"Deutschland gestärkt aus der Krise führen"

Interview "Deutschland gestärkt aus der Krise führen"

"Der Euro muss eine stabile Währung bleiben", betont Bundeskanzlerin Angela Merkel im Interview mit der "Bild am Sonntag". Europa müsse wettbewerbsfähiger werden als vor der Krise. Außerdem spricht Merkel über das Ende der Herrschaft Gaddafis. Deutschland stehe fest zu seinen Verbündeten und zur Nato, für deren Einsatz sie tiefen Respekt habe. 

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Bild am Sonntag"
Bundeskanzlerin Angela Merkel

Merkel: Wenn sich die Welt ändert, müssen neue Antworten gegeben werden

Foto: REGIERUNGonline/Kugler

Bild am Sonntag: Frau Bundeskanzlerin, Altbundeskanzler Helmut Kohl hat in dieser Woche massive Kritik an der Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Außenpolitik Ihrer Regierung geübt. Deutschland müsse aufpassen, „nicht alles zu verspielen“. Steht tatsächlich das außenpolitische Erbe von Adenauer bis Kohl auf dem Spiel?

Bundeskanzlerin Angela Merkel: Die christlich-liberale Bundesregierung arbeitet auf der Grundlage dieses Erbes: die Freundschaft zu den USA, zu unseren französischen und polnischen Nachbarn, das unmissverständliche Ja zur europäischen Einigung – das sind und bleiben unsere Leitlinien, um die heutigen konkreten Herausforderungen zu meistern.

BamS: Sie haben zu Kohls massiver Kritik lediglich erklärt, jede Zeit habe ihre spezifischen Herausforderungen. Tun Sie und die CDU die Sorgen von Kohl damit nicht etwas zu leicht ab?

Merkel: Ich habe außerdem noch gesagt, dass seine Verdienste als Kanzler der deutschen Einheit und europäischen Einigung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Davor habe ich höchsten Respekt.

BamS: Hat Sie die Kritik von Kohl an Ihrer Arbeit verletzt?

Merkel: Nein.

BamS: Werden Sie mit Kohl in naher Zukunft persönlich über seine Sorgen sprechen?

Merkel: Bundeskanzler Kohl und ich haben immer einen Weg gefunden, vertrauensvoll miteinander zu reden. Das wird auch in Zukunft so sein.

BamS: Nach 42 Jahren ist die Herrschaft von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi in den vergangenen Tagen zu Ende gegangen. Welche Zukunft wünschen Sie sich für Libyen und welche Rolle kann Deutschland dabei spielen?

Merkel: Ich wünsche den Libyern, dass sie endlich in Freiheit und Würde leben können – und dass es ihnen gelingt, demokratische Strukturen aufzubauen. Wo immer die neuen libyschen Institutionen das wollen, wird Deutschland gerne beraten und helfen, denn allein in Deutschland haben wir Milliarden Euro des Gaddafi-Regimes eingefroren. Dieses Geld steht dem Volk zu und kann sehr gut für den Wiederaufbau genutzt werden.

BamS: Könnte sich die Bundeswehr an einer Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen beteiligen?

Merkel: Die neue libysche Regierung wird entscheiden müssen, welche Unterstützung sie braucht, wobei ich vorrangig die Vereinten Nationen, die Arabische Liga und die Afrikanische Union in der Verantwortung sehe. Wenn man uns Deutsche fragt, werden wir selbstverständlich prüfen, was wir tun können.

BamS: Unklar ist, was mit Gaddafi geschehen soll. Befürworten Sie einen Prozess vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag?

Merkel: Ja. Gaddafi sollte einen rechtsstaatlichen Prozess bekommen, wie er ihn seinen Gegnern nie zugestanden hat.

BamS: So gut wie sicher ist: Hätten sich Amerikaner, Briten und Franzosen bei der Frage nach einem Nato-Einsatz gegen Gaddafi genauso der Stimme enthalten wie die Bundesregierung, wäre der Diktator noch heute in Amt und Würden. War – im Rückblick betrachtet – Ihre Entscheidung ein Fehler?

Merkel: Wir haben damals mit unseren Partnern über unsere Bedenken gesprochen und entschieden, dass Deutschland sich an diesem Einsatz militärisch nicht beteiligt. Wir haben aber auch von Anfang an klargemacht, dass niemand unsere Enthaltung mit Neutralität verwechseln sollte. Wir stehen fest zu unseren Verbündeten und zur Nato, für deren Einsatz ich tiefen Respekt habe. Unsererseits sind wir mit politischen wie wirtschaftlichen Sanktionen gegen das Regime vorgegangen. Und wenn nun ein neues Libyen aufgebaut wird, wird Deutschland selbstverständlich unterstützend daran teilhaben.

BamS: Frau Merkel, Bundespräsident Wulff hat die Europäische Zentralbank (EZB) kritisiert, weil sie Staatsanleihen von Schuldenstaaten gekauft hat. Teilen Sie diese Kritik?

Merkel: Die EZB ist unabhängig. Dafür hat sich Deutschland bei ihrer Gründung sehr stark gemacht, denn nur unabhängig von der Politik kann sie ihre Aufgabe für unsere stabile Währung erfüllen. Und wegen eben dieser Unabhängigkeit bewerte ich die Arbeit der Zentralbank nicht öffentlich.

BamS: Sie haben Eurobonds „in der jetzigen Krise“ eine klare Absage erteilt. Können Sie sie wie Ihr Vizekanzler denn für die gesamte Dauer der schwarz-gelben Koalition ausschließen?

Merkel: Eurobonds sind das völlig falsche Mittel, um die Krise zu bewältigen. Mit ihnen schaffen wir nicht, was wir jetzt schaffen müssen: Das Grundübel der derzeitigen Krise – also die gewaltige Verschuldung – an der Wurzel zu packen. Eurobonds würden im Gegenteil das Schuldenmachen noch erleichtern. Wir müssen Lösungen innerhalb der geltenden Verträge finden. Jedes Land ist für seinen eigenen Haushalt zuständig, ein Durchgriffsrecht der EU-Kommission gibt es da nicht. Also brauchen wir sehr viel konsequentere Selbstverpflichtungen der Staaten – und die gehen sie nur ein, wenn ein gewisser Druck besteht, zum Beispiel Druck durch höhere Anleihenzinsen für hochverschuldete Staaten. Eurobonds würden den Druck rausnehmen, das kann unter den jetzigen Bedingungen nicht die Linie der Bundesregierung sein.

BamS: Die Bundesbank hat die jüngsten Beschlüsse der EU zur Euro-Rettung scharf kritisiert. Die Maßnahmen verstärkten die gemeinschaftliche Haftung ohne die Kontrollmöglichkeiten zu verbessern. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann war zuvor einer Ihrer engsten Berater. Was entgegnen Sie ihm?

Merkel: Es ist die Aufgabe der Bundesbank, auf Gefahren hinzuweisen. Sie fordert, dass die Bedingungen, die wir den betroffenen Ländern als Gegenleistung für unsere Hilfe stellen, auch wirklich erfüllt werden, und dass das kontrolliert werden kann. Ich denke genauso. Deshalb bin ich froh, dass Portugal und Irland gerade bescheinigt wurde, dass sie die ersten Schritte der notwendigen Reformprogramme wie zugesagt gemacht haben. Sie sind sogar schon ein wenig weiter als geplant.

BamS: Griechenland aber verfehlt seine Haushaltsziele erneut. Gibt es zu dem Gesetz zur Aufstockung des Rettungsschirms, das die Regierung am Mittwoch auf den Weg bringen will, wirklich keine Alternative und rechnen Sie mit einer eigenen Mehrheit?

Merkel: Ich bin zuversichtlich, die Fraktionen von Union und FDP von der Notwendigkeit unseres Gesetzgebungsvorhabens zu überzeugen, um gemeinsam die Stabilität des Euro zu stärken.

BamS: Finnland beharrt auf Extra-Sicherheiten für seinen Anteil am Rettungspaket. Warum gibt es für deutsches Steuergeld keine solchen Sonder-Garantien?

Merkel: Griechenland ist von diesem Weg wieder abgerückt. Die Kreditwürdigkeit des Landes würde weiter leiden, wenn manche Hilfen mit Sondergarantien unterlegt sind und andere nicht. Dieser Weg wird nicht beschritten.

BamS: Die Bürger jedenfalls machen sich große Sorgen um den Euro und fürchten eine Inflation . . .

Merkel: Ich verstehe die Sorgen der Bürger, aber ich kann sagen: Die Angst, dass die Preise zu sehr steigen, ist unbegründet. Es gibt keine Anzeichen für eine sich ausweitende Inflation. Der Euro muss eine stabile Währung bleiben. Die Europäische Zentralbank folgt dieser Linie und wird die Inflation auch weiterhin erfolgreich bekämpfen.

BamS: Zur Regierungskoalition in Berlin: Machen Sie sich Sorgen um das Überleben der FDP, die seit Monaten an der Fünf-Prozent-Marke dümpelt?

Merkel: Alle Koalitionspartner können in den Umfragen noch zulegen. Ich mache mir keine Sorgen, sondern ich arbeite für den gemeinsamen Erfolg, und das sehr gut Seite an Seite mit den Liberalen, gerade auch mit dem Parteivorsitzenden Philipp Rösler.

BamS: In den Umfragen kann die Union von der Schwäche der FDP nicht profitieren – im Gegenteil: Sie liegen derzeit unter Ihrem mageren 33-Prozent-Wahlergebnis von 2009. Woran liegt das?

Merkel: Wir mussten und müssen schwierige Entscheidungen treffen – vom Aussetzen der Wehrpflicht über die Energiewende bis zur Stabilisierung des Euro. Mitten in der Legislaturperiode schaue ich allerdings nicht auf die nächste Bundestagswahl und die Umfragen, sondern ich konzentriere mich darauf, jetzt zu tun, was nötig ist, damit wir in Deutschland unseren Wohlstand und unseren sozialen Zusammenhalt bewahren und stärken können.

BamS: Von 40 Prozent ist die Union jedenfalls sehr weit entfernt. Haben Sie sich von dieser magischen Zahl angesichts einer veränderten politischen Landschaft verabschiedet?

Merkel: CDU und CSU verlieren die 40 Prozent nicht aus den Augen. In Baden-Württemberg zum Beispiel haben wir im März unter wirklich schwierigsten Bedingungen 39 Prozent der Stimmen bekommen, auch wenn es für die Regierungsbeteiligung nicht gereicht hat.

BamS: Hält Schwarz-Gelb die volle Wahlperiode?

Merkel: Ja, und gerade auch angesichts der weltweiten Unsicherheiten spüre ich ganz besonders die Pflicht, mit der christlich- liberalen Regierung eng und verlässlich weiterzuarbeiten.

BamS: Ist bei einer Verschärfung der Situation an den Finanzmärkten und im Euro-Raum ein Koalitionswechsel noch in dieser Legislaturperiode wirklich ausgeschlossen?

Merkel: Von SPD und Grünen kann man keine solide Politik erwarten. Das sehen Sie schon an deren Forderung, jetzt sofort Eurobonds einzuführen. SPD und Grüne wollen damit den Schuldenweg weiter gehen, den schon die rot-grüne Regierung von Kanzler Schröder eingeschlagen hat. Schröders Koalition hat damals den Stabilitätspakt für die Euro-Staaten aufgeweicht, weil Deutschland ihn nicht erfüllen konnte – ein zentraler Fehler, unter dessen Folgen wir heute noch zu leiden haben. Jetzt setzen SPD und Grüne noch eins drauf und schlagen vor, die Schulden dadurch zu bekämpfen, dass man sie vergemeinschaftet und zum Schluss niemand mehr dafür verantwortlich gemacht werden kann. Das allein ist für Union und FDP Auftrag genug, die Regierungsarbeit zum Wohle unseres Landes zu gestalten.

BamS: Glauben Sie, dass Sie diese Arbeit mit der FDP auch nach der Wahl 2013 fortsetzen können?

Merkel: Ja, doch jetzt sind wir erst in der Mitte dieser Legislaturperiode angelangt und haben noch nicht an die Bundestagswahl 2013 zu denken, sondern an unsere gegenwärtige Arbeit für unser Land.

BamS: Streitpunkte zwischen CDU, CSU und FDP gibt es aber genug. Lassen Sie uns kurz die wichtigsten durchgehen: Wird eine Steuersenkung noch in diesem Herbst beschlossen?

Merkel: Das ist kein Streitpunkt, wir haben vor der Sommerpause festgelegt: Im Herbst bekommen wir eine Schätzung der Steuereinnahmen und wenn wir die kennen, beschließen wir noch in diesem Jahr eine maßvolle Steuererleichterung für kleine und mittlere Einkommen, die zum 1. Januar 2013 in Kraft tritt.

BamS: Soll ein Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen und nicht in die Kita schicken, in Höhe von 150 Euro im Monat eingeführt werden?

Merkel: Wir haben als Koalition vereinbart, das Betreuungsgeld einzuführen, also werden wir darüber sprechen, wie das umzusetzen ist.

BamS: Kommt das Elterngeld noch mal auf den Prüfstand, wie Unionsfraktionschef Volker Kauder vorschlägt?

Merkel: Das Elterngeld bleibt, es hat vielen jungen Familien sehr geholfen.

BamS: Kommt die Pkw-Maut für Autobahnen noch mal auf die Tagesordnung so wie die CSU das fordert?

Merkel: Wenn ein Koalitionspartner über ein Thema reden möchte, kommt das auf die Tagesordnung. Dennoch hat sich an meiner grundsätzlichen Einstellung zur Pkw-Maut nichts geändert: Die Autofahrer tragen heute schon genug zum Straßenbau und zum allgemeinen Haushalt bei. Deshalb sehe ich es kritisch, wenn sie jetzt noch zusätzlich für verbesserte Straßen zahlen sollen.

BamS: Frau Merkel, Sie sind demnächst sechs Jahre lang Bundeskanzlerin, das sind mehr als 2000 Tage. Gab es einen Tag, an dem Sie bereut haben, Kanzlerin geworden zu sein?

Merkel: Nein, nie. Es ist sehr viel zu tun, aber ich arbeite gerne.

BamS: Sie sind seit zwei Wochen aus den Ferien zurück und schon jagt eine Krise die nächste, die Umfragen sind schlecht wie vor der Sommerpause. Ist 2011 Ihr bislang schwärzestes Jahr als Kanzlerin?

Merkel: 2011 ist ein sehr spannendes Jahr. Wir durchleben seit 2008 immer neue Stadien einer internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise, wie es sie seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht gegeben hat. Ich habe mir das Ziel gesetzt, Deutschland stärker aus der Krise herauszuführen, als es in sie hineingegangen ist – und ich denke, es zeichnet sich ab, dass wir das schaffen. Jetzt wird immer klarer: Genau das müssen wir auch für Europa erreichen. Wir müssen alles tun, damit unsere EU stabiler und wettbewerbsfähiger wird, als sie es vor der Krise war. Ich sehe das als die anspruchsvollste Aufgabe seit Ende des Kalten Krieges und der Gestaltung der deutschen Einheit. Die CDU muss in diesen Zeiten ihre Pflicht genauso erfüllen, wie sie es in anderen herausfordernden Zeiten der Bundesrepublik Deutschland getan hat. Wir haben die soziale Marktwirtschaft eingeführt, und als es hieß, die deutsche Einheit zu gestalten, da wussten Helmut Kohl und Theo Waigel, was zu tun war. Mit der Aufgabe, die die Geschichte uns jetzt gestellt hat, haben wir erneut Neuland zu betreten und die Weichen für die Zukunft unseres Landes und unseres Kontinents zu stellen.

BamS: Sie haben Ihrer Partei in diesem Jahr viel zugemutet: Die Abkehr von der Wehrpflicht, die Kehrtwende beim Atomausstieg, die immensen Kredite für schwächelnde Euro-Staaten und jetzt auch noch das Abschaffen der Hauptschule. Können Sie verstehen, wenn das für manchen in der Partei zu viel ist?

Merkel: Wenn sich die Welt und das Land ändert, müssen neue Antworten gegeben werden. Wichtig ist, dass die CDU entlang ihrer Grundwerte handelt. Was uns immer eint, ist heute wie zu Helmut Kohls wie auch zu Konrad Adenauers Zeiten das christliche Menschenbild, es sind die Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

BamS: Im September gibt es Landtagswahlen in Ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Was ist das Wahlziel der CDU?

Merkel: In Mecklenburg-Vorpommern garantiert die CDU eine erfolgreiche Große Koalition. Ziel ist, dass die CDU möglichst stark wird und hier wieder regieren kann. In Berlin sieht man angesichts der ausufernden Kriminalität, dass die Stadt mehr CDU-Politik gut gebrauchen könnte. Die CDU als Partei der inneren Sicherheit könnte in der Regierung einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden in der Hauptstadt leisten.

Das Interview führten Roman Eichinger, Martin S. Lambeck und Walter Mayer für "Bild am Sonntag".