Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Festakt der Deutschlandstiftung Integration zu 70 Jahren Grundgesetz und zur Verleihung des „Talisman“ am 14. Mai 2019 in Berlin

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Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum Festakt der Deutschlandstiftung Integration zu 70 Jahren Grundgesetz und zur Verleihung des „Talisman“ am 14. Mai 2019 in Berlin

Dienstag, 14. Mai 2019

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Döpfner,
sehr geehrte Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
Herr Staatsminister,
liebe Staatssekretäre,
meine Damen und Herren,
vor allem natürlich: sehr geehrte Frau Friedländer,

auch ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu dieser Auszeichnung. Ich freue mich, dass Sie den ersten „Talisman“ der Deutschlandstiftung Integration erhalten. Nachdem wir Sie gehört haben, erübrigen sich alle Worte darüber, dass Sie ihn mehr als verdient haben. Ich glaube aber, vielleicht auch im Namen aller, sagen zu können: Das, was Sie uns gesagt haben, ist für uns Verpflichtung für die Zukunft; das werden wir sehr ernst nehmen. Danke.

Es ist wirklich alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass Sie bereit sind, Ihre Geschichte zu erzählen. In Ihrem Buch fragen Sie deshalb auch – und ich möchte Sie zitieren –: „Eine Geschichte habe ich. Aber diese Geschichte ist verknüpft mit dem Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen. Wie kann ich darüber schreiben?“ Sie haben das trotzdem auf sich genommen. Wieviel Kraft Sie das gekostet hat, das können wir nicht ermessen. Wir können Ihnen nur danke sagen – danke, dass Sie ausgerechnet in dem Land, in dem Sie so viel Grausames erlebt und überlebt haben, nun so viel Gutes stiften. Denn das tun Sie, indem Sie mit Schülerinnen und Schülern über Ihre Geschichte und über das dunkelste Kapitel der Geschichte Deutschlands sprechen, über den Zivilisationsbruch der Shoa und wie es zu ihm kommen konnte.

Ganz besonders für junge Menschen sind Gespräche mit Zeitzeugen von unschätzbarem Wert; und das gilt erst recht, je länger die Shoa zurückliegt. Sie sind so wichtig, weil wir nie vergessen dürfen, dass nur, wer die Vergangenheit kennt und wer die Verantwortung für die Vergangenheit annimmt, eine gute Zukunft gestalten kann. Wir dürfen niemals vergessen, was Menschen Menschen antun können. Wir dürfen niemals vergessen, dass der Mensch imstande ist, anderen Menschen einfach das Menschsein abzusprechen.

Deshalb braucht es Botschafterinnen der Menschlichkeit, die wie Sie, liebe Frau Friedländer, deutlich machen – und ich erlaube mir, Sie noch einmal zu zitieren –: „Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein arabisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir sind alle Menschen.“ Genau darum, liebe Frau Friedländer, geht es. Wir sind alle Menschen.

Oder um es mit dem ersten Satz des Grundgesetzes zu sagen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So hielten es vor 70 Jahren die Mütter und Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland unwiderruflich fest. „Die Würde des Menschen […] zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – So formulierten sie weiter in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Daraus folgt sehr Konkretes – vorneweg, dass über die Freiheitsrechte des Einzelnen staatlicherseits nicht einfach verfügt werden darf und kann. Es folgt daraus, dass jede und jeder einen Anspruch auf rechtliches Gehör hat und darauf, die Bewahrung der Grundrechte auch gerichtlich verteidigen zu können oder klären zu lassen, ob Gesetze und staatliches Handeln den Grundrechten entsprechen oder nicht.

In diesem Sinne haben Gesetzgebung und Rechtsprechung insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht in den 70 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland die grundgesetzlich verbürgten Freiheiten immer neu präzisiert und unser Recht im Lichte des gesellschaftlichen Wandels fortentwickelt. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich ein Verfassungswerk über sieben Jahrzehnte hinweg als Grundlage gelebter Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so sehr bewährt wie unser Grundgesetz. Technologische Revolutionen, sich wandelnde gesellschaftlich-moralische Wertvorstellungen, Kalter Krieg und Mauerfall, Deutsche Einheit und europäische Integration, Globalisierung und Digitalisierung – bei all dem diente uns das Grundgesetz stets als verlässliches Fundament unseres Zusammenlebens; und das tut es auch heute noch. Das liegt im Verfassungstext an sich begründet wie auch in den gelegentlichen Änderungen und Anpassungen einzelner Stellen des Grundgesetzes in den letzten 70 Jahren. So haben die Bürgerinnen und Bürger in all den Jahren ihr Grundgesetz wirklich angenommen. Und im Umkehrschluss konnte das Grundgesetz seine volle Wirkmacht entfalten.

Es ist dabei gar nicht hoch genug zu schätzen, dass mit diesem Grundgesetz und seiner Wirkmacht unser Land für Menschen, die wie Frau Friedländer während des Nationalsozialismus den Staat als gefährlichen Feind erfahren haben, zu einem Staat wurde, in dem sie sich sicher fühlen konnten. Dieser Staat wurde ein Rechtsstaat, der seine Bürgerinnen und Bürger schützt und ihnen dient – der den Menschen nicht vorschreibt, wie sie im Einzelnen zu leben haben, sondern ihnen Chancen einräumt, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Das Grundgesetz schafft den Raum für die Freiheit, die der Mensch zum Menschsein braucht. Es schafft die Grundlage für die Vielfalt in unserem Land.

Vielfalt auch durch Zuwanderung – das gibt es hier im Herzen Europas schon seit Jahrhunderten. Das erleben wir also wahrlich nicht erst seit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Und doch erreichte die Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Stufe. Zunächst fanden deutsche Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler vor allem im Westen Deutschlands, in der Bundesrepublik, Aufnahme und schließlich ein neues Zuhause. Als dann ab Mitte der 1950er Jahre die Bundesrepublik Deutschland mehrere sogenannte Anwerbeabkommen schloss, kamen Millionen von Arbeitskräften und Familienangehörigen in die Bundesrepublik, die sogenannten Gastarbeiter. – Ich freue mich, dass Vertreter der Familie Doğan heute auch bei uns dabei sind. – In die DDR kamen die sogenannten Vertragsarbeiter. Von Integration in die Gesellschaft konnte keine Rede sein. Vielmehr mussten diese Menschen dort mehr oder weniger abgeschottet von der einheimischen Bevölkerung leben. Ich habe das mit Menschen aus Angola, Mosambik und Vietnam erfahren. Nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges 1989/1990 kamen in den 1990er Jahren vor allem viele Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland – später, ab 2015, insbesondere aus Syrien und dem Irak.

Über die Jahrzehnte hinweg hat sich die Einwanderungs- und Integrationspolitik unseres Landes stark gewandelt. Lange Zeit ging es wesentlich um Arbeitsmigration, Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Erst nach und nach rückte die Integration in den Mittelpunkt der Politik und des öffentlichen Interesses. Das war ein langwieriger Lernprozess. – Maria Böhmer ist hier heute mit dabei; wir wissen, wovon wir reden. – Wir haben mühsam verstanden, dass und wie die Einwanderung unser Land verändert und wie sie unser Land auch noch weiter verändern wird. Dabei haben wir gelernt, dass unser Land sowohl ein Einwanderungsland als auch ein Integrationsland sein muss, ganz besonders mit Blick auf gleiche Bildungs  und Ausbildungschancen. Daran entscheidet sich wesentlich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

Unser Grundgesetz erweist sich als das Programm für Zusammenhalt und Integration einer vielfältigen Gesellschaft. Es ist eine Antwort auf die Frage, wie heute über 80 Millionen Menschen mit all ihren Unterschieden gut zusammenleben können. Mittlerweile haben in Deutschland über 19,3 Millionen Menschen eine familiäre Einwanderungsgeschichte.

Deshalb freue ich mich über das großartige Zeichen, das die Deutschlandstiftung mit ihrer jüngsten Kampagne „Mein Deutschland. Ich lebe hier auf gutem Grund.“ setzt. Das ist die Botschaft, die Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte mit dieser Kampagne vermitteln. Sie sind jeweils Botschafter einzelner Artikel des Grundgesetzes.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – So heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Wir freuen uns sehr, liebe Frau Friedländer, dass Sie die Patin sind.

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ – So heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes. Dafür setzt sich die Herzchirurgin Dilek Gürsoy ein.

„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ – So heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes. Dafür kämpft die Boxmeisterin Zeina Nassar.

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ – So heißt es in Artikel 16a. Und darauf pocht der Gastronom Dat Vuong.

Meine Damen und Herren, die Werte und Rechte unseres Grundgesetzes gelten für alle im Land. So verschieden wir auch sind – ob jung oder alt, Frau oder Mann, Städter oder Landbewohner, mit oder ohne Einwanderungsgeschichte –, so sehr verbinden uns die Werte dieses Grundgesetzes. Mit ihnen leben wir hier gemeinsam und, um das Wort Ihrer Kampagne aufzugreifen, „auf gutem Grund“.

Daher stehen wir auch alle gemeinsam in der Pflicht und der Verantwortung, die Werte und Grundrechte zu schützen. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir uns Rassismus und Antisemitismus, Hass und Gewalt entgegenstellen müssen; und zwar mit allen Mitteln, die uns der Rechtsstaat zur Verfügung stellt.

Aber es sind zu oft auch die eher kleinen Nadelstiche, die unseren Zusammenhalt auf die Probe stellen. Das fängt bei der Wortwahl an, die, mehr oder minder bewusst, ausgrenzend oder diffamierend wirken kann. Nicht selten werden die Grenzen der Meinungsfreiheit auch sehr kalkuliert ausgetestet. Aus politischem Kalkül werden Vorurteile bedient. So etwas muss überall und immer auf unseren Widerspruch stoßen. Denn die Würde des Menschen ist nicht verhandelbar.

Unsere Verfassung bietet den Rahmen für einen guten Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ob Anna oder Aljona, Max oder Mohammed – jede und jeder muss auf Chancengerechtigkeit vertrauen können; bei der frühkindlichen Bildung, in der Schule, im beruflichen und gesellschaftlichen Leben. Das ist eine Daueraufgabe. Ich weiß, dass Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte zu oft das Gefühl haben, trotz gleicher Qualifikationen nicht die gleichen Chancen zu haben. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.

Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung im steten Bemühen um Teilhabe auf starke Partner zählen kann. Zu diesen Partnern gehört auch die Deutschlandstiftung, die schon viele junge Menschen begleitet hat, damit sie ihren Weg gehen konnten. Davon zeugen beeindruckende Lebensläufe als Unternehmer oder Arbeitnehmer, als Ärzte, Ingenieure oder Journalisten. Ich freue mich, dass so viele heute gekommen sind. Ich grüße alle Stipendiaten und Mentoren. Ich habe mich gefreut, dass gestern so viele Neue dazugekommen sind. Herzlichen Dank. Wir werden Ihnen als Erinnerung an diesen Tag unsere besondere Ausgabe des Grundgesetzes, die die Bundesregierung herausgebracht hat, noch übergeben. Mit dem Grundgesetz in der Hand können Sie Ihren Stipendiatenweg gut gehen. Alles Gute für Ihren weiteren Weg.

Meine Damen und Herren, 70 Jahre Grundgesetz – das ist in der Tat ein Anlass zu feiern. Denn in diesen sieben Jahrzehnten ist es immer wieder gelungen, die Werte und Rechte unserer Verfassung mit Leben zu erfüllen. Wie wertvoll dies ist, daran denken wir vielleicht nicht jeden Tag, aber das führen uns gerade auch die vielen Konflikte und Krisen rund um die Welt vor Augen. Nichts ist selbstverständlich – weder Frieden noch Freiheit, weder Sicherheit noch gleichberechtigte Teilhabe. Diese Werte müssen stets aufs Neue verteidigt und behauptet werden. Es ist mir deshalb eine große Freude, als Bundeskanzlerin aller Menschen dieses Landes mit dazu beitragen zu können, dass alle, die hier leben, gleichberechtigt an den großartigen Chancen unseres Landes teilhaben können.

Herzlichen Dank.

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