"Da muss man Flagge zeigen"

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Im Wortlaut: Merkel "Da muss man Flagge zeigen"

Was heißt es, in Deutschland Unternehmer zu sein? Wie schaut die Politik auf Familienunternehmen? Und wie lässt sich dieses polarisierte Land durch unsere aufgewühlten Zeiten steuern? Dazu äußert sich Bundeskanzlerin Merkel im Gespräch mit Trumpf-Geschäftsführerin Leibinger-Kammüller in einem Interview.

  • Interview mit Angela Merkel
  • Wirtschaftswoche
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz.

Bundeskanzlerin Merkel: Nehme Familienunternehmen und ihre Anliegen sehr ernst.

Foto: Bundesregierung/Denzel

Das Interview im Wortlaut:

Wirtschaftswoche: Frau Bundeskanzlerin, Frau Leibinger-Kammüller, wann sind Sie beide sich eigentlich zuletzt begegnet?

Angela Merkel: Ich glaube, das war bei einem Abendessen mit Unternehmerinnen und Unternehmern.

Leibinger-Kammüller: Genau. Und aus der Ferne haben wir uns noch beim letzten Wirtschaftsgipfel der Tageszeitung "Die Welt" in Berlin gesehen. Wir haben uns jedenfalls zugelächelt. Und bei der Hannover Messe.

Wirtschaftswoche: Das klingt nach sehr repräsentativen Treffen. Gibt es auch mal Treffen im kleinen Kreis, wo Sie richtig streiten?

Merkel: Ich bekomme es schon mit, wenn es in bestimmten Sachfragen hakt. Frau Leibinger-Kammüller ist ja eine Größe in Baden-Württemberg, und die baden-württembergischen Politiker erzählen mir, wenn der Haussegen schief hängt.

Wirtschaftswoche: Sie waren ja auch beim Verband der Familienunternehmer im Juni. Da ist der Verbandsvorsitzende Brun-Hagen Hennerkes sehr fordernd aufgetreten und hat das damit begründet, dass die Familienunternehmen für eine Dreiviertelmillion Arbeitsplätze stehen. Sie haben erwidert, Deutschland habe insgesamt 43 Millionen Arbeitnehmer.

Merkel: Dass ich dort eine Rede gehalten habe und was ich in dieser Rede gesagt habe, hat klar ausgedrückt, dass ich die Familienunternehmen und ihre Anliegen sehr ernst nehme. Aber ich muss natürlich auch ab und an darauf hinweisen, dass die Bundesregierung ebenso andere Interessen zu berücksichtigen hat, die für ein Familienunternehmen oder einen Wirtschaftsverband nicht im Vordergrund stehen.

Wirtschaftswoche: Wenn es nicht die Zahl der Arbeitsplätze und Umsatzzahlen sind, was macht die Familienunternehmen dann so wichtig?

Merkel: Das ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass sich die Familienunternehmen in Deutschland längerfristig ausrichten. In der Wirtschaft, gerade bei börsenorientierten Unternehmen, werden ja oft sehr kurzfristige Bewertungen vorgenommen. Familienunternehmen denken generationenübergreifend. Das bringt ein stabilisierendes Element in die Arbeit, und dabei vergessen die meisten Familienunternehmen auch nicht, dass sie sich permanent dem Wandel stellen und ihn aktiv gestalten müssen.

Leibinger-Kammüller: Das ist eine hervorragende Beschreibung dessen, was wir im günstigsten Fall tun. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Aber da unterscheiden wir uns schon von den Dax-Unternehmen, die quartalsweise berichten müssen und von ihren Shareholdern abhängig sind. In den Familienunternehmen sind die Shareholder in der Regel Familienmitglieder. Und die sind geduldiger. Von Zeit zu Zeit gibt es aus unseren Reihen mal Drohungen, dass wir Deutschland verlassen. Doch das ist kurzfristig gedacht. Wir fühlen uns wohl hier, wenngleich es uns manchmal schwergemacht wird.

Wirtschaftswoche: Meinen Sie damit die Erbschaftsteuer? Dagegen sind die Familienunternehmen ungewöhnlich lautstark zu Felde gezogen, mit eher wenig Erfolg.

Leibinger-Kammüller: Das sehe ich anders. Es gab Ungereimtheiten im bestehenden Gesetz, die das Bundesverfassungsgericht bemängelt hat. Das musste man seitens des Gesetzgebers korrigieren. Die Verbände haben darauf zu Recht mit ganzer Kraft reagiert. Natürlich würden wir so eine Reform anders gestalten. Aber wir sehen auch, dass die CDU nicht allein bestimmen kann. Sie steckt ja in einer Koalition. Ich denke, wenn wir das Vorhaben in der jetzigen Form verabschieden, können wir einigermaßen damit leben.

Wirtschaftswoche: Ein Knackpunkt war die sogenannte Bedürfnisprüfung. Im Grunde gilt für jeden Hartz-IV-Empfänger in Deutschland, das er sich einer Bedürfnisprüfung unterziehen muss. Warum Familienunternehmen nicht?

Leibinger-Kammüller: Weil es hochbürokratisch, hochkomplex, hochaufwendig ist, die verschiedenen Vermögensformen aufzuschlüsseln. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass betriebliche Vermögenswerte dramatischen Konjunkturschwankungen unterliegen können. Die Bedürfnisprüfung, wonach die Hälfte des Privatvermögens zur Begleichung der Steuerschuld herangezogen werden soll, ist schlicht einfacher. Aber das ist meine sehr persönliche Sicht. Auch deshalb, weil unsere Familie wenig Privatvermögen hat, so gut wie alles im Unternehmen gebunden ist.

Wirtschaftswoche: Warum kann man Unternehmen nicht ganz von der Erbschaftsteuer befreien, wenn sie genau das leisten, was Sie, Frau Merkel, eben beschrieben haben?

Merkel: Ich bin nicht der Meinung, dass die Erbschaftsteuer an sich falsch ist. Ich halte es für richtig, Vermögen, das zwar schon versteuert ist, aber dann von einer Generation an die andere abgegeben wird, zu besteuern - zumindest wenn es nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen eingesetzt wird. Vermögen, das einfach nur weitervererbt wird, aber nicht dem Gemeinwohl dient, muss höher besteuert werden, als wenn es in die gesellschaftliche Zukunft investiert wird.

Leibinger-Kammüller: Dass man für ein Erbe gar keine Steuern zahlen soll, war nie unser Ansinnen. Es kommt aber darauf an, dass wir den Übergang, den die Frau Bundeskanzlerin gerade beschrieben hat, so gestalten, dass den Erben nicht die Luft ausgeht. Unsere Kinder zum Beispiel müssten Hunderte von Millionen Euro Erbschaftsteuer zahlen, wenn es zu der krassesten Form der Erbschaftsteuerregelung käme. Sie könnten dies nie und nimmer, ohne Unternehmensanteile an Investoren zu verkaufen. Das würde Familienunternehmen wie Trumpf fundamental verändern. Mit einem Kompromiss können wir sie zumindest motivieren weiterzumachen.

Merkel: Die Erbschaftsteuer ist im Grunde der fragilste Punkt von Familienunternehmen: Bei Erbschaftstreitigkeiten sind Familienunternehmen natürlich noch anfälliger als Unternehmen, die in einem breiten Streubesitz sind. Die Gefahr ist groß, dass dann Dritte kommen und solche Unternehmen kaufen. Der Staat kann nicht verhindern, dass sich Familien in die Haare kriegen, aber der Staat sollte durch seine steuerlichen Regelungen dazu beitragen, dass der Übergang innerhalb der Familie gelingt.

Wirtschaftswoche: Frau Merkel, haben Sie je mit dem Gedanken gespielt Unternehmerin zu werden?

Merkel: Ehrlich gesagt: nein. Mir ist höchstens, und das ist lange Zeit her, mal die Frage durch den Kopf gegangen, ein Café oder Restaurant zu betreiben.

Wirtschaftswoche: Wo hätten Sie das denn betreiben wollen?

Merkel: Wir haben als Studenten im Studentenclub Discos veranstaltet. Da habe ich gearbeitet und mir vorgestellt, ich könnte auch ein nettes Restaurant betreiben. Nach der deutschen Einheit, als das ja überhaupt erst hätte relevant werden können, hatte ich aber immer gut zu tun, weil ich gleich Bundesministerin wurde. Mich fasziniert an Unternehmen und an Unternehmern, dass sie, auch wenn es bei ihnen sehr gut läuft, nie stehenbleiben, sondern immer weitermachen, immer noch mal eine neue Idee haben, etwas dazukaufen, wachsen wollen.

Leibinger-Kammüller: Das muss man. Wenn Sie nicht wachsen, wenn Sie sich nicht weiterentwickeln, neue Märkte erschließen, die Mitarbeiter entwickeln, sind Sie weg.

Wirtschaftswoche: Hat Frau Merkel das Zeug zu einer Unternehmerin?

Leibinger-Kammüller: Ja.

Wirtschaftswoche: Warum?

Leibinger-Kammüller: Weil sie entscheidungsstark ist. Weil sie mit unliebsamen Entscheidungen leben kann, die andere anfechten. Und weil sie enorm fleißig ist.

Merkel: Bleibt die Frage, ob Frau Leibinger-Kammüller in die Politik passen würde.

Leibinger-Kammüller: Ich wäre wahrscheinlich längst im Gefängnis. Weil ich nicht die Contenance hätte, die man in der Politik haben muss, wenn man angefeindet wird. Das Wunderbare am Unternehmertum ist, dass man ab einem gewissen Punkt einfach entscheiden kann. Da gibt es natürlich gesetzliche Barrieren, es gibt bürokratische Hindernisse, den Betriebsrat. Aber wenn ich etwas will und die Idee stimmt, dann kann ich es durchsetzen. Das ist in der Politik ganz anders. Sie müssen viel mehr abstimmen. Und sie haben wenig Zeit zum Nachdenken.

Merkel: Na ja, man kann schon nachdenken.

Leibinger-Kammüller: Sie müssen doch viel schneller reagieren.

Merkel: Das mag sein. Aber auch in der Welt der Unternehmen ist der Takt schneller geworden.

Leibinger-Kammüller: Schneller als zu Zeiten meines Vaters, mag sein.

Merkel: Der große Unterschied scheint mir zu sein, dass Sie die Möglichkeit haben, viele Dinge erst einmal in Ruhe in ganz kleinem Kreis durchzusprechen, und dass die Öffentlichkeit nicht sofort alles verfolgt.

Leibinger-Kammüller: Und wenn Sie einmal was Ungeschicktes sagen oder eine blöde Geste machen, kommt es millionenfach zurück, wird Ihnen immer wieder vorgehalten. Das finde ich schon sehr herausfordernd.

Merkel: Trotzdem glaube ich, dass auch wir Politiker nach wie vor die Möglichkeit der Selbstbestimmung haben. Es kann anstrengend sein, sich den dafür nötigen Raum zu schaffen, aber das muss man letztlich. Und ich versuche immer auch, mir die Zeit zu nehmen, Entscheidungen auch wirklich zu durchdenken, dazu zu lesen oder mit Experten und anderen guten Gesprächspartnern darüber zu diskutieren.

Wirtschaftswoche: Frau Leibinger-Kammüller, Sie müssen bei unternehmerischen Entscheidungen auch abwägen, was für das Unternehmen gut ist und was Ihr Wunsch ist. Wonach richten Sie sich dann?

Leibinger-Kammüller: Ich treffe die großen Entscheidungen nicht allein. Wir haben eine Geschäftsleitung aus fünf Personen. Da sind drei Familienmitglieder, mein Bruder, mein Mann und ich, und zwei nicht zur Familie gehörende Geschäftsführer. Da wird auf gleicher Ebene diskutiert. Und bei den großen Entscheidungen erzielen wir in der Regel Konsens. Es ist nicht mein Stil, dann einfach jemanden zu überstimmen.

Wirtschaftswoche: Ihr Vater soll gesagt haben: Geht es dem Unternehmen gut, geht es der Familie gut.

Leibinger-Kammüller: Ja, das ist etwas, was wir als Kinder natürlich immer gehört haben. Und es stimmt auch. Das Wohl der Familie ist vom Wohl der Firma abhängig. Insofern ist beides eng miteinander verwoben.

Wirtschaftswoche: Was glauben Sie, wie das bei der Bundeskanzlerin ist?

Leibinger-Kammüller: Ähnlich. Das ist doch klar.

Merkel: Für mich war das von Kindesbeinen an eigentlich selbstverständlich, weil mein Vater eine kirchliche Weiterbildungseinrichtung leitete und wir Arbeit und Familie immer als miteinander verwoben erlebt haben. Wenn ich das so von außen beurteilen kann, ist in einem Unternehmen anders, dass dort unmittelbar sichtbar wird, was eine Entscheidung für Mitarbeiter bedeutet. Wenn wir die Erbschaftsteuer ändern, hat das natürlich Einfluss auf Menschen. Aber Ursache und Wirkung sind nicht so direkt spürbar wie in einem Unternehmen.

Leibinger-Kammüller: Sie spüren das fast physisch. Ich bekam zum Beispiel gestern Abend eine Mail von einem Mitarbeiter. Er hat Angst, dass sein Arbeitsplatz verlegt wird. Er hat mir geschrieben, er sei in Sorge. Ich habe sofort geantwortet: Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe mich erkundigt, Sie werden weiter beschäftigt. Das ist diese Unmittelbarkeit, die ich meine. Natürlich sind von Ihren Entscheidungen viel mehr Menschen betroffen als von meinen, Frau Merkel. Aber ich spüre sie direkter.

Wirtschaftswoche: Ihr Satz "Wir schaffen das" war doch unmittelbar in der Wirkung, Frau Merkel?

Merkel: Ja, aber nicht wie bei Frau Leibinger-Kammüller. Bei mir ist es doch so: Ich habe "Wir schaffen das" gesagt, um auszudrücken, dass eine sehr fordernde Aufgabe auf uns zukommt, dass wir aber die Kraft haben, um sie gemeinsam zu bewältigen. Insofern bezog und bezieht sich das unmittelbar auf das, was wir bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen schon geleistet haben und was noch zu tun ist.

Wirtschaftswoche: Noch einmal zum Treffen des Verbands der Familienunternehmer. Da hat Herr Hennerkes Kanzlerinnen-Selfies mit Flüchtlingen kritisiert und das Abkommen mit der Türkei "Erpressung" genannt. Fühlen Sie sich gut vertreten, Frau Leibinger-Kammüller?

Leibinger-Kammüller: Es liegt mir fern, Herrn Hennerkes zu kritisieren, dessen Verband unsere Interessen genau wie die Familienunternehmer von Herrn Göbel gut vertritt. Aber ich finde, einen Satz wie "Wir schaffen das" würde eine Unternehmerin auch sagen, um den Menschen in einer schwierigen Lage Mut zu machen. Und das mit den Selfies: Mein Gott, wollen wir uns damit jetzt hauptsächlich aufhalten? Es ist nicht messbar, wie viele Menschen geflohen sind aufgrund dieser Bilder. Sie sind geflohen. Ich fand den humanitären Ansatz bemerkenswert. Die CDU und ihre Bundesvorsitzende haben angesichts einer uns medial vor Augen stehenden Katastrophe bewiesen, dass das "C im Kürzel" nicht einfach so dahingeschrieben ist.

Wirtschaftswoche: Das heißt, die Äußerung von Herrn Hennerkes fanden Sie nicht so gut?

Leibinger-Kammüller: Dass wir Menschen in Not ins Land gelassen haben, war richtig. Jetzt sollten wir sehen, dass wir es richtig anpacken. Wir müssen diejenigen zurückschicken, die hier kein Bleiberecht haben. Und wir müssen der Bevölkerung ganz ehrlich sagen, dass manches schwieriger wird als gedacht.

Wirtschaftswoche: Mein Eindruck ist, das hat die Bevölkerung, wie Sie sie nennen, schon verstanden.

Leibinger-Kammüller: Aber es fehlt die Nüchternheit, einfach zu sagen: Ja, wir brauchen viele Psychologen, wir brauchen Lehrer, wir brauchen mehr Polizei. Es wird uns wahnsinnig viel Geld kosten. Und es wird sicher Schwierigkeiten geben. Aber wir können es, wenn wir es richtig machen, schaffen.

Wirtschaftswoche: Frau Merkel, die Dax-Konzerne haben bislang 54 Flüchtlingen Jobs gegeben. Das ist nicht das, was Sie sich an Unterstützung der Wirtschaft vorstellten, oder?

Merkel: Unabhängig davon, wie belastbar diese Zahl ist: Für Unzufriedenheit ist es zu früh. Wenn unser Land in drei Jahren immer noch nicht nennenswert weiter wäre, wäre ich auch unzufrieden. Aber viele Unternehmen tun ja einiges für die Integration von Flüchtlingen durch Arbeit und Ausbildung, gerade im Mittelstand, auch im Handwerk. Und vereinzelt, das darf man nicht vergessen, findet man auch Flüchtlinge, die sehr gut ausgebildet sind, die gut Englisch sprechen, die eine Ingenieurausbildung haben. Aber klar, die Mehrheit...

Wirtschaftswoche: ...sind nicht syrische Zahnärzte.

Merkel: Wenn es um Menschen geht, die aus wirklicher Not vor Krieg und Terror geflohen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass nur der Englisch sprechende syrische Ingenieur kommt, relativ gering. Es war nie zu erwarten, dass nach wenig mehr als einem Jahr die meisten Flüchtlinge schon im Arbeitsleben angekommen sind. Wir müssen diese große Aufgabe der Integration nüchtern sehen, und es ist offensichtlich, dass noch vieles zu tun bleibt.

Wirtschaftswoche: Wo sehen Sie Fortschritte?

Merkel: Es werden Tausende von Lehrern eingestellt. Wir haben die Möglichkeit, Sprachkurse zu geben, vereinfacht und ausgeweitet. Wir haben die Baugesetze verändert. Wir haben ein Integrationsgesetz verabschiedet, das nach dem Motto "Fördern und Fordern" Angebote zur Integration macht und gleichzeitig auch die Pflichten der zu uns kommenden Menschen klar benennt. Als Nächstes müssen wir mit den Unternehmen ins Gespräch gehen und fragen: Was habt ihr für Erfahrungen gemacht mit Flüchtlingen, und wo hapert es?

Wirtschaftswoche: Was sind Ihre Forderungen an die Wirtschaft?

Merkel: Ich gehe in solche Gespräche nicht mit Forderungen. Ich höre mir erst einmal an, wo die Erfolge sind und wo es Hürden gibt. Ich will eine solche Hürde nennen, über die mir berichtet wurde: Das Umschreiben eines syrischen Führerscheins auf einen deutschen kostet 500 Euro. Können wir da nicht erst einmal ein Darlehen geben, bis mithilfe dieses Führerscheins Geld verdient wurde? Eine richtige Entscheidung war beispielsweise, dass wir es leicht gemacht haben, Flüchtlinge in Leiharbeit einzustellen.

Wirtschaftswoche: Wie viele Flüchtlinge haben Sie im Unternehmen, Frau Leibinger-Kammüller?

Leibinger-Kammüller: Wir haben fünf eingestellt und bilden seit 1. September drei weitere aus. Wir tun es, weil wir es für unsere bescheidene Pflicht halten. Nur sieht die Wirtschaft: Es sind viele nicht so vorgebildet, wie wir es eigentlich brauchen. Sie müssen den neuen Mitarbeitern Dolmetscher an die Seite stellen, sie extra betreuen. Aber das sind Details. Man sollte die Aufgaben seitens der Politik nur auch klipp und klar benennen.

Wirtschaftswoche: Und benennt der Staat die Aufgaben?

Merkel: Ja, das tun wir. Wir haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgebaut und verstärkt. Wir werden in diesem Herbst jeden einzelnen Flüchtling erfasst haben. Bis 2017 werden dann alle Anträge bearbeitet sein.

Leibinger-Kammüller: Das ist enorm. Aber das allein wird die Bevölkerung nicht zufriedenstellen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Bürger sicher fühlen. Und wir müssen jenen, die zu uns kommen, unmissverständlich sagen, was wir von ihnen erwarten.

Merkel: Wir müssen das Gefühl, es bedürfe mehr Sicherheit im öffentlichen Raum, ernst nehmen, denn es ist die Aufgabe des Staates, Sicherheit zu gewährleisten. Dafür braucht man auch mehr Polizisten auf der Straße. Der Bund wie auch die Länder haben jetzt Maßnahmen ergriffen, neue Stellen bei der Polizei geschaffen. Sicher werden wir auch noch mehr tun müssen. Ich will auch noch mal bekräftigen, was Frau Leibinger-Kammüller gesagt hat, nämlich dass wir denen, die zu uns gekommen sind, sagen müssen: Die Tatsache, dass unser Land Sie aufnehmen kann, hängt damit zusammen, dass hier bestimmte Werte und Prinzipien gelten. Niemand soll sein Heimatland vergessen oder seine Kultur verleugnen. Aber wir haben die Erwartung, dass diejenigen, die länger oder dauerhaft bleiben, sich zu diesen Werten und Grundsätzen des Zusammenlebens bekennen und dass sie so verstanden loyal zu dem Land und den Menschen sind, die sie aufnehmen.

Wirtschaftswoche: Die Debatte hat das Land sehr aufgewühlt.

Merkel: Auch polarisiert.

Wirtschaftswoche: Ist das ein Beleg für Sie, dass es schwieriger geworden ist, das Land auf gemeinsame Werte und Ziele einzuschwören?

Merkel: Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder solche Kontroversen. Da muss man auch Flagge zeigen.

Wirtschaftswoche: Und wenn das der AfD weiterhin einen Wahlerfolg nach dem anderen beschert, würden Sie Ihre Position dann überdenken?

Merkel: Wenn ich von der Richtigkeit einer Position überzeugt bin: nein. Es verändert aber die Aufgabe, die dann heißt, mit welchen konkreten Lösungsangeboten wir Wählerinnen und Wähler der AfD wieder als Wähler der CDU oder zum Beispiel auch als Wähler der SPD zurückgewinnen.

Wirtschaftswoche: Aber erst einmal sind sie ja dann weg.

Merkel: Ich muss bei jeder Entscheidung, die ich treffe, auch bedenken, welche Auswirkung, möglicherweise welcher Schaden einträte, wenn ich anders entschiede. Deswegen bin ich überzeugt, dass die Grundsatzentscheidungen in der Flüchtlingspolitik seit letztem Sommer richtig waren. Wenn aber eine Situation so polarisiert wie derzeit, dann bin ich damit natürlich nicht zufrieden. Wir müssen noch mehr für Sicherheit tun, noch besser unter Beweis stellen, dass die Integration gelingt. Da braucht man einen langen Atem, da braucht man ruhige Überzeugtheit und immer wieder Ideen für die Lösung konkreter Probleme.

Wirtschaftswoche: Der Unmut vieler Menschen über Flüchtlinge vermischt sich gerade mit Stimmungsmache gegen Freihandel, zum Teil gegen Fortschritt. Macht Ihnen das Angst?

Leibinger-Kammüller: Angst wäre ein schlechter Ratgeber für eine Unternehmerin...

Merkel: Übrigens auch in der Politik.

Leibinger-Kammüller: Wir sehen, dass es große Märkte gibt, nicht nur für den deutschen Maschinenbau. Und dass bald offenbar andere dort die Geschäfte machen. Das bedeutet ja nicht, dass man über einzelne Themen bei TTIP nicht sprechen kann. Aber grundsätzlich gilt doch: Der Freihandel ist ein riesiger Gewinn, gerade für den Mittelstand. Wenn wir uns davon ausschließen, bleiben wir unter unseren Möglichkeiten.

Wirtschaftswoche: Sie glauben, dass TTIP noch kommt?

Merkel: Ich werde, solange die Verhandlungen laufen, dafür arbeiten, dass es kommt. Ich halte TTIP für Arbeitsplätze und Wohlstand in einem exportorientierten Land wie Deutschland für wichtig. Dass die USA ein Partnerschaftsabkommen mit vielen pazifischen Ländern abschließen, aber womöglich nicht mit Europa, ist doch für unseren Kontinent keine gute Aussicht. Ich sehe, was da im asiatischen Raum los ist. Ich stelle fest, dass China sogar mit der Schweiz ein Freihandelsabkommen hat. Und wir sollen es mit den USA nicht hinbekommen? Das fällt mir schwer zu verstehen.

Wirtschaftswoche: Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat TTIP abgeschrieben.

Leibinger-Kammüller: Das ist sehr bedauerlich.

Merkel: Es ist nicht das erste Mal, dass CDU und SPD in einer für unsere Wirtschaft wichtigen Frage eine unterschiedliche Meinung haben. Natürlich wäre es schön, der Wirtschaftsminister bezöge da die Position wie ich, gerade nachdem er beim Freihandelsabkommen mit Kanada so viel erreicht hat. Aber trotzdem laufen jetzt erst einmal die Verhandlungen weiter.

Wirtschaftswoche: Hätten Sie womöglich den Deutschen entschiedener die Vorteile erklären müssen?

Merkel: Ich werde manchmal gefragt: Warum sind Sie so viel im Ausland unterwegs? Alles, was ich dort tue - und das versuche ich jedem zu erklären -, hat auch mit der Sicherheit, dem Frieden und dem Wohlstand unseres Landes und unserer Bürger zu tun. Ich frage mich manchmal, Frau Leibinger-Kammüller, wie es Familienunternehmen mit teilweise jahrhundertelanger Tradition ergeht, wenn sie sich in der heutigen Wirtschaftsordnung mit ihren Werten in einem ganz anderen politischen Umfeld immer neu dem Wettbewerb stellen müssen. Viele sind ja zum Beispiel in China sehr aktiv, was wieder anders als mit den USA ist, über die wir zu TTIP sprachen.

Leibinger-Kammüller: Wir müssen in all diesen Märkten aktiv sein. Aber innerhalb unserer Mauern halten wir uns natürlich an die Standards, die auf der ganzen Welt für Trumpf gelten. Wir behandeln die Mitarbeiter gut, wir bezahlen sie gut, wir bezahlen Frauen und Männer gleich, wir halten uns frei von Korruption. Und wenn irgendwas vorkommt, trennen wir uns von dem Mitarbeiter.

Wirtschaftswoche: Das heißt, Sie exportieren jetzt Sozialleistungen nach China?

Leibinger-Kammüller: Ja.

Wirtschaftswoche: Belasten wir deutsche Unternehmen zu stark? Stichwort: Mindestlohn.

Leibinger-Kammüller: Der Mindestlohn belastet die Metallbranche nicht.

Wirtschaftswoche: Und was ist mit dem Rentenpaket oder dem sogenannten Entgeltgleichheitsgesetz, das gleiche Löhne für Männer und Frauen festschreibt?

Leibinger-Kammüller: Das müssen Sie verhindern, Frau Bundeskanzlerin.

Merkel: Ich werde dafür arbeiten, dass wir es vernünftig ausgestalten.

Leibinger-Kammüller: Kinderle, das ist ja fürchterlich! Familienministerin Manuela Schwesig geht von völlig falschen Vergleichsgrößen aus. Das wissen alle hier im Raum Anwesenden. Wenn man sich den irrsinnigen bürokratischen Aufwand vorstellt, dass jede Arbeitnehmerin das Recht hat, die Gehälter von fünf vergleichbaren Arbeitnehmern zu sehen, verliere ich den Glauben in politische Empathie für unternehmerische Realitäten.

Merkel: Wir sollten gerade für tarifgebundene Betriebe eine gute Lösung finden, die nicht zu diesen befürchteten stärkeren Belastungen führt. Ich bin schon beunruhigt: Die Tarifbindung haben wir einmal als einen Kernbereich sozialer Marktwirtschaft gesehen. Heute liegt die Tarifbindung, bezogen auf die Beschäftigten insgesamt, noch bei über 50 Prozent, in den neuen Bundesländern aber darunter. Und wenn das Zusammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht mehr funktioniert, dann wird der Staat in die Pflicht genommen.

Leibinger-Kammüller: Ich sagte es gerade am Beispiel China: Ich bin absolut für gleichen Lohn für gleiche Arbeit, vollkommen klar. Bei allen Tarifmitarbeitern unserer Branche findet per Definition eine gleiche Einstufung statt. Deshalb empfinde ich es geradezu als Misstrauensvotum, uns pauschal zu unterstellen, wir würden die Frauen schlechter bezahlen. Aber etwa bei den Führungskräften - egal, welchen Geschlechts - muss ich als Unternehmerin individuelle Eignungen und Ziele doch auch unterschiedlich honorieren können.

Merkel: Die Regelung sollte mit Augenmaß erfolgen. Dass es in mehr als 65 Jahren Bundesrepublik nicht gelungen ist, in die Dax-30-Unternehmen auf freiwilliger Basis mal ein paar Aufsichtsrätinnen reinzubekommen, ist doch ein Armutszeugnis. Ich war lange gegen eine Quote. Aber irgendwann hat man so viele leere Versprechen gehört, dass klar ist: So geht es nicht.

Wirtschaftswoche: Frau Leibinger-Kammüller, Sie sind Unternehmerin, Sie haben die Verantwortung, immer auch mitzudenken, wer übernimmt irgendwann mal. Müssen Ihre Kinder das oder dürfen sie?

Leibinger-Kammüller: Dürfen.

Wirtschaftswoche: Und was bleibt, wenn Sie irgendwann abtreten, als Vermächtnis?

Leibinger-Kammüller: Mit Unterstützung der anderen das Unternehmen gut weiterentwickelt zu haben. Es ist gewachsen, es ist finanziell solide, es hat eine hohe Eigenkapitalquote, es ist absolut unabhängig von Banken und Investoren. Das wäre eine beglückende Bilanz, ja. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es weiter familiengeführt ist und sich weiter als Teil der Gesellschaft empfindet, nicht als Insel.

Wirtschaftswoche: Denken Sie, Frau Bundeskanzlerin, auch über das Thema Nachfolge nach? Auch mit Blick auf die Wahlen 2017.

Merkel: Meine eigene Entscheidung werde ich zum gegebenen Zeitpunkt bekannt geben. Aber als Parteivorsitzende habe ich natürlich auch immer die jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der CDU im Blick, jede Partei muss ihren Nachwuchs fördern.

Wirtschaftswoche: Und wie denken Sie über Ihren berühmten Satz "Wir schaffen das"?

Merkel: Er ist Teil meiner politischen Arbeit, weil ich davon überzeugt bin, dass wir ein starkes Land sind, das auch aus dieser Phase gestärkt herauskommen wird. Er ist Ausdruck einer Haltung, wie sie sicher viele aus ihrem beruflichen und privaten Leben kennen. Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird, dass zu viel in ihn geheimnist wird. So viel, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel geworden. Manch einer fühlt sich von ihm sogar provoziert. So war er natürlich nie gemeint, sondern anspornend, dezidiert anerkennend. Und zwar weil ich genau weiß, dass wir alle in unserem Land gemeinsam sehr viel zu schultern haben, aber dass sich das in den übertrieben oft wiederholten drei Wörtern nicht sofort abbildet.

Wirtschaftswoche: Warum haben Sie ihn dann bei Ihrer Pressekonferenz Ende Juli beinahe ostentativ wiederholt?

Merkel: Ich stehe ja nicht jeden Morgen auf und denke, diesen Tag kriege ich nun wirklich nicht hin.

Wirtschaftswoche: Heißt das, Sie distanzieren sich von "Wir schaffen das"?

Merkel: Nein. Es heißt, dass ich persönlich diesen Satz nicht wie eine Phrase jeden Tag immer wieder vor mir hertragen und wiederholen werde.

Vielen Dank an Sie beide.

Das Interview führte Miriam Meckel für die Wirtschaftswoche .