"Deutschland lächelt - jedenfalls von Zeit zu Zeit"

Interview "Deutschland lächelt - jedenfalls von Zeit zu Zeit"

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in einem sehr persönlichen Interview mit der Zeit über Systembrüche, schöne Gefühle und Depressionen. Der Tod von Robert Enke berühre die Menschen und zeige, wie wichtig es ist, offen über die Krankheit zu sprechen. Auch in der Politik.

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Die Zeit"

Das Interview im Wortlaut:

Die Zeit (Zeit): Frau Bundeskanzlerin, haben Sie nach den vergangenen Wochen mit der Vereidigung der neuen Regierung, dem Auftritt in Washington und der Feier zum Ende des Ersten Weltkrieges am 11. November in Paris schon ein Gefühl dafür, was davon haften bleiben wird?

Angela Merkel (Merkel): Im Augenblick habe ich fast keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich bin sicher, dass der Auftritt vor dem US-Kongress etwas ist, was man ein Mal erlebt und nie wieder. Das werde ich nicht vergessen. Die eigene Atmosphäre dort, die von transatlantischer Freundschaft, vom Zeitpunkt 20 Jahre nach dem Mauerfall und ein bisschen natürlich auch von meiner Person geprägt war - das war sehr, sehr beeindruckend.

Persönlich viel bedeutet haben mir der Gang über die Bornholmer Brücke in Begleitung der Bürgerrechtler am 9. November und auch das Fest am Brandenburger Tor. Das Beste daran war, dass sich von dem schrecklichen Wetter keiner die Stimmung hat verderben lassen. Im November bei fünf Grad in strömendem Regen, und keiner hat gemault. Ganz kurz danach dann der 11. November in Paris. Das habe ich als eine große Geste des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy verstanden. Dass wir den 9. und 11. November in Europa gemeinsam begangen haben, ist ein Beweis für gewachsenes Vertrauen, und das ist etwas, was uns eigentlich insgesamt sehr hoffnungsfroh stimmen kann.

Zeit: Auf welches Deutschlandbild sind Sie dabei getroffen?

Merkel: Als ich in Paris an den Veteranen des Zweiten Weltkriegs vorbeigegangen bin, konnte ich spüren, das sind Menschen, die viel Leid erfahren haben, die aber bereit sind, Deutschland wieder zu vertrauen. Darauf kann Europa gebaut werden. Bei den Jungen gilt vieles schon als selbstverständlich. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und in der DDR aufgewachsen, da ist Frankreich immer ein fernes Land gewesen, in das man reisen wollte und nicht konnte. Ich wollte Paris kennenlernen, die Sprache. Ich hatte mal den Versuch gemacht, Französisch zu lernen. Dann floh meine Französischlehrerin nach Kanada und heiratete einen Kanadier, die Sache war wieder zu Ende, und ich habe mich nicht wieder aufgerafft.

Zeit: Sind Sie noch die Generation Juliette Gréco?

Merkel: Ja. Aber was heißt "noch"?

Zeit: Sie sind eigentlich zu jung für Juliette Gréco.

Merkel: Aber ich kenne sie. Das Kostbare ist, dass nicht nur Politiker, die das auch aus rationalen Interessen tun, sagen, wir müssen zusammenarbeiten, sondern eine große Mehrheit der einfachen Menschen. Die begegnen uns - und da stehe ich Pars pro Toto für Deutschland - mit Freundschaft.

Nicolas Sarkozy hat mir ein Faksimile der Aufzeichnungen von Präsident de Gaulle über seine erste Begegnung mit Kanzler Konrad Adenauer im September 1958 geschenkt. Dort hat de Gaulle die einführenden Worte von Adenauer und seine Antwort festgehalten, als sie die neue Beziehung nach dem Zweiten Weltkrieg begründet haben. Wir sollten uns das Gefühl dafür bewahren, dass das alles andere als selbstverständlich ist.

Zeit: Ist es immer noch nicht selbstverständlich?

Merkel: Wir gehen heute damit wie selbstverständlich um, aber es ist nie selbstverständlich. Immer wenn wir anfangen, es für selbstverständlich zu halten, ist die Gefahr groß, dass wir es wieder verlieren.

Zeit: Weil wir etwas übersehen?

Merkel: Ja, weil ich selber erlebe, wie schnell wieder Vorurteile entstehen können. In Europa haben wir das gegenseitige Verstehen heute einigermaßen verinnerlicht. Das müssen wir bewahren, und zugleich geht es darum, Afrika zu verstehen, Asien und Lateinamerika. Ich glaube, dass man es angesichts der Notwendigkeit zu globaler Zusammenarbeit schaffen muss und auch schaffen kann, eine entsprechende Sensibilität, gewissermaßen ein richtig globales inneres Gefühl zu bekommen, so wie man ein Gefühl für Deutschland bekommen kann. Wir haben das noch nicht von Kind auf gelernt. Das wird eine wichtige Aufgabe für die nächste Generation.

Zeit: Ihre Auftritte im US-Kongress und in Paris sind in Frankreich und den USA von einigen als historisch bezeichnet worden. Markiert auch die neue schwarz-gelbe Koalition eine historische Zäsur?

Merkel: Nein. Ich denke aber auch nicht jeden Tag darüber nach, was von dem, was ich tue, historisch ist und was nicht.

Zeit: Man hat doch schnell ein Gefühl dafür, was bleibt.

Merkel: Das weiß ich nicht. Wenn ich bei der Integration oder bei der Bildungsrepublik Ziele setze, dann ist das gut. Dennoch müssen dafür in der Umsetzung viele kleine Steinchen bearbeitet werden. Ob die sich fügen oder nicht, wird man zum Teil erst in zehn Jahren sehen können, weil das langfristige Entwicklungen sind.

Für mich war die spannende Frage bei der Wahl: Kann in einem etablierten Fünfparteien-System noch einmal mit zwei Fraktionen, ohne Große Koalition, eine Mehrheit zusammenkommen? Insofern wird das für die deutsche Parteiengeschichte schon ein Punkt sein, dass Union und FDP das nach 1994 im Jahre 2009 unter sehr veränderten Parteienverhältnissen schaffen konnten.

Zeit: Lassen Sie uns versuchen, Indizien für einen historischen Einschnitt zu benennen. Zum Beispiel: Sie gehören jetzt zu den wiedergewählten Kanzlern.

Merkel: Das allein ist ja noch nicht historisch.

Zeit: Aber auch nicht ganz bedeutungslos.

Merkel: Es ist die Voraussetzung dafür, weiterarbeiten zu können.

Zeit: Zweites Beispiel: Noch nie war eine Regierung so bunt, so sehr Spiegelbild einer veränderten Gesellschaft.

Merkel: Es ist richtig, dass wir mit dieser Regierung aus dem Klischee herausgegangen sind, nach dem die "Bürgerlichen" einen bestimmten Typus verkörpern. Für viele wäre die CDU, wenn sie sie als Menschen malen sollten, eher männlich, auch eher etwas älter. Jetzt haben wir eine ganze Palette von Erfahrung und Jugend, Nord und Süd, Ost und West in der Regierung. Das ist spannend und bietet Potenzial dafür, dass es eine Regierung ist, die jenseits der Sachlichkeit gesellschaftliche Impulse gibt.

Mein Gefühl ist im Augenblick so: Da ist die schwerste Wirtschaftskrise in 60 Jahren. Im Frühjahr wird sich zeigen, ob die Arbeitslosigkeit steigen wird und wo wir den Geist erhalten müssen, den wir in der Großen Koalition hierzu gut geschafft haben: und zwar diese Krise in einer einigermaßen besonnenen und zuversichtlichen Stimmung zu durchleben, bei der die Menschen nicht hoffnungslos werden. Bislang ist es in dieser schweren Rezession gelungen, wie man am 9. November wieder gesehen hat, dass die Menschen sich bei allen Problemen zu diesem Land bekennen und gern darin leben. Seit der Fußballweltmeisterschaft haben wir da ja einen Wandel erlebt mit mehr Optimismus. Die Frage ist, ob man das erhalten kann. Das ist mindestens so viel wert wie bestimmte materielle Kennziffern zum Bruttoinlandsprodukt. Und das ist bei minus fünf Prozent Wirtschaftseinbruch eine unglaubliche Aufgabe.

Zeit: Sie haben eben beschrieben, wie wohl die CDU wäre, wenn sie als Mensch dargestellt würde. Wie sieht Deutschland in den Augen der anderen aus?

Merkel: Deutschland lächelt. Jedenfalls von Zeit zu Zeit. Ich denke, wir werden von vielen als verlässlicher Partner wahrgenommen.

Zeit: Um bei dem zu bleiben, was an Ihrer Regierung neu ist: Sie wollen einen Systemwechsel im Steuer- und Gesundheitssystem. Was macht Sie zuversichtlich, dass Sie diesmal Großreformen durchsetzen können?

Merkel: Wolfgang Schäuble sagt ja nicht umsonst, in einer Legislaturperiode wird man keine große Steuerreform abschließen können. Es geht jetzt darum, die richtigen Schritte in diese Richtung einzuleiten. Das werden wir in der Steuer und bei der Gesundheit im nächsten Jahr sorgfältig beraten. In unserem Land, das seit 60 Jahren mit einem hohen Maß an Konsens in den grundlegenden Fragen regiert wird, geht es nicht um Systembrüche.

Zeit: Nicht mal mit der FDP?

Merkel: Nein, das zeigen doch auch die christlich-liberalen Landesregierungen. Auch durch die vielen Landtagswahlen wird das in unserem System sichergestellt. Generell ist das Misstrauen gegen Veränderung groß.

Wir werden Schritt für Schritt erarbeiten, und nach zwei oder zweieinhalb Legislaturperioden wird man erkennen: Mensch, da hat sich doch wirklich viel zum Guten geändert.

Zeit: Zum Beispiel?

Merkel: Unser Ziel ist es, dass Kinder im Steuersystem vom Grundfreibetrag her genauso behandelt werden wie Erwachsene. Das schaffen Sie wegen der Kosten nicht in einem Schritt. Mit der Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes zum 1. Januar 2010 ist ein Teil erreicht, und in einigen Jahren wird man das dann geschafft haben. Wer heute diese Entlastung für Kinder kritisiert, sieht nicht, dass es ein wichtiger Schritt zum Wechsel ist, Kinder und Erwachsene gleichzustellen. Und wenn das erreicht ist, werden die Freibeträge von Erwachsenen und Kindern auch gleich bleiben. Das ist eine sehr wichtige Reform.

Zum Zweiten leidet unser Steuersystem daran, dass die Progression durch den steilen Verlauf in den milderen Einkommen sehr ungerecht ist. Ganz kleine Einkommen werden steuerlich kaum belastet. In der Mitte aber findet in einem Bereich von wenigen Tausend Euro eine unglaubliche Progression statt. Alles, was wir jetzt machen, dient der Abflachung dieses steilen Anstiegs im Tarifverlauf der Einkommensteuer, durch die Millionen Normalverdiener entlastet werden. Wenn wir über diese Legislaturperiode hinaus in den nächsten Jahren in weiteren Schritten die Entlastung fortsetzen, kommen wir Schritt für Schritt zu einem gerechten Steuersystem. Das ist ein Weg, Veränderungen zu bewirken. Sie werden selten in völliger Neuheit auf den Plan treten, aber man muss das Ziel haben, auf das man in Schritten hinarbeitet, wenn wir jetzt nicht den finanziellen Spielraum für eine sofortige Lösung haben.

Zeit: Sie müssen aber noch lange regieren, um die Fertigstellung Ihrer Reformen zu erleben.

Merkel: Ich werde alles dafür tun, dass CDU und CSU noch lange regieren können.

Zeit: Bei Ihrer Regierungserklärung hatte man das Gefühl, dass es auch eine Versöhnung ist mit der Reformpolitikerin von 2005.

Merkel: Wir haben gesellschaftspolitisch in der letzten Legislaturperiode sehr viel reformiert. Wir können jetzt mit der FDP beim Steuerrecht mehr entlasten als in der Großen Koalition. Die eigentlichen Herausforderungen liegen aber weiterhin in der Gesellschaftspolitik. Wie reagieren wir auf die demografische Veränderung? Schaffen wir es, den jungen Leuten hier eine Heimat und Perspektiven zu geben?

Zeit: Nichts, sagen Sie, kann in Reinkultur umgesetzt werden. Steht die neue Regierung dennoch für einen Systemwechsel?

Merkel: In dieser Kategorie denke ich nicht. Wenn es uns gelingt, in das Pflegesystem eine Kapitaldeckung einzuführen, haben wir ein neues Element hineingenommen, genauso wie Riester damals zu Recht die kapitalgedeckte Komponente in die Rente eingerührt hat. Wenn wir bei einer sinkenden Zahl junger Arbeitnehmer und einer stark steigenden Zahl von Rentnern eine gewisse Entkopplung von den Arbeitskosten hinbekommen, wäre das eine wichtige Weichenstellung. Wir müssen unser Sozialsystem weiterentwickeln angesichts der demografischen Veränderungen.

Zeit: Warum sind bei dem Bild von Bürger und Staat, das Sie jetzt zeichnen, Steuersenkungen so wichtig? Sie würden wahrscheinlich auch nicht mehr leisten, wenn Sie netto mehr herausbekämen, warum glauben Sie dann, dass das bei der Mehrheit der Steuerzahler anders ist?

Merkel: Die zusätzliche Motivation, wenn jemand 600 Euro mehr oder weniger im Jahr hat, lässt sich nicht exakt messen.

Tatsache aber ist: Wenn man den Menschen von dem, was sie erarbeiten, von Lohnerhöhungen, von Überstunden zum Teil deutlich mehr als die Hälfte wegnimmt, kommt die Frage auf, ob man die Zeit nicht besser anders verbringt als mit Arbeiten. Der Staat sollte sich Mühe geben, den Bürgern deutlich zu machen, dass ihm von seiner Mehranstrengung ein signifikanter Teil bleibt. Zudem ist es jetzt in der Wirtschaftskrise richtig, durch Steuersenkungen Impulse für zusätzliches Wachstum auszulösen.

Zeit: Umgekehrt ist es für die Akzeptanz von Steuern sehr wichtig, was der Staat dafür gibt. Eigentlich ist das ja ein ziemlich guter Staat, wir haben immer noch eine gute Infrastruktur, leben in sozialem Frieden, es gibt nach wie vor wenig Ghettos. Vielleicht muss man für diese Dinge mehr Geld ausgeben.

Merkel: Sicher, der Staat ist darauf angewiesen, dass die Bürger Steuern zahlen. Und wir arbeiten ja nicht an einer Senkung des Spitzensteuersatzes. Der bleibt, wie er ist. Unsere Steuerpolitik befasst sich vielmehr mit der kalten Progression für die Normalverdiener, also einem Ausschnitt des Steuerbereichs. Es geht also um ein Gerechtigkeitselement in einem bestimmten Einkommensbereich, der eben sehr häufig vertreten ist. Da brauche ich eine motivierte Schar von Leuten, die überhaupt noch gern Steuern zahlen ...

Zeit: Weil sie den Staat gut finden.

Merkel: ... weil sie den Staat gut finden oder weil sie gern arbeiten und nicht auf die Stundenzahl schauen. Deshalb habe ich in der Regierungserklärung gesagt, Steuerpolitik ist auch Gesellschaftspolitik. Sie sagt auch etwas aus über mein Verständnis von denen, die die Solidarität dieses Landes tragen.

Zeit: Es geht um Wertschätzung?


Merkel: Es geht auch um Wertschätzung, ja.

Zeit: Was hat Sie an der Rezeption dieses Starts der neuen Bundesregierung geärgert, der oft als "Fehlstart" bewertet wurde?

Merkel: Wir haben nach der Großen Koalition nun naturgemäß wieder eine viel breitere Opposition im Bundestag. Der Fokus ist voll auf uns gerichtet, und jede kleine Differenz in den Äußerungen der Koalitionspartner hat eine sehr hohe Bedeutung. Es ist eben interessant, was im Regierungslager geschieht, und nicht ganz so interessant, was in der Opposition passiert. Union und FDP haben elf Jahre lang nicht zusammen regiert. Dass es da am Anfang auch Reibereien gibt, ist klar. Dieser Findungsprozess war jetzt in den ersten Wochen im Gange.

Dabei geht die Ernsthaftigkeit der Lage, in der wir uns befinden, manchmal völlig unter. Dass wir gerade eine besondere Krise haben, kommt in vielen Diskussionen nicht ausreichend zum Ausdruck, allenfalls in der Größe der Darlehen oder Zuschüsse, die wir der Bundesagentur für Arbeit geben müssen. Und da treibt mich um: Was kann ich tun, um diese Besonderheit der Situation und die Frage, wie kommt Deutschland da heraus - die ich auch in den Mittelpunkt der Regierungserklärung gestellt habe - noch stärker sichtbar zu machen?

Zeit: Was erwidern Sie nun auf den Vorwurf des "Fehlstarts"?

Merkel: Gar nichts, ich teile diesen Vorwurf schlichtweg nicht. Wir haben die Koalitionsverhandlungen zügig abgeschlossen, unser Sofortprogramm für mehr Wachstum schon in der ersten Lesung im Bundestag gehabt und setzen es zum 1. Januar 2010 in Kraft. Wir haben im Bundesrat eine knappe Mehrheit, aber immerhin eine Mehrheit.

Zeit: Ihrer Generation, zu der auch die beiden Interviewer zählen, wird ja oft vorgeworfen, dass sie so sehr interessiert an der pragmatischen Lösung sei, dass sich nicht mehr erkennen lasse, wofür sie vor lauter Biegsamkeit eigentlich stehe.

Merkel: Erstens ist eine pragmatische Lösung in der überwiegenden Mehrheit der Probleme genau das, was gebraucht wird.

Zweitens können Sie auch für eine pragmatische Lösung nur dann das richtige Gefühl entwickeln, wenn Sie Ihren Werten folgen, die immer gelten. Etwa was bestimmte außenpolitische Koordinaten anbelangt: für Europa einstehen, für die transatlantische Partnerschaft, sich um die Sicherheit Israels sorgen.

Zeit: Der Vorwurf kommt auch nur in der Innenpolitik auf.

Merkel: Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, dass Pragmatismus unverzichtbar ist. Der kategorische Kampf zum Beispiel, den wir wahrscheinlich jetzt hinter uns gelassen haben, ob dieser eine Schultyp oder ein anderer Schultyp nun mit Sicherheit der ist, der zur perfekten Bildung führt, und der andere in den sicheren Untergang, das ist vorbei. Das Thema Gesamtschulen muss doch schrecklich gewesen sein. Daran habe ich ja als DDR-Bürgerin gar nicht so teilgenommen.

Zeit: Wir schon, es war schrecklich.

Merkel: Sehen Sie, da hilft doch nur eine praxistaugliche Lösung und Pragmatismus: Letztlich kommt es darauf an, ob das einzelne Kind eine gute Bildung und Betreuung bekommt. Die kann es auch in der Gesamtschule bekommen, die kann es in einem gegliederten Schulsystem kriegen. Es gibt Länder, da sind die Hauptschulen leistungsfähig und sehr gut.

Ähnlich könnte es eines Tages auch bei der Energiepolitik werden. In der Union ist niemand der Meinung, wenn man ein fortschrittlicher Mensch sei, müsse man aus vollem Herzen für die Kernenergie sein. Auch wir sprechen von Brückentechnologie, wir sagen, wir wollen so schnell wie möglich ohne Kernenergie auskommen und ins regenerative Zeitalter. Wir halten sie in der Übergangszeit für verantwortbar, und darüber gibt es noch Streit, aber insgesamt hat sich doch was getan. Nun können Sie sagen, das ist Beliebigkeit. Genauso können Sie aber sagen, das ist evolutionäres Lernen.

Zeit: Am meisten beschäftigt die Deutschen im Moment wohl der Tod von Herrn Enke. Das rührt auch an das Thema Depression. Ist das etwas, was in der Politik genauso tabuisiert wird wie im Leistungssport?

Merkel: Die Politik ist immer ein Spiegel der Gesellschaft - einer Gesellschaft, in der über psychische Erkrankungen generell nicht offen gesprochen wird. Aber auch in der Wirtschaft nicht, gerade dort also, wo Menschen sehr hohem Stress ausgesetzt sind. Über einen gebrochenen Arm lässt sich halt leichter sprechen, da kann jeder mitfühlen ... Das ist anders als bei Depressionen oder - ein großes Thema - im Alter Demenz. Das wird schon ein ganzes Stück verdrängt.

Es gibt bei den Betroffenen auf der einen Seite die große Angst: Wenn man das zugibt, ist man kein Teil der funktionierenden Gesellschaft mehr. Das menschliche Leben aber ist so viel breiter als der vermeintliche Durchschnitt. Deshalb ist es auch so wichtig, dass man über alle Krankheiten spricht. Es kann doch fast kein Mensch von sich sagen, dass er immer der Sonnyboy ist, der leistungskräftig und gut gelaunt zur Arbeit schreitet. Die graduellen Unterschiede zwischen gesund und krank sind sehr klein. Da machen wir uns in der Gesellschaft etwas vor.

Zeit: Und da ist die Politik ein genaues Abbild?

Merkel: Da sind wir nicht anders als die anderen.

Zeit: Haben Sie das Gefühl, Sie müssen als Kanzlerin immer stark sein, jedenfalls nach außen?

Merkel: Besser ist es. Dann habe ich weniger Ärger.

Zeit: Sie kriegen Ärger, wenn Sie schwach sind?

Merkel: Wenn mir auf der Regierungsbank die Augen mal zufallen, habe ich viel Nacharbeit zu leisten. Aber wenn man krank ist oder etwas nicht kann, sollte man es ruhig sagen.

Zeit: Eine Mutprobe?

Merkel: Man brauchte eben mehr Mut, als zu sagen, dass man gut drauf ist, ja. Darum berührt uns der Tod von Robert Enke und seine Depressionserkrankung auch so: Weil sich an einem berühmten Beispiel etwas zeigt, wovor viele Angst haben und was viel öfter passiert, als wir es uns vor Augen führen.

Zeit: Der Feind in einem selbst?

Merkel: Weil es hoffentlich für viele eine Möglichkeit ist, jetzt einfach mal am Beispiel von Robert Enke offen über ihre Ängste, die bis in eine Depression führen können, zu reden, und hoffentlich Mitmenschen Verständnis für diese Krankheit entwickeln und sie nicht stigmatisieren.

Als Politiker haben Sie mit 55, wie ich, ja ein großes Erfahrungspolster. Bei Leistungssportlern finde ich es immer so hart, dass man im Grunde weiß, zwischen 30 und 40 ist die Karriere in der Regel vorbei, während man sich als Persönlichkeit die Reife gerade erst erarbeitet. Deshalb dürfen wir junge Sportler auch nicht überfordern, dass sie immer nur funktionieren müssen.

Zeit: Wie schaffen denn Sie Ihr politisches Pensum? Wenn wir Sie in den letzten Monaten nur von den Fernsehbildern her anschauen, dann fragen wir uns, ob es irgendeine Droge gibt, die Sie uns empfehlen können ...

Merkel: Pfefferminztee ...

Zeit: ... oder wie Sie das sonst packen.

Merkel: Ich will gar nicht verhehlen, dass es auch für mich schon sehr anstrengende Monate waren und sind. Und manchmal sind ja die emotionalen Sprünge groß. Sie stehen in Pittsburgh beim G2O-Gipfel und haben schwierige Themen zu verhandeln, drei Tage vor der Wahl. Dann werden Sie dort zugleich mit Umfragen traktiert.

Zeit: Und es schmilzt, schmilzt, schmilzt.

Merkel: Ja, und zwischen ganz unten und ganz oben liegen dann vielleicht einige Tausend Wählerstimmen. Da muss man viel Druck aushalten, und das schaffe ich nur, indem ich mir durch mein Privatleben immer wieder eine Distanz zu dem Ganzen erhalte.

Und dann gibt es wieder diese Ereignisse wie den Auftritt im US-Kongress oder den 9. und 11. November, die wir zu Beginn besprochen haben, also emotional sehr positive Ereignisse. Bei allen Anforderungen macht mir diese Arbeit Spaß, sonst könnte ich das nicht schaffen.

Zeit: Es sind aber auch die Gene.

Merkel: Na klar, das auch.

Zeit: Und 35 Jahre Erholung in Ihrer ersten Lebenshälfte.


Merkel: (lacht) 35 Jahre in der DDR als Erholung zu beschreiben, habe ich auch noch nicht gehört. Aber egal. Zumindest hatte ich eine sehr ruhige Kindheit ohne Verkehrsgeräusche und mit ruhigem Waldrauschen. Aber ich verschweige nicht, dass ich jetzt auf ein paar ruhige Weihnachtstage hoffe. Sie müssen ja auch mal was in den Kopf bekommen, brauchen mal selber neue Anregungen. Bis jetzt habe ich es immer noch geschafft und bin, glaube ich, dem deutschen Volk dadurch noch nicht zur Last gefallen.


 

Textdokumentation: Josef Hrycyk
Das Gespräch führten Giovanni Di Lorenzo und Bernd Ulrich