Handeln zu bringen.

Jetzt ist es wieder so, dass ich oft gehört habe: Die Franzosen sind so. Die Italiener sind so. Die Deutschen sind sowieso so und die Polen auch. – Dagegen muss man angehen. Europa bedeutet doch gerade, dass es nicht „die Deutschen“, „die Polen“ und „die Griechen“ gibt, sondern es gibt in jedem Land - in Griechenland und in Deutschland - Faule und Fleißige, so Denkende und so Denkende. Jeder Mensch zählt. Das ist das Grundversprechen der europäischen Einigung. Die Würde des Einzelnen ist unantastbar. Es gibt keine Gruppenschuldzuweisungen, und es gibt keine Verdächtigungen und Generalverdächtigungen.

Wenn wir da wieder sind - und da ist man ganz schnell -, dann wird es kritisch. Deshalb versuchen wir beide – jedenfalls, soweit ich uns erlebt habe - und viele andere, dagegen anzugehen. Nur deshalb sind wir da, wo wir heute sind, weil wir das nicht zulassen. Das kann ich für alle 27 Regierungschefs sagen. Selbst wenn es noch so schwer ist für einige unserer europäischen Kollegen - im Augenblick für den griechischen Regierungschef, den portugiesischen und den irischen -, niemand darf wieder in diese Pauschaldinge hinein verfallen. Das ist ganz wichtig.

Kornelius: Herr Ministerpräsident, es gibt ja nicht nur Regierungschefs, sondern auch Menschen in diesen Ländern, die vielleicht nicht so viel Zeit und Rationalität darauf verwenden, die Krise zu durchdenken und sich von diesen Ressentiments zu verabschieden oder zumindest zu distanzieren. Sehen Sie eine Dynamik, die gefährlich ist? Was muss man auf breiterer Front tun? - Wir sehen ein starkes Wiederaufflammen, Aufleben, von sehr antideutschen Klischees. Das wird in diesem Land hingenommen, aber wahrscheinlich nicht gerade besonders erfreut gesehen. Dann hatten wir das Aufleben populistischer Parteien. Ihr Land hat selbst in den Jahren nach der Wende starke politische Strömungen erlebt. Was ist Ihr Ratschlag, um das zur Vernunft zu leiten?

MP Tusk: Erstens wäre es gut, wenn man sich daran erinnerte, dass es in unserer gemeinsamen Geschichte einige Momente gab, anhand derer man sieht, wie dynamisch die Situation in diesem Teil der Welt sein kann. Als ich 2007 Premierminister wurde, war eine der ersten Entscheidungen oder Projekte mit dem damaligen tschechischen Premierminister Topolánek die Liquidierung der eigentlichen Grenze, der Schlagbäume an dieser Grenze zwischen unseren Ländern Tschechien, Polen und Deutschland. Wir wollten damals wirklich den Schengen-Raum voll einrichten. Ich stand damals neben Angela Merkel und war mir bewusst, dass etwas Außergewöhnliches passiert. Ich habe mir gedacht: Ja, sie ist ja die Enkelin eines Danziger Gymnasialdirektors, und ich bin der Enkel eines Eisenbahners aus Danzig, und die waren vor dem Krieg eigentlich Nachbarn. Als der Großvater von Angela Merkel damals am Gymnasium unterrichtet hat und mein Vater seine Arbeit bei der Eisenbahn in Danzig aufgenommen hat, konnte niemand vermuten und ahnen, dass diese geliebte Stadt Danzig in einigen Jahren einfach zu existieren aufhören würde. Sie hat ja zu existieren aufgehört.

Wir haben damals beide diese Teilung Europas aufgehoben. In diesem Moment haben wir wirklich das Recht und den Anspruch auf Optimismus in Bezug darauf gehabt, dass da wirklich etwas sehr Positives vollzogen wird.

Aber jetzt höre ich mancherorts, dass es mit Bulgarien und Rumänien zu schnell gegangen ist. Für Griechenland und Zypern soll es keinen Platz in der Währungsunion geben. Ab und zu hören wir vor Ort von der Notwendigkeit, dass ein exklusiver Klub im Rahmen der EU eingerichtet werden soll. Dazu muss ich sagen: Solche Momente, in denen man sieht, dass die Geschichte eine neue Dynamik annimmt, die man nicht voraussehen konnte, haben wirklich eine Schlüsselbedeutung. In diesen Momenten wird das Verantwortungsbewusstsein zu einer Schlüsselsache.

Als ich das Buch über die Frau Bundeskanzlerin gelesen habe, habe ich mir gedacht, was aus der Sicht Deutschlands oder aus europäischer Sicht das Schlüsselwort sein sollte. Ich glaube, das Wort Verantwortung ist das wichtigste Wort für heute. Wenn wir diese Emotionen berücksichtigen, die es heute in Europa gibt, dann würde ich die Frage der Populisten oder Nationalisten, die es ja überall und in jedem europäischen Land gibt, vielleicht am Rande liegen lassen. Vielmehr würde ich auf das hinweisen, was in den Herzen und Köpfen der einfachen Menschen passiert, nicht in den Köpfen der engagierten Radikalen. Ich glaube, ausnahmslos alle in Europa warten nicht auf die Führung nur eines Volkes, umso mehr, wenn man von der Notwendigkeit der Führung in Europa spricht. Wir haben es auch heute schon gehört: Alle schauen auf Deutschland, dem größten Staat mit der größten Erfolgswirtschaft, der geradezu dazu veranlagt ist, diese Führung in Europa anzustreben. Aber Europa braucht heute Verantwortung in der Politik. Das, was heute bei so manchem für Unruhe sorgt, ist die Tatsache, dass Politiker allzu oft sagen, dass es notwendig sei, jemandem seinen Willen aufzuzwingen. Zu selten wird von der gemeinsamen Verantwortung für das gemeinsame europäische Projekt gesprochen.

Die Position Deutschlands sollte heute, wie ich das Wesen der EU verstehe - ich glaube, das ist nicht nur meine Einschätzung -, auf drei Pfeilern aufgebaut werden. Dabei geht es um die Freiheit, die wir erwähnt haben, um die Verantwortung - die Protagonistin des Buches verkörpert ja geradezu die Verantwortung in der Politik; ich werde dazu gleich noch einen Satz sagen - und um die Solidarität. Das ist sozusagen diese polnische oder Danziger Erfindung, die in Europa zu diesem dritten Pfeiler werden sollte.

Ich glaube, dass die Herkunft Angela Merkels und diese Tradition, die ich sehr gut kenne - wir konnten ja in Ihrem Buch auch lesen, dass es eine Tradition des Kennenlernens von Elbing und von Danzig gibt, von Elbląg und von Gdańsk, also jener Städte, die ein Symbol für Verantwortung und positives Denken sind -, in ihr eine Politikerin erkennen lässt, die die Chance hat, ein Modell der Mitverantwortung für Europa herzustellen, ohne dass ideologische Ansprüche gestellt werden. Ich glaube, das Faszinierendste an der politischen Persönlichkeit Angela Merkel und auch an vielen anderen Politikern der Vergangenheit ist das, was manche Autoren als Postpolitik bezeichnen. Die größten Tugenden, nämlich gesunder Menschenverstand und Verantwortung, sind dabei vor allen Dingen herauszuheben.

Ich höre manchmal auch gegen mich gerichtete Vorwürfe, dass uns in Polen große Ideen fehlten. Aber ich glaube, die größte Chance für Europa verbirgt sich heute in den Politikerpersonen, die nicht die Versuchung verspüren, auf Ideologien zu verweisen oder neue aufzubauen. Denn Ideologie und Führung bedeutet immer etwas Unglückliches. Verantwortung, Solidarität und Führung bedeuten Chancen für Europa. Deshalb sind die Fundamente der politischen Aktivitäten von Angela Merkel und die wichtigsten bewussten Ausrichtungen - wir kennen uns schon so lange, dass ich das auch völlig bewusst sagen kann -, von der Ideologie abzugehen und vernünftig Politik zu machen. Das ist die beste Antwort auf die Ressentiments, auf die Rückkehr von Nationalismen in verschiedenen europäischen Ländern und auf allzu große Emotionen, die heute in der europäischen Politik entstehen.

Kornelius: Frau Bundeskanzlerin, bevor Sie zu sehr gelobt werden, wollte ich auf den dritten Pfeiler zu sprechen kommen, die Solidarität. Die definiert sich ja aus Sicht der Krisenstaaten auch dadurch, inwieweit Deutschland bereit ist, das strenge Reglement aus Anreiz und Belohnung zu lockern, gerade dann, wenn, wie heute, die neuen Zahlen kommen. Es geht um das Thema Austerität. Es geht darum, was der richtige Rettungsmix sein wird, um die Ökonomien gerade im Süden tatsächlich wieder in Gang zu setzen.

Nun stehen Sie - berechtigter- oder unberechtigterweise - in diesen Ländern eben in dem Ruf, dass Deutschland mit Ihnen an der Spitze diese Austeritätsschraube zu stark angezogen hat, sodass der Mix nicht mehr stimmt. Ich weiß, dass Sie die Rettungslogik schon sehr oft verteidigt haben, und Sie werden das jetzt wahrscheinlich auch wieder tun, aber vielleicht können Sie mit Blick auf die jetzige Situation doch noch einmal auf dieses Thema eingehen. Wir haben es ja mit einer so hohen Zahl von Ländern in so einer Krisensituation zu tun, wie es möglicherweise einmalig ist. Vielleicht funktioniert das bei einem Land, und vielleicht funktioniert das bei zwei Ländern. Haben Sie manchmal Zweifel daran, dass das auch bei zehn Ländern funktionieren kann?

BK’in Merkel: Ich möchte dazu zwei Dinge sagen. Das eine betrifft die deutsche Erfahrung. Die deutsche Erfahrung ist ja gar nicht meine persönliche, sondern die habe ich, nachdem ich aktiver Bundesbürger geworden bin, also nach der deutschen Einheit, erzählt bekommen. Interessanterweise ist die Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis Mitte der Sechzigerjahre ohne Schulden ausgekommen. Man hat das ausgegeben, was man hatte, und hat damit den gesamten Nachkriegswiederaufbau geschafft. Dann hat man sich in der damaligen ersten Großen Koalition und auch in der darauf folgenden sozialliberalen Koalition gesagt: „Das Wichtigste ist das Wachstum. Dem Wachstum müssen wir alles unterordnen. Dabei ist es auch nicht so schlimm, wenn man einmal ein paar Schulden macht.“ Dann hat man Schulden gemacht und gesagt: „Okay, das heizt die Inflation an, aber wenn es ein paar Prozent Inflation sind, dann ist das auch nicht so schlimm. Hauptsache, keine Arbeitslosigkeit und Wachstum!“ Zum Schluss hat man dann 5 Prozent Inflation und 6 Prozent Arbeitslosigkeit gehabt.

Dann hat man gesagt „Okay, wir haben schwierige Zeiten“, und man hat das Ganze so weit getrieben, bis es nicht mehr ging. Dann hat man versucht, wieder etwas solidere Finanzen einzuführen. Dann kam die deutsche Einheit. Dann hat man wieder Geld ausgegeben, und das war - davon habe ich ja profitiert, und nicht nur ich - auch in Ordnung.

Dann hat man es wieder versucht - wir in der Großen Koalition, zusammen mit Herrn Steinbrück -, und wir wären fast wieder an dem Punkt gewesen, dass wir in Deutschland einmal keine Schulden gemacht hätten. Wir haben also nichts zurückgezahlt, wie man es eigentlich tun wollte; nachdem man Wachstum hatte, wollte man ja immer etwas zurückzahlen. Nein, wir haben es gerade einmal geschafft, vielleicht ein Jahr lang davon zu leben, dass wir nur das ausgeben, was wir einnehmen.

Dann kam die große internationale Finanzkrise. Man hat gesagt „Jetzt dürfen wir uns wirklich nicht lumpen lassen“, wir haben große Konjunkturprogramme aufgelegt, und dann hatte man einen Haushalt mit einer Neuverschuldung in Höhe von fast 80 Milliarden Euro bei 300 Milliarden Euro an Ausgaben; das ist ja kein Pappenstiel. So haben es alle gemacht. Damit haben wir diesen großen Wirtschaftseinbruch fürs erste auch gestemmt. Aber danach kamen die Investoren und haben - ich habe das vorher gewusst - gesagt: Ach, das sind ja schöne Konjunkturprogramme. Aber können die Länder eine so hohe Verschuldung überhaupt zurückzahlen?

Dann kam der Tag des griechischen Defizits. Zuerst sah es noch so aus, als wenn wir mit 9 Prozent Defizit davonkommen würden. Dann waren es 13,7 Prozent. Da hat jeder gesagt: Diesem Land können wir doch unter gar keinen Umständen mehr Geld leihen. Also hat man gesagt: Wir müssen sparen.

Dann kam das Wort Austerität zum ersten Mal auf. Bis dahin hieß das „Sparen“ oder „Konsolidieren“ oder „ausgeglichene Haushalte“, und jetzt heißt es Austerität. Das hört sich ja schon so richtig wie etwas ganz Böses an. Dann habe ja gar nicht ich die Dinge gemacht, sondern es kamen die internationalen Investoren, die gesagt haben: Wenn ihr so viele Schulden macht, dann kaufen wir eure Staatsanleihen nicht mehr. Daraufhin ist die Troika gekommen, und ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir das nicht innereuropäisch machen, weil ich gesagt habe, dass man uns weltweit sowieso nicht glauben wird. Also ist der IWF mit dazu gebeten worden. Die haben jetzt als Troika die ganzen Programme für die Länder gemacht.

Nun heißt es, Deutschland war es. Okay, wenn es hilft, warum nicht? Aber wir müssen schauen, wie wir den Pfad zur Beantwortung der Frage „Wie viel Verschuldung und wie viel Wachstum?“ so gestalten, dass uns jemand auf der Welt noch Geld leiht und unsere Staatsanleihen kauft. Denn sonst müssten wir die innereuropäisch kaufen, und damit übernähme sich dann auch Deutschland.

Jetzt sagt man: Na gut, zum Beispiel Japan hat auch eine Verschuldung in Höhe von 240 Prozent. Wo ist der Unterschied? – Die Japaner glauben offensichtlich so an ihr Land, dass sie fast alle Staatsanleihen selbst kaufen. In Europa ist das leider nicht passiert. Die Italiener hatten früher einen viel größeren eigenen Teil an Staatsanleihen gehalten. Als aber die Krise kam, haben sie sich entschieden, ihr Geld doch lieber woandershin zu schaffen und weniger Staatsanleihen zu kaufen. Der reiche beziehungsweise wohlhabende europäische Mensch oder die reiche beziehungsweise wohlhabende europäische Institution halten ihre eigenen Staatsanleihen nur dann, wenn sie wissen, dass auch der amerikanische und außereuropäische Investor in Europa investiert. Sonst schafft auch der Europäer sein Geld nach Singapur.

Wenn das so ist, dann müssen wir jetzt einen Weg dafür finden, dass wir Wachstum haben und gleichzeitig unsere Haushalte so solide machen, dass wir unsere Staatsanleihen weiterhin bedienen können. Jetzt reden wir bei der Austerität ja nicht darüber, dass wir Rückzahlungen leisten. Es geht um ein Defizit von 5 Prozent oder von 4 Prozent, von 6 Prozent oder von 3 Prozent. Selbst die Bundesrepublik, der Musterknabe, hat ja noch keinen ausgeglichenen Haushalt. Das heißt, Austerität bedeutet, nicht 9 Prozent Schulden zu machen, sondern 5 oder 6 Prozent.

Kornelius: Aber das ist jetzt erlaubt!

BK’in Merkel: Das ist ja zum Teil die Realität. – Jetzt ist die Frage: Wo entsteht Wachstum? Das ist doch die Chimäre, über die wir diskutieren. Ich weiß nicht, wie Donald das sieht, aber Wachstum ist so etwas wie eine Fata Morgana geworden. Wachstum entsteht ja nicht nur aus Sparen - ich bin überhaupt nicht dafür, dass nur gespart wird -, sondern Wachstum entsteht aus Strukturreformen - das ist doch unsere deutsche Erfahrung -, aus Lösungen in Bezug auf das Arbeitsrecht, aus weniger Bürokratie - für Deutschland bedeutet das sicherlich auch die Aufforderung, einen Dienstleistungsbinnenmarkt zu haben - und aus einem IT-Markt, den wir gemeinsam machen.

Wir sind - ich sage es immer wieder - ein Kontinent mit 8 Prozent der Einwohnern, 25 Prozent der Wirtschaftsleistung, wenn es gut läuft, und 50 Prozent der Sozialleistungen der Welt. Wenn wir diese Sozialleistungen erhalten wollen, dann müssen wir kreativer werden, innovativer werden. Wenn man das nicht glaubt, dann werden wir zurückfallen; davon bin ich zutiefst überzeugt.

Deshalb bin ich überhaupt nicht die Frau, die immer sagt: Man muss nur sparen. Aber wenn heute 7 Millionen junge Europäer arbeitslos sind und wenn man irgendwie nur nach dem Staat ruft und sagt „Ihr müsst das mit Staatsprogrammen schaffen“, dann kann das nicht gut gehen. Davon bin ich zu 100 Prozent überzeugt. Dann muss man einmal überlegen, wie man einfachere Firmengründungen möglich macht oder wie man flexiblere Arbeitsregelungen möglich macht. All diese Dinge sind ja zum Teil auch geschehen, und man sieht zum Beispiel an Irland, dass das dann auch Erfolg hat.

Kornelius: Herr Ministerpräsident, warum ist diese Botschaft so schwer zu vermitteln? Warum kommt sie in Krisenländern so schwer an? Auch Polen ist nach 1989 durch mindestens zwei große Wirtschaftskrisen gegangen, glaube ich. Warum ist diese Botschaft so schwer zu vermitteln?

MP Tusk: Es gibt ja in Zeiten der Krise nicht die eine Botschaft. Wir haben eben seitens der Frau Bundeskanzlerin eher ein Bedauern darüber gehört, dass in Europa immer noch unterschiedliche Rezepte funktionieren. Wenn wir uns heute beispielsweise ein sehr kultiviertes Streitgespräch voller Respekt zwischen Berlin und Paris anschauen, was so manche Aspekte der Krise in der Währungsunion anbelangt, dann sehen wir sehr deutlich, dass auch zwischen so eng verknüpften Ländern wie Deutschland und Frankreich sehr deutliche und fundamentale Unterschiede vorhanden sind, was das Erkennen der Quellen dieser Krise und der Rezepte gegen die Krise anbelangt. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass Europa es in der nächsten Zeit als Ganzes anerkennen wird, dass es nur eine verbindliche Botschaft gibt.

Ich sage noch mehr: Ich bin kein Spezialist für die internen Diskussionen, die Sie hier in Deutschland darüber führen, aber bei vielen Treffen mit verschiedenen Akteuren der deutschen politischen Landschaft habe ich gelernt, dass es auch in Deutschland unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wie gegen die Krise vorzugehen ist. Obwohl heute die Diskussionen zwischen der herkömmlichen Rechten und Linken nicht mehr so scharf ausfallen wie früher, mobilisiert diese Debatte unter dem Stichwort Wachstum oder Einsparungen nicht zufällig auf der Wachstumsseite die Linke und auf der Einsparungsseite die Rechte. Das ist nicht nur eine effektvolle Teilung Nord-Süd - effektvoll, aber nicht ganz richtig. Wir können uns doch aus den letzten Jahrzehnten in Europa erinnern, wo oft im Norden klassisch sozialdemokratische wirtschaftliche Ansichten dominiert haben, und wir können uns auch noch erinnern, dass im Osten und im Süden eine finanziell disziplinierte Rechte erfolgreich war. Es macht den Eindruck, dass es eine gefährliche Falle ist, wenn wir die Ansicht vertreten, dass Deutschland unter Angela Merkel ein Rezept ausgearbeitet hat, das für alle annehmbar ist. Ich glaube, es wäre schlecht für Deutschland selbst, wenn in Berlin jetzt die Irritation darüber zunehmen würde, dass nicht alle diese Sichtweise angenommen haben.

Ich sage das ganz offen, weil wir gerade bei uns in Polen kein Problem damit haben. Wenn ich mir anschaue, was wir in Bezug auf die Verschuldungsgrenze bei der öffentlichen Verschuldung in der Verfassung stehen haben, dann stelle ich fest, dass es da auch um die Bestimmungen bezüglich der Bankenaufsicht geht. Wir sind diesbezüglich ein Beispiel, das für viele Länder der EU beschämend sein könnte, weil wir das alles in der Verfassung verankert haben. Fast alle Phänomene der Krise, die wir in Polen haben, sind von außen importierte Sachen, und es gibt keinen polnischen Grund der Krise, der uns betreffen würde - insbesondere, was Arbeitslosigkeit anbelangt. Ich bin aber weit entfernt von der Behauptung, dass, wenn wir in Polen verschiedene Institutionen und verschiedene Bestimmungen der Verfassung stehen haben, diese auch für alle anderen Länder verbindlich sein sollten. Ich kann keineswegs behaupten, dass wir hier ein Patent haben, das richtig für alle ist.

Wenn wir von Verantwortung und Solidarität als den einzigen Alternativen angesichts einer schlechten Geschichte sprechen, wenn wir darüber sprechen, welche Rolle Deutschland im heutigen Europa zu spielen hat, und wir wissen, dass es keine Wiederholung der Geschichte geben kann, dann heißt das, dass diese Position Deutschlands lediglich auf Verantwortung und Solidarität adäquat gegenüber dem deutschen Potenzial in Europa - auch dem intellektuellen und dem politischen Potenzial, nicht nur dem wirtschaftlichen oder Bevölkerungspotenzial - aufgebaut werden, und nicht auf einem Zwang. Natürlich heißt „Verantwortung und Solidarität“ in einer Krise wie der, mit der wir es zu tun haben, dass von vielen deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern eine Art von Verpflichtung akzeptiert werden muss.

Zum Schluss noch eine Anmerkung auch für die Zukunft - es ist vielleicht nicht elegant, wenn ich das im Sitz einer Bank sage; danach werde ich in Polen aber oft gefragt -: Es macht den Eindruck, dass sich diese Verschuldungsprobleme - auch die Probleme von so manchen Ländern des Südens - nicht nur daraus ergeben, dass sich da jemand zu viel Geld ausgeliehen hat und dann nicht in der Lage war, es wieder zurückzuzahlen, sondern auch deshalb, weil es Banken, Finanzinstitute und Staaten gegeben hat, die bereit waren, dieses Geld zur Verfügung zu stellen, obwohl seit Jahren schon sichtbar war, dass das keine gesunde Sache ist, die für Garantien sorgt. Wenn eine Bank Kredite einräumt, ohne Rückzahlungsgarantien zu haben, dann glaube ich, dass beide Seiten da in einem Spiel beteiligt sind, das langfristig gesehen verantwortungslos ist. Deshalb sollten wir nach meiner Einschätzung um jeden Preis nach Lösungen suchen, die für alle Akteure dieser europäischen Debatte akzeptabel wären; ansonsten werden wir auf Widerstand stoßen. Ich glaube, die Frau Bundeskanzlerin ist leider ein häufiges Opfer dieses Widerstandes, der manchmal auch aggressiv ist. In den heutigen Strukturen der Europäischen Union gibt es aber kein politisches Modell und wird es auch kein politisches Modell geben, das zur Folge hat, dass sich jemand in Berlin oder Paris ein Rezept ausdenkt, das dann für alle ohne Ausnahme verbindlich ist.

Kornelius: Ich finde sehr interessant, wie Sie auf das politische Modell, auf das ökonomische Modell abheben, denn Polen kann sich ja durchaus auch mit dem deutschen Modell identifizieren - wenn wir auf die Zahlen schauen, sehen wir, dass wir ein vergleichbares System haben. Das, woran Sie seit Monaten arbeiten, Frau Bundeskanzlerin, ist tatsächlich zumindest die Herstellung eines Konsenses, was denn ein europäisches Modell sein könnte. Der Dezember-Rat ist diesbezüglich auf der Suche nach einem Weg nicht sehr erfolgreich gewesen; jetzt steht im Juni der nächste Rat vor der Tür. Ich weiß auch nicht, ob das der ganz große Wurf werden wird; zumindest höre ich noch nicht viel. Wo stehen wir denn? Haben wir dann einen großen Wettbewerb im Kern um die europäische Wirtschaftsordnung, um die Vorstellung, wie Ökonomien funktionieren, wie sie bemessen werden und was die Parameter sind, mit denen wir das festlegen?

BK’in Merkel: Es ist ja so - und das zeigt sich auch in dieser Krise, gerade im Raum der gemeinsamen Währung -, dass wir auf der einen Seite alle ganz unterschiedliche Kulturen, ganz unterschiedliche Wirtschaftsmodelle und auch ganz unterschiedliche Stärken haben, dass wir an manchen Stellen eben auch Fehlentwicklungen hatten - ich denke da an einige Blasen, zum Beispiel im Immobilienbereich in Spanien -, dass wir eine Antwort bis jetzt aber schuldig geblieben sind. Wir haben eine Antwort gefunden bezüglich unserer Haushalte, indem wir einen Fiskalpakt abgeschlossen haben, wir haben eine Antwort gefunden, indem wir jetzt eine gemeinsame Bankenaufsicht darstellen - da fehlen aber noch etliche Elemente -, wir haben aber noch keine Antwort auf die Frage gefunden, ob wir eigentlich bereit sind, uns innerhalb des gemeinsamen Währungsgebietes jetzt erst einmal auch auf gemeinsame ökonomische Parameter zu einigen. Es geht also darum, ob wir sagen: Wir glauben, wir können erfolgreich sein und unseren Wohlstand dann am besten garantieren, wenn wir eine bestimmte Summe für Forschung ausgeben, wenn wir bestimmte Anteile unseres Budgets investieren und nicht konsumieren und wenn wir eine bestimmte Leistungsfähigkeit auch unserer Institutionen - zum Beispiel der Steuerbehörden - haben.

Erstaunlicherweise finden wir immer dann gemeinsame Lösungen, wenn wir ganz nah am Abgrund stehen, und das haben wir ja in den letzten Jahren sehr oft getan. Aber sobald der Druck ein bisschen weg ist, ist dieser nationale Wunsch - „Wir wollen selber bestimmen, wie wir unseren Weg gehen“ - wieder so dominant, dass er aus meiner Sicht noch nicht zusammengeht mit den vielen Vorteilen, die wir aus der gemeinsamen Währung haben. Das heißt, man muss nicht alles nach Europa abgeben, aber man muss sich verabreden, so wie wir das in Deutschland aus den Bundesländern kennen. Zum Beispiel haben sich die für Schule zuständigen Minister in Deutschland jetzt endlich geeinigt, dass es möglich ist, von einem Land in ein anderes umzuziehen, ohne dass man gleich ein ganzes Schuljahr wiederholen muss. Das hat in Deutschland auch 60 Jahre gedauert, ehe man auf so etwas Interessantes gekommen ist. Aber immerhin, man schafft es.

So muss sich auch Europa in bestimmten Fragen koordinieren. Nicht jeder muss das Gleiche machen, aber es kann nicht sein, dass der eine für Forschung gar nichts ausgibt, und der andere gibt für Forschung - wie Schweden oder Finnland - 3,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts aus, und zum Schluss wundert man sich, dass das eine Land erfolgreich ist und das andere nicht. Wir müssen auch von den besten Methoden lernen, zum Beispiel in der Frage „Wie bekämpfe ich Jugendarbeitslosigkeit?“. Es muss doch nicht jeder das alles noch einmal machen, sondern da kann man doch gucken und sieht: Schweden ist erfolgreich, Finnland ist erfolgreich, Österreich ist erfolgreich, die Niederlande sind erfolgreich, Deutschland ist erfolgreich - es ist ja gar nicht immer Deutschland.

Die Deutschen müssen auch offener werden, was die Dienstleistungen anbelangt. Ich muss mir einen gemeinsamen Arbeitsmarkt schaffen. Was muss ich dafür tun? Ich muss bereit sein, meine eigenen sozialen Sicherungssysteme nicht abzuschaffen, aber sie kompatibel mit den sozialen Sicherungssystemen eines anderen Staats zu machen, damit zum Beispiel ein junger Spanier fünf Jahre in Deutschland arbeiten kann, hier seine Rentenansprüche aufbauen kann, nach fünf Jahren nach Frankreich gehen kann und nach weiteren fünf Jahren wieder zurück nach Spanien gehen kann, ohne dass ihn die Unterschiede in den sozialen Sicherungssysteme daran hindern.

Fragen Sie einmal Studenten nach dem Bologna-Prozess. Das war so schön gedacht: Man bekommt überall einen Abschluss und dann kann in ganz Europa studieren, und schon ergibt sich eine wunderbare Studienbiografie. Wenn Sie sich die Details einmal genau anschauen, dann sehen Sie, dass das ein einziges Chaos ist - dies wird nicht anerkannt, jenes wird nicht anerkannt, das muss noch einmal nachgemacht werden.

Das heißt, wenn wir eine gemeinsame Währung haben wollen, wenn wir ein gemeinsames Europa sein wollen, müssen wir bereit sein, auch einige unserer liebgewonnenen Gewohnheiten abzugeben. Deutschland war schuld, dass Eurostat viele Dinge nicht erheben konnte. Warum? Weil wir gesagt haben: Wir haben ein Statistisches Bundesamt, da macht uns keiner etwas vor. Wir haben nur übersehen, dass dann jeder sozusagen sein Statistisches Bundesamt hatte und dass zum Schluss die Zahlen nicht stimmten. Das heißt also, wir müssen bereit sein, auch da zu akzeptieren, dass zum Schluss Europa das letzte Wort in bestimmten Sachen hat. Ansonsten kann man dieses Europa nicht weiter aufbauen.

Das ist unendlich schwer. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Investoren der Zukunft und dass auch die Außenwelt wissen wollen - die Politik, Amerika, Indien, China; alle wollen das wissen -: „Wie geht denn das weiter mit eurer gemeinsamen Währung, was habt ihr denn vor? Wollt ihr euch noch weiter annähern oder will weiter jeder seine eigene Kultur pflegen?“ Das können wir nicht mehr so einfach; vielmehr müssen wir auch ein Stück über unseren eigenen Schatten springen. Dazu bin ich bereit.

Kornelius: Der eigene Schatten heißt ja Souveränität, und die Frage ist eben, was die Nation regelt und was die Nation nicht mehr regeln kann.

BK’in Merkel: Oder wo die Nation sich in eine Abmachung mit anderen Nationen begibt und man sich verpflichtet - das kann auch sein. Man muss nicht gleich alles abgeben.

Kornelius: Per Vertrag und nicht per Souveränitätsübertragung?

BK’in Merkel: Ja, per Vertrag, und damit gebe ich natürlich auch ein Stück Souveränität ab, weil ich bereit bin, mit Blick auf das Ganze bestimmte Verhaltensweise einzuhalten. Das braucht man, das wird nicht anders gehen.

Kornelius: Herr Ministerpräsident, wenn Polen nach wie vor den Wunsch hegt, in die Eurozone einzutreten - Ihre ökonomischen Daten sprächen ja dafür -: Was macht denn diesen Euro noch so attraktiv und wie erklären Sie das Ihrer souveränen Nation?

MP Tusk: Sein wir doch ehrlich in diesem Gespräch - diese Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit muss in meinem Fall heißen, dass heute der Euro in Polen nicht so populär ist, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war. Natürlich protestiere ich in Polen und auch in Europa öffentlich gegen die falsche These, dass die gemeinsame Währung die Quelle der Krise ist. Das ist absolut nicht richtig. Ich glaube, man muss nicht unbedingt ein sehr guter Ökonom oder Politiker sein um das zu verstehen. Es ist in der Tat so, dass sich diese Krise als globale, weltweite Herausforderung herausgestellt hat und dass sich die Eurozone mit ihren Integrationsausmaßen und mit Funktionsweise als nicht gerüstet für diese Krise entpuppt hat. Das heißt aber nicht, dass wir den Sinn der Integration und den Sinn der gemeinsamen Währung ausräumen sollten. Ich würde vielmehr sagen: Diese Krise zeigt gerade, welch großer Wert sich hinter der Integration verbirgt, und die wahre Antwort auf die Krise sollte mehr Integration, mehr Entschlossenheit und auch der Glaube daran sein, dass wir in dieser gemeinsamen Währung all die Eigenschaften, die uns am Anfang vorschwebten, verkörpern sollten.

Die Ängste, die Befürchtungen in Polen sind aber auch verständlich. Ich meine damit aber nicht Befürchtungen in den politischen Eliten; denn wir sind entschlossen, Polen so schnell wie möglich vorzubereiten und in die Eurozone einzuführen. Die Ängste bestehen vielmehr in einem großen Teil der Öffentlichkeit, genauer gesagt in der Mehrheit der Bevölkerung heute. Diese Befürchtungen ergeben sich aus gewissen Unruhen darüber, was heute in der Eurozone passiert. Hinzu kommt noch die Angst - auch verständlich -, dass der Euro-Beitritt angesichts der immer noch großen Unterschiede zwischen Polen und Deutschland oder Polen und Frankreich, was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt, vielleicht auch eine individuell gefährliche Erfahrung für die einzelnen Menschen in Polen sein könnte.

Deshalb wollen wir auch kein präzises Datum fixieren und uns auf ein konkretes Datum festlegen. Es geht nicht darum, dass wir einen Wettkampf mit der Zeit führen, aber es geht darum, dass wir Polen möglichst gut vorbereiten und Sicherheit für die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger schaffen. Polen hat bei dem Referendum über den Beitritt schon darüber entschieden, ob es den Euro haben will. Wenn man sich heute die öffentliche Debatte in Polen zwischen allen im Parlament vertretenen politischen Kräften anschaut, erkennt man, dass das eine Debatte darüber ist, in welchem Tempo wir beitreten sollten und nicht, ob wir dem Euro überhaupt beitreten sollten. Niemand bestreitet heute in Polen den Sinn der Einführung der gemeinsamen Währung - in einer bestimmten zeitlichen Perspektive natürlich.

Wenn Sie erlauben, meine Damen und Herren, möchte ich noch etwas hinzufügen. Sie können sich vielleicht an die Worte von Thomas Mann aus dem Jahre 1953 erinnern, der damals - ich glaube, das war in deinem Hamburg, Angela - zu den Studenten gesprochen und gesagt hatte, dass Deutschland alles Mögliche unternimmt, damit Europa nicht deutsch wird sondern damit Deutschland europäisch wird. Deutschland ist auch europäisch geworden.

Aber heute, wenn wir darüber diskutieren, was jetzt die Position und die Rolle Deutschlands in dem heutigen integrierten Europa ist, sehen wir sehr deutlich, dass dieses Korsett der Selbstbeherrschung, das man damals ausgedrückt hat, was auch in der gesamten politisch-philosophischen Reflexion Deutschlands nach 1945 präsent ist, als ein immer größeres Hindernis für die Normalität des Funktionierens Deutschlands im heutigen Europa angesehen wird.

Wenn wir heute in Europa Überschriften lesen, wie zum Beispiel „Der Bundestag entscheidet morgen über das Schicksal Griechenlands“ - Ihr könnt euch erinnern: es gab so manche Abstimmung im Bundestag über die Griechenland-Hilfe -, dann ist das ein Problem. Was heißt eigentlich Einschränkung der Souveränität der Nationalstaaten in Europa und fällt diese Einschränkung der Souveränität symmetrisch aus? Das heißt, wir bauen eine Gemeinschaft, und jeder muss ein bisschen von seiner Souveränität einbüßen. Oder ist die Einschränkung der Souveränität etwas Asymmetrisches? Das heißt, adäquat und entsprechend dem Potenzial der einzelnen Staaten. Wir können vor diesem Dilemma nicht flüchten.

Das ist das Problem, das gewissermaßen von Thomas Mann 1953 vorausgesehen wurde. Dieser historische Moment in Europa und auch hier in Berlin ist gekommen. Wir sind eine europäische Gemeinschaft. Deutschland ist nicht dazu geneigt, dieses Korsett der Geschichte noch enger zu schnallen. Wir diskutieren darüber, wie viel Souveränität in Zukunft in der Gemeinschaft abzugeben wäre. Es kommt die Frage auf, ob nicht jemand in dieser Gemeinschaft dominieren würde. Deshalb sind das Temperament und auch die Ideen, von denen sich Politiker in Europa, aber auch in Deutschland leiten lassen, eine Schlüsselsache. Ich habe genug Phantasie und Vorstellungskraft, um mir vorzustellen, was der schlechte Ablauf der Dinge sein könnte, wenn ein Bundeskanzler in den schwierigsten Momenten jemand mit einem anderen Temperament und mit einer anderen Einstellung der Politik gegenüber sein würde.

Ich glaube, in der Situation, wo ein so großer Teil der Verantwortung für Europa auf Deutschland ruht, ist es so wichtig, dass die deutsche Führung eben solche Eigenschaften eines Politikers, einer Politikerin darstellt, wie sie von Kanzlerin Merkel verkörpert werden: Verständnis für andere, Vertiefung in die Geschichte, Rückbesinnung auf diese Geschichte, Sensibilität und Fingerspitzengefühl in der Verhaltensweise. Ich sehe in Europa Politikerinnern und Politiker, die, wenn sie diese Möglichkeiten und Instrumente hätten, über die die Kanzlerin verfügt, sehr viel Schaden anrichten könnten. Diese Diskussion darüber, wie die europäische Integration weiter aussehen soll, muss auch eine Diskussion sein, die mutig und aufrichtig in der Hinsicht ist, wie die Rolle des größten Staates in dieser Gemeinschaft auszusehen hat. Wie soll ein neues Modell der Souveränität so aussehen, dass diese in der Europäischen Union eingeschränkte nationale Souveränität nicht von den größten Staaten wie zum Beispiel Deutschland dominiert wird? Diese Befürchtung wird es unter der Oberfläche überall geben: in Warschau, in Athen, in Stockholm. Es wird sie überall und ausnahmslos geben.

Kornelius: Frau Bundeskanzlerin, können Sie mit diesen Begriffen „semi-hegemonial“ oder „dominant“ etwas anfangen?

BK’in Merkel: Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, dass ich noch mehr mit den Worten von Thomas Mann anfangen kann, dass wir doch vielleicht schon viel europäischer sind als wir denken. Ich glaube jedenfalls, dass die allermeisten politische Kräfte in Deutschland - egal, welchen Lösungsweg sie jetzt gerade vorschlagen - im Grunde sagen: Europa ist für uns lebenswichtig. Warum?

Um noch einmal auf die Freiheit zu kommen: Weil wir so vieles gemeinsam haben, weil wir das verteidigen, was unsere Lebensbasis ist - in Demokratien, in Staaten mit Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Reisefreiheit usw. Das will ja kein Mensch wieder aufgeben. Es geht jetzt eigentlich nur darum, dass man sozusagen dieses Haus oder dieses Fundament dort noch etwas kräftigt, wo man gesehen hat, dass es noch nicht ausreichend funktioniert.

Neulich hat der indische Premierminister etwas zu mir gesagt, als wir Indien und Europa verglichen haben. Er hat mich darauf hingewiesen, dass bei den vielen Sprachen und Religionen in Indien wahrscheinlich die Diversität in einem Nationalstaat Indien viel größer ist als zwischen den 27 europäischen Ländern. In Deutschland kommt dann sofort die reflexhafte Frage: Also wollen Sie einen europäischen Bundestaat?

Wir sind dauernd mit irgendwelchen Zieldiskussionen befasst. Das habe ich damit nicht gesagt. Ich habe nur gesagt: Wir können unser Herz auch einmal ein Stück in die Hand nehmen. Wenn wir noch drei bis fünf Absprachen treffen, dass wir bestimmte wirtschaftliche Parameter konsistenter machen wollen, dann ist ja weder unsere kulturelle Identität schon aufgegeben noch ist sonst irgendetwas Schlimmes passiert, sondern wir sind einfach auf der Ebene der ökonomischen Rationalität ein Stück enger zusammengerückt und sagen den Leuten außerhalb: Schaut einmal, Europa ist so unumkehrbar vereinigt, dass wir bestimmte Dinge auch gemeinsam machen werden.

Deutschland hat in dieser Sache natürlich insofern eine manchmal komplizierte Rolle, als wir die größte Volkswirtschaft sind. Wir sind nicht die reichste Volkswirtschaft, aber wir sind die größte Volkswirtschaft. Deshalb ist es auch so gut, wenn man sagt: Wir versuchen oft, zuerst mit Frankreich einen gemeinsamen Weg zu finden, weil: Wenn Deutschland und Frankreich einig sind, ist das nicht die Super-Hegemonie, sondern es ist die Aufnahme vieler Bedenken und Gedankengänge, die in Europa vorkommen; der eine mehr von der der Seite, der andere mehr von der anderen Seite. Das ist dann sozusagen schon eine Amalgamierung von verschiedenen Grundgefühlen in Europa. Deshalb macht es eine Einigung der 27 manchmal einfacher. Aber eine deutsch-französische Einigung entsteht ja nie, indem Deutschland und Frankreich nur miteinander sprechen, sondern indem alle mit allen sprechen und dann versuchen, das ein Stück vorzubestimmen. Deshalb wird Deutschland immer nur mit den anderen gemeinsam etwas machen. Mir ist dieses Hegemoniale total fremd.

Was ich nur nicht möchte, weil wir auch ein bisschen biografisch argumentieren, ist Folgendes: Schauen Sie, ich habe erlebt, wie ein Land untergegangen ist. Die DDR, die ganzen ökonomischen Systeme haben alle unter der Ägide der Sowjetunion versagt. Ich möchte so ungern daran mitwirken, sehenden Auges zuzuschauen, wie Europa jetzt als Ganzes zurückfällt. Das finde ich so absurd. Wir haben alle Fähigkeiten in unserer Hand. Mit ein paar Dingen können wir das schaffen. Da möchte ich einfach erfolgreich sein. Deshalb ist Wachstum natürlich auch für mich wichtig. Ich möchte nur nicht, dass wir es auf falschen Prämissen aufbauen.

Kornelius: Das wäre schon fast ein schönes Schlusswort. Aber ich kann Ihnen und dem Herrn Ministerpräsidenten eine Frage nicht ersparen. Die möchte ich auch wirklich stellen, weil es ein kleines Element im Buche ist. Es ist nicht ganz unwichtig. Es hat mit Identität und mit persönlicher Geschichte zu tun. Es ist Ihre polnische Wurzel, Frau Bundeskanzlerin, die viel diskutiert wurde und nun enthüllt oder offen gelegt wurde, dass eben Ihr Vater Kazmierczak - das ist hoffentlich richtig ausgesprochen - mit seinem Geburtsnamen hieß.

Herr Tusk, das hat in Polen doch große Wellen in Polen ausgelöst. Es hat viel mehr Aufmerksamkeit als hier in Deutschland gegeben. Wieso ist das so wichtig für Polen?

MP Tusk: Es ist immer so in solchen Situationen, dass so etwas für positive Sensationen sorgt. Viele Polen haben nicht gewusst, dass es diese polnischen biografischen Spuren bei der Frau Bundeskanzlerin gibt, die sich natürlich einer großen Beliebtheit in Polen erfreut. Nicht jeder deutsche Politiker oder jede deutsche Politikerin konnte in der Vergangenheit mit so viel Sympathien rechnen. Das Bewusstsein, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu einem Viertel Polin sind, hat natürlich für großes Interesse an der Person Angela Merkel gesorgt und dieses noch gesteigert.

Diese biografischen Elemente haben eine größere Bedeutung als nur eine journalistische Neuheit und eine sprachliche Übung, was die richtige Aussprache des Familiennamens Kazmierczak anbelangt. Wenn wir, wie gestern, die Gelegenheit haben, uns länger zu unterhalten - wir haben uns gestern länger über unsere Biografien unterhalten -, dann stellt sich vielleicht heraus, dass sich dieses gute Verständnis füreinander, für die Ansichten, die wir beide vertreten, und unsere langjährige Freundschaft, wenn ich das so sagen darf, auch aus familiären biografischen Erfahrungen ergibt. Das ist Posen mit Großvater Kazmierczak, das ist Danzig mit Großvater Jentzsch. Das sind komplizierte Schickale auch meiner Familie, die vor dem Krieg in einem Grenzgebiet gewohnt hat. Das sind auch interessante Zusammenhänge und Zufälle.

Frau Bundeskanzlerin hat erzählt, dass sie 1981 bei der Premiere des Films „Der Mann aus Eisen“ des Regisseurs Wajda in Danzig war. Wir wussten voneinander nicht, dass wir beide dort waren. Wir waren damals vermutlich im selben Kinosaal. Eine meiner Tanten wohnte in Leipzig. Ich habe sie besucht, als Frau Bundeskanzlerin in Leipzig studiert hat. Vielleicht sind wir uns irgendwo auf der Straße begegnet. Wir wussten damals gar nicht, dass wir uns noch einmal treffen würden, vielleicht in etwas anderen Eigenschaften.

Das sage ich nicht nur aus Sympathie. Vielleicht ist es gar nicht so eine Ausnahme, dass es solche Schicksale gibt. Aber die Tatsache, dass man diese Erfahrungen des Kommunismus, des Grenzgebietes, der schwierigen Beziehungen, der Wahl, die man treffen muss, hat - die Großväter mussten ja gewisse Entscheidungen, gewisse Wahlen treffen -, erleichtert, dass wir heute Staatsgeschäfte führen. Dank dessen kann zumindest ein gar nicht so einfaches Problem in diesem Teil Europas gelöst werden.

Das heißt, in diesen komplizierten Zeiten der Krise sind die deutsch-polnischen Beziehungen nicht ein Teil der Agenda. Wir müssen niemandem in der Welt den Kopf damit verdrehen, dass da etwas zwischen Deutschland und Polen passiert. Ich glaube, unseren bescheidenen Beitrag haben wir beide eingebracht, nicht zuletzt durch unsere Biografien.

Kornelius: Die polnische Vergangenheit ist das eine. Es gibt ein zweites Element, das bisher auch nicht bekannt war, nämlich dass Ihre Familie auch katholische Wurzeln hat. Ihr Großvater war katholisch, wie wir in den Geburtsurkunden gesehen haben, aber Ihr Vater auch. Das war Pastor Kasner. Das ist der Vater der sehr protestantischen Angela Kasner gewesen. Was hat es für Sie bedeutet, diese biografischen Elemente jetzt zu entdecken? Wussten Sie es, wenn ich banal fragen darf?

BK’in Merkel: Ich habe öfter selber gesagt, dass ich zu einem Viertel polnisch bin. Aber ich hatte mich nie so detailliert damit befasst, das alles abzuleiten. Das macht in meiner Familie mehr unser Bruder. Den katholischen Aspekt hatte ich erst einmal verdrängt. Um die Spekulationen im Zaum zu halten: Mein Vater wurde noch katholisch getauft, dann aber schon evangelisch konfirmiert. Das muss mit den Berliner Verhältnissen zusammengehangen haben, die doch immer schon etwas protestantischer waren. Dann ist er später auch evangelischer Pfarrer geworden.

Unsere beiden Biografien sind schon ganz interessant; wir haben uns gestern Abend darüber unterhalten. Das wirft dann auch die Fragen auf: Wie lange ist ein Mensch eigentlich ein Pole? Wann wird ein Mensch ein Deutscher? Das wirft auch wieder ganz interessante Integrationsfragen auf. In Europa ist es ja immer hin- und hergegangen. Zwischen Deutschen und Polen sieht man ja nun nicht auf den ersten Blick, ob man aus Poznan kam, wo Poznan gerade polnisch oder deutsch war. Ich werde zum Beispiel oft von Migranten gefragt, die aus Afrika oder aus anderen Ländern kommen und denen man ansieht, dass sie noch nicht jahrhundertelang in Deutschland leben: Was muss ich eigentlich tun? Wie viele Jahre, wie viele Generationen muss ich die deutsche Staatsbürgerschaft haben, damit ihr endlich einmal sagt, dass ich ein Deutscher bin? Was wollt ihr noch von mir?

Ich finde, das ist eine sehr interessante Frage: Wie lange ist eine polnische Minderheit? Man sieht das an Podolski. Lewandowski ist selbstverständlich ganz polnisch, weil er noch in der polnischen Nationalmannschaft spielt. Aber auch mit dem Eintritt in die deutsche Nationalmannschaft ist das dann noch nicht total geschafft. Dann hat man noch die Großmutter in Polen usw. Ich finde, das ist sehr interessant. Wir Europäer haben da eine sehr wechselvolle Geschichte. Unsere beiden Biografien geben Anlass, darüber zu reflektieren. Das ist dann vielleicht bei der nächsten Sitzung möglich.

Kornelius: Beim Fußball hört der Spaß auf.

MP Tusk: Darf ich noch etwas unterstreichen: Ihr habt von uns Podolski bekommen. Ihr habt Klose bekommen. Lasst doch den Lewandowski in Ruhe. Das werden wir nicht akzeptieren.

BK’in Merkel: Lewandowski, Błaszczykowski, Piszczek - alles bleibt in polnischer Hand. Das ist soweit abzusehen.

MP TUSK: Wir haben mit Absicht solche Fußballer mit den vielen Zischlauten im Namen entsandt, damit es keine Zweifel geben kann.

Noch ein letzter Satz, wenn Sie erlauben: Die Großväter spielen bei Wahlen manchmal eine große Rolle. Mein Großvater hat bei mir bei meinen Entscheidungen oder bei Wahlen, die ich gewinnen musste, nicht so geholfen. Vielleicht können sich viele an die Umstände erinnern. Ich hoffe, dein Großvater wird für die anstehende Wahl kein Hindernis sein.

BK’in Merkel: Bis jetzt ist das nicht absehbar.

Kornelius: Dann werden wir den Integrationstest machen. Ganz herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident, Frau Bundeskanzlerin, für dieses Gespräch.