"Der Sozialstaat gibt dem Land Stabilität"

"Der Sozialstaat gibt dem Land Stabilität"

Für Empfänger von Arbeitslosengeld II will Bundeskanzlerin Angela Merkel höheren Zuverdienst ermöglichen. Auch mehr Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen, sind wichtig. Härtere Sanktionen gegen den Missbrauch von "Hartz IV" hält die Kanzlerin nicht für notwendig. Warum das so ist, erklärt sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Frankfurter Allgemeine"

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Frau Bundeskanzlerin, regieren Sie ein dekadentes spätrömisches Reich deutscher Nation?

Angela Merkel: Ich regiere ein großartiges Land mit einer christlich-liberalen Koalition, und das in einer Zeit mit der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Wir haben durch diese Krise eine Vielzahl wahrlich schwieriger Aufgaben zu lösen.

FAZ: Warum haben Sie sich von der Wortwahl Ihres Vizekanzlers und Außenministers Westerwelle distanziert, der in der Diskussion über den deutschen Sozialstaat „spätrömische Dekadenz" ausgemacht haben wollte?

Merkel: Koalitionen bestehen aus Parteien, und jede Partei führt Diskussionen eigenständig auf ihre Weise. Das soll auch so bleiben. Ich möchte aber vermeiden, dass durch bestimmte Formulierungen wie zum Beispiel „Man muss noch sagen dürfen" der Eindruck entstehen kann, es werde etwas ausgesprochen, was nicht selbstverständlich ist, als gebe es also ein Tabu. Das trifft ja gerade bei der Umsetzung des Hartz"-IV-Urteils und beim sogenannten Lohnabstandsgebot nicht zu.

FAZ: Westerwelle hat bloß etwas Selbstverständliches gesagt?

Merkel: Für alle Mitglieder der Bundesregierung ist es selbstverständlich, dass jemand, der arbeitet, mehr bekommen muss als jemand, der nicht arbeitet. Dazu herrscht große Übereinstimmung bis in die Oppositionsparteien hinein. Selbstverständliches sollte selbstverständlich bleiben, damit man in der Sache zu guten Ergebnissen kommen kann. Ich erspare Ihren Lesern im Übrigen die Aufzählung aller Parteitagsbeschlüsse der CDU oder unzähliger Reden von mir exakt zu diesem Punkt. Unsere Rechtslage zu den Sanktionsmöglichkeiten bei Pflichtverletzungen von Hartz-IV-Leistungsempfängern zählt außerdem schon heute zu den strengsten in der EU.

FAZ: Hat die FDP bereits konkrete Forderungen gestellt zur Neuregelung von Hartz IV?

Merkel: Es gibt konkrete Vorstellungen von allen drei Regierungsparteien. Schon in der Zeit der großen Koalition hatte die Union die Absicht, die Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger zu verbessern, was allerdings am Widerstand der SPD gescheitert war. Jetzt in der christlich-liberalen Koalition wollen wir die Zuverdienstmöglichkeiten vereinfachen. Wir sind uns einig, dass die Anreize für Hartz-IV-Empfänger zur Aufnahme einer Beschäftigung noch verbessert werden können. Wir werden das in einer kompakten Gesetzesinitiative ändern.

FAZ:Westerwelle will demnach im Grunde, was schon Jürgen Rüttgers forderte: die Grundrevision von Hartz IV?

Merkel: Die Änderungen, die wir als Koalition angehen, betreffen die Neuordnung der Jobcenter, die Neuregelung der Regelsätze nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und wie gesagt die Möglichkeiten des Zuverdienstes. Dazu kommt noch die gemeinsam beschlossene Änderung der Erhöhung des Schonvermögens, weil Union wie FDP der Meinung sind, dass Eigeninitiative zur Altersvorsorge nicht bestraft werden sollte. Der Hinzuverdienst zu Hartz IV soll neu geregelt werden, damit die Anreize, auch mehr als 100 Euro hinzuzuverdienen, verbessert werden.

FAZ:Wo wollen Sie die zig Milliarden, die künftig jedes Jahr gespart werden müssen, denn wegnehmen, wenn nicht bei Leistungsgesetzen wie Hartz IV?

Merkel: Das Bundesverfassungsgericht hat die sozialstaatliche Verbürgung des Existenzminimums deutlich gestärkt. Die Richter haben uns aufgefordert, die Regelsätze für Erwachsene zu prüfen, auch wenn die geltenden nicht evident falsch sind. Damit gelten die heutigen Sätze als Orientierungspunkt. Für Kinder müssen die Sätze völlig eigenständig und nicht wie bisher als bloßer Prozentsatz der Erwachsenensätze errechnet werden. Hinzu kommt, dass Bildungsleistungen für Kinder anders als heute berücksichtigt werden müssen. Das könnte auch als Sachleistungen erfolgen. Diese Arbeit müssen wir in diesem Jahr leisten. Was das Konsolidieren angeht, so werden wir die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten. Diese Koalition hat sich dabei das vorrangige Ziel gesetzt, mehr Wachstum zu erzeugen. Wachstum heißt vor allem mehr Beschäftigung. Durch mehr Beschäftigte haben wir mehr Einnahmen in den Sozialkassen und im Haushalt. Insofern steht für uns die Frage im Vordergrund, wie wir für Beschäftigung sorgen.

FAZ: Westerwelle hat eine geistig-politische Wende gefordert, als ginge es um eine neue Sozialstaatsphilosophie. Machen Sie diese Wende mit?

Merkel: Wir haben trotz aller schon genannten Aufgaben alles in allem einen leistungsfähigen Sozialstaat, der dem Einzelnen Sicherheit und Halt gibt und dem Land seit Jahrzehnten Stabilität. Mir geht es um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, wozu auch Forschung, Bildung, Antworten auf die Demographie und Fragen des Zusammenhalts der Gesellschaft zählen; daran arbeiten wir bereits sehr intensiv. Bei all diesen Themen haben Union und FDP große Übereinstimmungen. Diese christlich-liberale Koalition ist am besten geeignet, Deutschland zukunftsfest zu machen.

FAZ: Warum streiten Sie sich dann bei so vielen Themen: Steuern, Gesundheit, Kernkraft, Vertriebene . . .?

Merkel: Nach der Diskussion folgen Lösungen, das ist entscheidend. So ist bei der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ein guter Kompromiss erzielt worden, und dieses wichtige Projekt kann jetzt umgesetzt werden. Das halte ich für wichtig, dafür habe ich mich als Bundeskanzlerin immer eingesetzt. Steuerpolitisch gibt es zwischen Union und FDP im Kern keinen Unterschied: Wir alle wollen ein einfacheres, niedrigeres und gerechteres Steuersystem. Und zugleich gilt für uns gemeinsam, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse berücksichtigt werden muss. Beide Ziele werden wir in diesem Jahr bei der Entscheidung miteinander in Einklang bringen müssen. Auch beim Thema Kernenergie halten wir uns an das im Koalitionsvertrag vereinbarte Verfahren, und wir werden im Herbst in einem Gesamtkonzept zum Energiemix für Deutschland über die Laufzeiten entscheiden. Dass Minister aufgrund der Verantwortung in ihren Ressorts unterschiedliche Akzente setzen, ist selbstverständlich, das habe ich früher genauso gemacht.

FAZ: Hatte Röttgen seinen kernkraftkritischen Vorstoß mit Ihnen abgestimmt?

Merkel: Die Bundesminister leiten nach dem Grundgesetz ihren Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung, und sie alle arbeiten auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung. Dazu steht auch Norbert Röttgen.

FAZ: Vor der Bundestagswahl haben Sie eine Debatte um die Atomkraft gemieden. Ist es da klug, sie nun vor der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zuführen?

Merkel: Debatten müssen geführt werden, wenn sie da sind. Jeder Versuch, Diskussionen unter dem Tisch zu halten, führt bekanntlich meistens dazu, dass sie dann mit doppelter Wucht nach oben gelangen. Die Koalition hat eine klare Haltung zur Kernkraft: Wir wollen sie als Brückentechnologie. Wir gehen davon aus, dass die deutschen Kernkraftwerke länger laufen werden als bis zum Jahr 2020, wie es die rotgrüne Regierung vorhatte. Wir werden nun unter der Maßgabe der Versorgungssicherheit, des Strompreises und der Umwelt- und Klimaverträglichkeit den besten Pfad suchen, um in das Zeitalter der regenerativen Energien zu gelangen.

FAZ: Ist Röttgen Wegbereiter für ein schwarz-grünes Bündnis, erst am Rhein, dann an der Spree?

Merkel: Nein. Das ist eine unsinnige Diskussion. In Nordrhein-Westfalen arbeite ich dafür, dass Jürgen Rüttgers seine Koalition mit der FDP auch nach der Wahl fortführen kann. Und für Berlin gilt: Wir haben jetzt seit 120 Tagen endlich die Koalition aus Union und FDP im Bund, für die wir viele Jahre gearbeitet haben. Beide Parteien haben mit Abstand die größten inhaltlichen Schnittmengen. Schaut man sich dagegen die Positionen von Union und Grünen genauer an, sieht man, wie weit wir auseinander liegen. Darüber hinaus ist das, was die Grünen für sich reklamiert hatten, nämlich für Klimaschutz und erneuerbare Energien zu sein, längst Glicht mehr ihr Alleinstellungsmerkmal. Das ist heute Gemeingut aller Parteien. Ich war vier Jahre Bundesumweltministerin und finde, dass dieses Thema bei der CDU sehr gut aufgehoben war und ist. Norbert Röttgen ist ein engagierter Streiter für Klimaschutz und erneuerbare Energien und untermauert diese Kompetenz der CDU.

FAZ: Als Umweltministerin waren Sie für die Kernkraft. Was hat Ihre Haltung verändert?

Merkel: Ich halte den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nach wie vor für verantwortbar. Wir sprechen heute von einer Brückentechnologie, weil seit meiner Zeit als Umweltministerin der Anteil der erneuerbaren Energien in einer unglaublichen Weise gesteigert werden konnte. Damals lag er bei vier Prozent vom Stromverbrauch, heute gibt es Schätzungen mit einem Anteil von 40 Prozent für das Jahr 2030. Das zeigt, wie positiv sich die Förderung der regenerativen Energien ausgewirkt hat. Damit ist ein Ersetzen der Atomkraft viel realistischer geworden als in den Neunziger Jahren zu meiner Zeit als Umweltministerin.

FAZ: Wie lange werden die Meiler Neckarwestheim 1 und Biblis A noch am Netz bleiben?

Merkel: Ich werde mich zu der Laufzeit einzelner Kraftwerke nicht äußern. Zuerst muss wie gesagt grundsätzlich das gesamte Energieszenario mit regenerativen Energien, Kernenergie und fossilen Energien errechnet werden. In diesem Kontext wird dann die Frage zu entscheiden sein, wie lange wir Atomkraft noch brauchen ? und das wird gewiss über 2020 hinaus sein.

FAZ: Wie ist eine Gesundheitsreform mit der FDP möglich, die den Gesundheitsfonds der großen Koalition abschaffen will? Die FDP fordert ja Ihre alte Gesundheitsprämie, doch man hat den Eindruck, dass Sie davon abrücken.

Merkel: Die Koalition ist sich einig, dass wir die Krankenkassenbeiträge von den Lohnkosten stärker entkoppeln wollen, denn in unserer alternden Gesellschaft würden wir sonst die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze aufs Spiel setzen. Das Ziel ist weiterhin Spitzenmedizin für jedermann. Der Gesundheitsfonds ist Ausgangspunkt für die Arbeit an der notwendigen Weiterentwicklung, für die wir jetzt als ersten Schritt eine Regierungskommission eingesetzt haben.

FAZ: Doch die Beiträge an die Kassen steigen.

Merkel: Man sieht an dem Wettbewerbselement der Zusatzbeiträge, die von einigen Krankenkassen verlangt werden, von der Mehrheit der Kassen aber nicht, wie notwendig und sinnvoll es ist, mehr Transparenz in das System zu bringen. Die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Krankenkassen muss für den Versicherten besser sichtbar werden. So können die Versicherten besser entscheiden, bei welcher Krankenkasse sie versichert sein wollen.

Es wird so oder so mit mehr Kosten in Milliardenhöhe zu rechnen sein, allein wegen des Sozialausgleichs. Oder sehen Sie das anders?

Das Gesundheitssystem ist seit jeher ein solidarisches System. Es hat einen Solidarausgleich, der über Beiträge läuft, die an die Löhne gekoppelt sind. Er findet schon heute automatisch in dem System statt. Wenn der Solidarausgleich konzeptionell getrennt wird von den reinen Gesundheitskosten, kann der Versicherte stärker sehen, welche Leistungskraft die jeweilige Kasse hat.

FAZ: Was heißt das konkret?

Merkel: Ich kann das Ergebnis der Regierungskommission nicht vorwegnehmen. Unser Ziel ist, dass wir eine bessere Entkopplung der Arbeitskosten von den Gesundheitskosten und ein weiterhin solidarisches System wollen, verbunden mit einem neu zu definierenden Solidarausgleich. Unter dem Strich kostet das nicht unbedingt mehr Geld, als heute im System vorhanden ist.

FAZ: Dann ist also auch noch Geld für Steuersenkungen da?

Merkel: Die Frage der Entlastung, insbesondere in den mittleren und kleinen Einkommen –  Stichwort Mittelstandsbauch -, steht selbstverständlich auf der Tagesordnung, ebenso wie das Einhalten der Schuldenbremse. Insgesamt wird es darauf ankommen, die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung zu schaffen.

FAZ: In Nordrhein-Westfalen reicht es laut Umfragen nicht wieder für Schwarz-Gelb. Wären dann die großen Streitkomplexe mit der FDP im Bund – Steuerstrukturreform und Gesundheitsreform – vom Tisch, weil es dafür keine Bundesratsmehrheit mehr gäbe?

Merkel: Wir wollen einen Sieg von CDU und FDP bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Steuervereinfachung und -entlastung, Haushaltskonsolidierung, Wachstum, Beschäftigung, Bildung ? das sind die gemeinsamen Aufgaben der Bundesregierung. Wir wollen für die Lösung dieser großen Aufgaben natürlich eine Mehrheit im Bundesrat, aber auch für Nordrhein-Westfalen selbst ist eine christlich-liberale Regierung die beste Regierung.

FAZ: Haben Sie denn jetzt den Eindruck, Sie können durchregieren?

Merkel: Der Bundesrat ist kein Parlament, sondern vertritt Länderinteressen. Deshalb müssen alle Bundesregierungen harte Verhandlungen um einen Interessenausgleich mit den Ländern im Bundesrat führen. Allerdings gibt es mit der Mehrheit von Landesregierungen aus Union und FDP natürlich weit bessere Voraussetzungen zur Umsetzung der Projekte, die wir uns vorgenommen haben, als in allen anderen Konstellationen.

FAZ: Der SPD-Vorsitzende Gabriel möchte Steuerhinterziehung als Verbrechen anstatt als Vergehen geahndet sehen ab 500000 Euro. Ab einer Million Euro müsse Gefängnisstrafe ohne Bewährung drohen. Sind das vernünftige Vorschläge?

Merkel: Schnellschüsse helfen hier nicht weiter. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und muss hart bestraft werden, weil die Forderung nach mehr Ehrlichkeit natürlich für alle in unserer Gesellschaft gelten muss. Das Strafmaß für Steuerhinterzieher muss sich einfügen in die gesamte Rechtsordnung.

FAZ: Freuen Sie sich darüber, dass jeden Tag neue Steuersünder-CDs angeboten werden?

Merkel: Nein, wir arbeiten vielmehr daran, alles zu tun, diese Steuerhinterziehung zu verhindern. Bundesfinanzminister Schäuble hat seinem Kollegen Herrn Merz und ich der Schweizer Bundespräsidentin Leuthard klar gesagt, wie notwendig daher ein baldiger Abschluss für ein Doppelbesteuerungsabkommen ist. Bei unseren Schweizer Nachbarn scheint ein Diskussionsprozess im Gange zu sein.

FAZ: Die Währungsunion steckt im Fall Griechenland in der Klemme. Der Maastrichtvertrag verbietet das „Raushauen" eines EU-Staates, der überschuldet ist. Andererseits gibt es das Solidaritätsgebot. Ist die EU für solche Fälle gerüstet?

Merkel: Der Euro ist jetzt zum ersten Mal seit seiner Einführung in einer schwierigen Situation, die er aber bestehen wird. Zunächst ist festzuhalten, dass sich der Euro in der Finanzkrise bewährt hat und der EU große Turbulenzen erspart geblieben sind. Die internationale Wirtschaftskrise hat aber auch zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung geführt. Nun wird zum Teil gegen Länder spekuliert, in denen diese Entwicklung auf eine ungünstige Ausgangslage und ungelöste Strukturprobleme traf. Das ist gefährlich. Allerdings müssen Lösungsansätze an den Ursachen ansetzen, und zwar der Nachhaltigkeit der Staatshaushalte der betroffenen Länder.

Ich bin der Meinung, dass eine wirkliche Vertrauensbildung auf den Finanzmärkten in den Euro nur dann gelingen kann, wenn in Griechenland wie in weiteren Ländern, in denen auch sehr hohe Defizite bestehen, das Problem bei der Wurzel gepackt wird. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass der griechische Ministerpräsident, anders als das früher der Fall war, jetzt die Dinge offen gelegt hat und die hohe Bereitschaft seines Landes zur Konsolidierung der Finanzen und Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit bekundet.

Die Glaubwürdigkeit auf den Märkten hängt davon ab, dass die für dieses Jahr geplante Haushaltskonsolidierung von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts tatsächlich erreicht wird. Ich bin sehr zufrieden, dass die griechische Regierung bereit ist, zusammen mit der EUKommission, der Europäischen Zentralbank und mit den Experten des IWF die Situation zu bewerten und gegebenenfalls auch zusätzliche Maßnahmen umzusetzen.

FAZ: Ist die Wurzel des Problems nicht, dass wir zwar eine gemeinsame Währung haben, aber national unterschiedliche Wirtschaftspolitiken, von Fälschungen und Tricksereien einmal abgesehen?

Merkel: Die Klammer für die nationalen Wirtschaftspraktiken ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, da dem Euro keine politische Union zugrunde liegt. Die gemeinsame Währung wurde eingeführt mit der Verpflichtung, dass die Länder sich an den Stabilitäts- und Wachstumspakt halten. Mit dem Pakt haben wir ein vertragliches Instrument, das eine Koordinierung der Haushaltspolitik für die Stabilität des Euros sichert.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist von allen 27 Mitgliedstaaten, nicht nur den Euro-Staaten, unterzeichnet worden und muss von ihnen eingehalten werden. Die gerade für Deutschland in der Tradition der harten D-Mark entscheidende Zielsetzung der Stabilität des Euro werde ich mit allem Nachdruck verfolgen. Falsch wäre im Übrigen, eine koordinierte Wirtschaftspolitik nur für die Euro-Gruppe zu machen, während die anderen tun und lassen könnten, was sie wollen, denn wir sind natürlich auch über den Handel eng mit unseren Nachbarn verflochten.

FAZ: Was bedeutet das alles für die Erweiterung der Euro-Zone?

Merkel: Man wird in Zukunft noch genauer hinschauen müssen, welches Land den Euro bekommen darf. Wir brauchen mehr Transparenz und Konsequenz, damit ein Unterlaufen der Kriterien unmöglich wird.

FAZ: Es gibt ja noch ein ganz anderes internationales Sorgenkind: Iran. Sie sagten schon Vorjahren, dass Iran unter keinen Umständen in den Besitz der Atombombe kommen dürfe. Nun häufen sich die Berichte, dass genau das droht. Wie wollen Sie das noch verhindern?

Merkel: Die Staatengemeinschaft arbeitet jetzt daran, die Sanktionen zu verschärfen, wenn Iran nicht einlenkt. Das geschieht im Augenblick unter dem französischen Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Am besten wäre, im Sicherheitsrat Einigkeit über schärfere Sanktionen zu erzielen. Ob das möglich ist, werden die nächsten Wochen zeigen.

FAZ: Wenn es im Sicherheitsrat nicht klappt: Gibt es dann eine Koalition der Willigen, die ohne den Segen der Vereinten Nationen Sanktionen beschließen?

Merkel: Ich setze darauf, dass Russland, China und möglichst viele andere Länder Verantwortung zeigen und mitmachen. Wir stimmen unser weiteres Vorgehen eng mit der Europäischen Union ab; wir wollen als Europäer alle Schritte gemeinsam unternehmen.

FAZ: Haben Sie mit der deutschen Wirtschaft über Sanktionen und ihre Folgen gesprochen?

Merkel: Ja. Es werden derzeit viele Gespräche geführt, bei uns und in anderen Ländern. Die Entwicklung in Iran gibt Anlass zu großer Besorgnis. Das teilen viele in der Wirtschaft. Wir haben den Eindruck, dass Iran auf Druck in bestimmten Bereichen reagieren würde. Alles, was beispielsweise mit Raffinerietechnik und Erdölprodukten zu tun hat, hat für Iran eine strategische Bedeutung.

FAZ: Was würden solche Sanktionen Deutschland kosten?

Merkel: Die Frage ist immer: Was kostet uns das Nichthandeln? Ich glaube, dass die Kosten eines atomar bewaffneten Iran und der dadurch möglicherweise ausgelösten Gefahr weiteren Wettrüstens im Nahen Osten und darüber hinaus erheblich höher wären.

Mit der Kanzlerin sprachen Berthold Kohler, Günther Nonnenmacher und Wulf Schmiese.