Merkel: "Ein stabiles Fundament für den Wohlstand in Europa schaffen."

Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weg zu einem Statement im Bundeskanzleramt.

Merkel: "Ziel ist eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit"

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Lidove Noviny (LN): Frau Bundeskanzlerin, seit zweieinhalb Jahren beschäftigen Sie sich mit der Rettung des Euro. Was Wesentliches ist in diesen zwei Jahren passiert?

Angela Merkel: Die extreme Verschuldung in einigen Staaten hat den Euro angreifbar gemacht. Deshalb haben wir an der Bekämpfung der Staatsschulden angesetzt, mit vielen Reformmaßnahmen in der Eurozone und der gesamten EU. Mit den Rettungsschirmen haben wir Solidarität geübt im Interesse unserer gesamten Währungsgemeinschaft, denn wenn ein Land in eine Schuldenschieflage gerät, kann sehr schnell auch die Stabilität des gesamten Euroraums in Gefahr geraten. Um das zu verhindern, haben wir erst den Rettungschirm EFSF verabschiedet und später auch den permanenten Stabilitätsmechanismus ESM, der im Augenblick von den einzelnen Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Solidarität alleine reicht aber nicht. Sie ist immer mit der Eigenanstrengung der betroffenen Länder verbunden. Und wir alle dürfen das Ziel einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit nicht aus den Augen verlieren – so werden wir es schaffen, nachhaltiges Wachstum zu erreichen. 

LN: In dieser Hinsicht ist nicht viel getan worden.

Merkel: Im Gegenteil. Um unsere Länder wettbewerbsfähiger zu machen, haben wir den Euro-Plus-Pakt entwickelt, der auch Nicht-Euro-Ländern offen steht. Für besonders wichtig halte ich außerdem den Fiskalpakt, den 25 von 27 Mitgliedsstaaten unterschrieben haben. Er wird unseren Bemühungen um Haushaltsdisziplin und die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumpaktes eine bisher nicht gekannte Verbindlichkeit geben. Wir holen mit diesen Reformschritten das nach,  was bei der Schaffung des Euro nicht geschehen ist – Schritt für Schritt machen wir uns auf den Weg zur politischen Union. Damit schaffen wir ein stabiles Fundament für unsere gemeinsame Währung und für den Wohlstand in Europa.

LN: Gab es während dieser zweieinhalb Jahre Momente, wo der Euro am Rande einer Katastrophe stand?

Merkel: Es gab kritische Situationen, weil offensichtlich wurde, wie schnell Schwierigkeiten eines Landes auf alle anderen Länder übergreifen könnten, auch auf Nicht-Euro-Länder. Als die Umschuldung Griechenlands ins Gespräch kam, veränderte schon alleine diese Diskussion auch die Zinssätze für Staatsanleihen anderer Länder. Wir leben nun einmal in einem Kontinent hoher gegenseitiger Verbundenheit. Europa hat aber auch gezeigt, dass es in jeder kritischen Situationen entschlossen und einig reagiert.

LN: Was war der schlimmste Moment seit dem Anfang der Eurokrise? Im Herbst, wo es schien, dass der Interbankenmarkt einfriert?

Merkel: Den einen schlimmsten Moment kann ich nicht nennen, aber insbesondere im Zusammenhang mit den öffentlichen Zweifeln an der Schuldentragfähigkeit Griechenlands ist an den Finanzmärkten viel Vertrauen verloren gegangen. Wir Regierungschefs der Eurozone waren aber zu jedem Zeitpunkt entschlossen, den Euro zu stärken. Vergessen Sie nicht, er ist für uns viel mehr als nur eine Währung, er ist das Symbol unserer europäischen Integration. Und ich bin froh sagen zu können, dass wir noch jede schwierige Phase gemeistert haben.

LN: Bis wann? Wann kommt die nächste Welle?

Merkel: Es bleibt unverändert  viel Arbeit zu tun. Schritt für Schritt müssen wir – und damit meine ich jedes Land – unsere Wettbewerbsfähigkeit weiterentwickeln. Es ist kein einfacher Weg, aber so werden wir, hoffe ich, unsere über Jahrzehnte angehäuften Probleme überwinden können. 

LN: Eine Kritik an Ihnen persönlich lautet, dass Sie immer irgendeine rote Linie für Deutschland ausrufen, die bald überschritten wird. Berlin hat lange behauptet, Deutschland haftet nur für 211 Milliarden Euro bei den Rettungsarbeiten, jetzt hört man, dass Sie bald auch diese Deckelung aufgeben.

Merkel: Auch Deutschland muss in der Lage bleiben, auf sich verändernde Situationen zu reagieren. So haben wir auf dem EU-Rat im Dezember vereinbart, dass wir zusammen mit unseren europäischen Partnern die Höhe der Rettungsschirme im März überprüfen. Deutschland hat immer darauf gedrängt, dass wir die Probleme an den Wurzeln anpacken. Rettungsschirme sind wichtig, sie alleine können aber die Ursachenbekämpfung nicht leisten. Deshalb hat sich Deutschland für den Fiskalpakt eingesetzt; er verpflichtet uns, unsere Versprechen für solide Haushalte auch wirklich einzuhalten. Zur Ursachenbekämpfung gehört auch, dass wir alle in Europa uns Wachstum nicht mit immer neuem staatlichen Geld zu erkaufen versuchen, sondern ihm mit Reformen den Boden bereiten: indem wir das Arbeitsrecht novelieren, indem wir mehr für Forschung und Innovation ausgeben und vieles mehr.

LN: Wie erfolgreich ist Ihre Strategie? Wie hat sie z. B. Griechenland geholfen? Sie haben im Januar schon mal öffentlich halbwegs zugegeben, dass diese Strategie im Falle Griechenlands nicht funktioniert hat.

Merkel: Griechenland ist in jeder Hinsicht ein eigener Fall, ein Land mit sehr ernsten Problemen, wir wir sie anderswo in Europa so nicht finden. Griechenlands Schuldentragfähigkeit war langfristig nicht  gegeben. Wir haben mit den privaten Gläubigern des Landes daher eine freiwillige Umschuldung vereinbart, die größte, die es je gegeben hat. Die ist nun vernünftig abgelaufen, das Land hat also wieder eine Chance.  Ich will es nicht beschönigen: Griechenland hat noch einen harten Weg vor sich, es ist aber auf diesem Weg auch schon viele Schritte gegangen. Das müssen wir alle anerkennen. Ich sehe keine vernünftige Alternative zu diesem Weg einer soliden Haushaltsführung, einer Verwaltungsreform, einer Arbeitsmarktreform, der Öffnung bisher geschlossener Berufe und vor allem eines wirksameren Systems, Steuern auch tatsächlich einzunehmen. Weil wir bisher in der EU mit einem solchen umfassenden Hilfs- und Reformprogramm keine Erfahrung hatten, haben wir den IWF mit seiner weltweiten Erfahrung hinzugezogen. An den Programmen, die er zum Beispiel mit Lettland oder Ungarn umgesetzt hat, sieht man sowohl die Notwendigkeit als auch die Erfolgschancen, die damit verbunden sind. 

LN: Griechenland kann aber womöglich auf diese Weise nie konkurrenzfähig werden, weil die Preise und Löhne zu hoch sind. Solange die Griechen im Euro bleiben, können sie nicht durch Wechselkurs abwerten, und die Löhne um die nötigen 30 Prozent streichen, führe zum Bürgerkrieg. Wäre es nicht besser ,sie aus der Eurozone zu entlassen?

Merkel: Griechenland möchte in der Eurozone bleiben, und ich möchte das auch, denn auch ein Austritt Griechenlands wäre mit schweren Folgen verbunden. Viele Experten sehen zum Beispiel die Gefahr eines Dominoeffekts, der auch die Mitgliedschaft anderer Länder in Zweifel ziehen könnte. Das griechische Parlament hat harte Maßnahmen beschlossen, beispielsweise eine Absenkung des Mindestlohns, um so die Wettbewerbsfähigkeit etwa der Tourismusbranche gegenüber den Nachbarländern zu erreichen. Das sind schwierigste politische Entscheidungen, vor denen ich hohe Achtung habe. Sie werden mit der Zeit Früchte tragen.

LN: Sind Sie mit der Philosphie, dass man jedes Mitglied der Eurozone retten muss, nicht leicht erpressbar? Dann bekommt nämlich am Ende jeder schwächelnde Staat immer Hilfe, und er weiss das.

Merkel: Auch um genau das zu verhindern, wollen wir ja den Fiskalpakt umsetzen. So kann der Europäische Gerichtshof überprüfen, ob jedes Land wirklich die Schuldenbremse in seiner Verfassung verankert, die sicherstellt, dass zukünftige Regierungen es mit solidem Haushalten ernst meinen. Wir machen diesen Kurs verbindlich, gerade weil wir erlebt haben, wie sehr wir im Euroraum aufeinander angewiesen sind.

LN: Ich will jetzt nicht als Negativiste klingen –

Merkel: Danach klingt es bisher aber ein wenig - 

LN: -aber die spanische Regierung hat ihr Defizit für nächstes Jahr, welches ihr von der EU-Komission vorgeschrieben wurde, eigenhändig aufgeweicht. Jetzt haben sogar Holländer, traditionell ihre Verbündeten in Sparsamkeit, erklärt, sie laufen nächstes Jahr höheres Defizit als erlaubt. Ist der Fiskalpakt schon jetzt nicht mehr als nur eine politische Absichtserklärung?

Merkel: Die Niederlande arbeitet noch an ihrem Haushalt. Spanien sagt zu, 2013 die 3%-Grenze einhalten zu wollen, beruft sich aber auf das höhere Defizit, das sie von der Vorgängerregierung geerbt haben. Nun nimmt Spanien sich zwei Schritte vor, mit denen es sich den 3% annähern will. Ich bin optimistisch, dass alle ihre Verpflichtungen erfüllen. 

LN: Sie müssen optimistisch sein, vom Beruf her.

Merkel: Ich bin es tatsächlich. Wenn es anders wäre, würde ich es Ihnen auch sagen.

LN: Sie haben die Eurokrise nicht erzeugt, sondern geerbt, man kann Ihnen also auch kein Kritiker Schuld zuschieben für das Enstehen der Krise. Trotzdem: haben Sie manchmal Bedenken, dass es schon in der Konsktruktion des Euro gravierende Geburtsfehler gab?

Merkel: Dass wir von einer politischen Union noch so weit entfernt sind, das ist jedenfalls ein Defizit. Die damalige politische Entscheidung für eine gemeinsame Währung war ein historisch richtiger und wegweisender Schritt. Heute sehen wir jedoch, dass der so wichtige Stabilitätspakt kaum verbindlich verankert war. Und dann haben wichtige Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland, damals mit der Regierung Schröder, außerdem noch daran mitgewirkt, diesen Pakt aufzuweichen. Statt die Regeln strenger zu fassen, hat man sie aufgeweicht – darin sehe ich bis heute einen folgenschweren Fehler.

LN: Ich habe eher die Geldpolitik der EZB gemeint, dass ihr Zins einem Land momentan passt und einem anderem nicht. Das ist doch ein Geburtsfehler.

Merkel: Die EZB sorgt für ein stabiles Preisniveau. Dies tut sie mit einem einheitlichen Leitzzins für alle Länder. Sie hat damit all die Jahre im Euroraum die Preise stabil gehalten. Leider entwickelten sich einzelne Länder unterschiedlich, so dass ihre Wettbewerbsfähigkeit sank. Dies korrigieren wir jetzt durch die verschiedenen schon genannten Maßnahmen.

LN: Sie sprachen im Januar von einer politischen Union in Europa. Aus den nationalen Regierungen soll Ihrer Meinung nach eine quasi zweite Kammer des Europäischen Parlament werden..

Merkel: Ganz so ist es nicht richtig. Mir geht es vielmehr darum, dass die EU-Kommission, wenn sich die EU in Richtung einer politischen Union weiterentwickelt, auf all den Gebieten, für die die Staaten die Zuständigkeit an Europa abgegeben haben, wie eine Art Regierung handeln kann. In dieser Logik ist dann das Europäische Parlament ihr demokratisches Kontrollorgan  – und der Rat gleichsam eine zweite Kammer. Wie gesagt, da sind wir noch nicht, es ist meine Beschreibung einer möglichen Zukunft.

LN: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass, wenn man eine politische Union anstrengt, die irgendwann eine gemeinsame Fiskal- und Haushaltspolitik mit sich bringt, dies Spannungen erzeugt, und dann auch alte Feindbilder unter europäischen Völkern leicht auftauchen können?

Merkel: Diese Gefahr sehe ich nicht. Eine tatsächlich gemeinsame Haushaltspolitik werden wir noch lange nicht haben. Jetzt geht es darum, verbindliche Schuldengrenzen zu schaffen, uns an gemeinsam verabredete Parameter zu halten wie etwa ein bestimmtes Niveau der Ausgaben für Forschung und Innovation. Außerdem geht es darum, dass wir uns gemeinsam auf Ziele verständigen, z. B. die Jugendarbeitslosigkeit zu verringen und die Beschäftigungsrate zu erhöhen. Jeder Mitgliedstaat stellt also seinen eigenen Haushalt auf, aber er muss dabei bestimmte Grenzen einhalten und bestimmte Prioritäten setzen.

LN: Wann kommt eine solche politische Union zustande, in Jahren oder Jahrzenten?

Merkel: Die politische Union ist ein Langzeitprojekt, aber auch ein Langzeitprojekt beginnt mit ersten konkreten Schritten. Wir in der Eurozone haben die Aufgabe, unsere Wettbewerbsfähigkeit anzuheben und anzugleichen und uns dabei nicht am Durchschnitt auszurichten, sondern an den Besten in der EU.

LN: Prag hat sich unlängst mit London dem Fiskalpakt nicht angeschlossen. Haben Sie das auch so begriffen, das sich die Tschechische Republik von diesem langen Prozess absetzt und in die politische Union nicht rein will?

Merkel: Die Tschechische Republik unternimmt genau wie alle anderen Länder eine Vielzahl von Reformen. Ich habe keineswegs den Eindruck, dass Ihr Land im Abseits stehen möchte. Außerdem  erlebe ich Premier Nečas als einen sehr konstruktiven Gesprächspartner, wenn es darum geht, wie wir Europas Wettbewerbsfähigkeit  verbessern können. 

LN: Kann es sein, dass wenn die Tschechische Republik ausserhalb von diesem Pakt bleibt, sie in Isolation enden kann?

Merkel: Die Tschechische Republik ist nicht isoliert.

LN: Zu Spannungen in den deutsch-tschechischen Beziehungen kann auch die deutsche Energiepolitik führen. Sie erzeugen inzwischen so viel Strom aus Wind und anderen erneurbaren Energien, welches von Norddeutschland nach Süddeutschland über den tschechischen Netz läuft, dass wir mit Black-outs rechnen müssen.

Merkel: Deutschland ist mit Tschechien im engen Gespräch – Übertragungsnetzbetreiber, Regulierungsbehörden, Ministerien. Wir wissen, dass wir in Deutschland noch schneller beim Netzausbau vorankommen müssen, und daran arbeiten wir auch. Gleichzeitig sind wir wie Tschechien Teil eines gemeinsamen europäischen Energiemarkts.

LN: wenn ihr das nicht rechtzeitig schafft, sind die Tschechen eventuell ähnlich wie die Polen dazu gezwungen, an der Grenze Transformatoren aufzubauen. Sollte Deutschland diese Anlagen eigentlich nicht bezahlen?

Merkel: Ich bin zuversichtlich, dass es auch ohne solche Maßnahmen geht. Ich gehe davon aus, dass es jetzt Jahr für Jahr besser wird als in diesem Winter.

LN: Haben Sie nächste Woche in Prag mit Petr Nečas auch Temelín auf der Agenda?

Merkel: Ich habe mit Ministerpräsident Nečas schon mehrfach über Temelin gesprochen. Ich bin sehr dankbar, dass er es ermöglicht, dass auch internationale Beobachter bei der Sicherheitsüberprüfung des Kraftwerks mitwirken können. Im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt Tschechiens ist ja in die Sicherheit von Temelin schon erheblich investiert worden.

LN: Betrachten Sie das als Problem, dass Tschechien ihre Atomkraftwerke weiter betreibt, obwohl zugleich Deutschland einen Ausstieg beschlossen hat?

Merkel: Dieser Zustand ist nicht neu. Deutschland hat ja 2001 zum ersten Mal beschlossen, bis etwa 2022 aus der Kernenergie auszusteigen. Wir hatten dann die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert, diese Verlängerung nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima aber zurückgenommen. Die Ausrichtung der Energiepolitik ist die Sache eines jeden Mitgliedstaates. Wir respektieren die Entscheidung der Tschechen, die Kernenergie zu nutzen. Im übrigen sind ja auch bei uns bis 2022 noch Kernkraftwerke am Netz. Auch unsere anderen Nachbarn fällen ihre Entscheidungen selbständig. Frankreich ist bei der Stromerzeugung fast komplett von seinen Kernkraftwerken abhängig, Österreich hingegen schon vor langer Zeit aus der Kernenergie ausgestiegen, die Schweiz hat es angekündigt. Polen wiederum will einmal ein Kernkraftwerk bauen…

LN: Und steht deshalb unter Druck aus Deutschland.

Merkel: Nicht von mir und meiner Regierung. 

LN: Landtage in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern haben schon Polen aufgefordert die Baupläne für Reaktoren zu verlassen.

Merkel: Die Bundesregierung übt jedenfalls keinen Druck aus. Wir sind also umgeben von Ländern mit einer jeweils eigenen Energiepolitik und wissen damit zu leben, so wie wir unsere Energiepolitik auch nach unseren Vorstellungen betreiben.

LN: Kann sich das ändern, wenn in Deutschland Grüne an die Macht kommen?

Merkel: Ich lege Ihnen die Haltung meiner Regierung dar. 

LN: Welchen Sinn macht das aus Ihrer Sicht, wenn Ihr Land wegen einem Unfall im Kraftwerk, dass 9 000 Kilometer entfernt ist, ihre eigenen Atomkraftwerke schliesst, obwohl Sie von Atomländern unmittelbar umgeben sind?

Merkel: Die Reaktorkatastrophe in Fukushima hat uns, und auch mich ganz persönlich, das Restrisiko der Kernkraft noch einmal neu bewerten lassen. Im Angesicht der extremen Folgen dieses Unfalls in einem der höchstindustrialisierten und technisch versiertesten Länder der Welt wurde klar: Es ist jede Anstrengung wert, schnellstmöglich aus der Kernkraft auszusteigen. Es war eine notwendige Entscheidung, die sich zudem auf eine große Mehrheit unserer Bevölkerung stützt.

LN: Östliche Nachbarn von Deutschland haben oft Angst, dass sich Deutschland entweder arrogant oder aber ignorant zu ihnen verhält, also kein Interesse zeigt.

Merkel: Wer aber unvoreingenommen hinsieht, wird merken: Wir tun weder das eine noch das andere. 

LN: Wird Deutschland schon deshalb auf Mittel- und Osteuropa achten, wenn jetzt zugleich Sie und der neue Bundespräsident beide aus der Ex-DDR stammen?

Merkel: Deutschlands Verhältnis zu Tschechien wird immer gut und freundschaftlich sein,  unabhängig von der Herkunft unserer Politiker. Helmut Kohl war ein Westdeutscher, ein Pfälzer, und gleichzeitig ein großer Freund der mittel- und osteuropäischen Länder. Ich habe natürlich meine eigene Erinnerungen. Ich war sehr oft in Prag. Ich liebe die Stadt.  Ich habe in Prag gearbeitet, viele interessante Menschen dort kennengelernt, Freunde gefunden. Die Stadt hat mich mit geprägt.

LN: Wieviel Zeit haben Sie damals in Prag eigentlich verbracht?

Merkel: Dreimal drei Monate, zwischen 1980 und 83.

LN: Wie schien damals Prag einem Ostberliner? Schon anders, oder waren beide Städte genau so grau?

Merkel: Prag ist eine historische und wunderschöne Stadt. Im Vergleich zu Ostberlin fand ich Prag viel internationaler, und zwar nicht nur wegen der Touristen. Meine tschechischen Wissenschaftlerkollegen durften eher in den Westen reisen, was uns stärker verwehrt war. Sie durften in die USA und nach England reisen, ihre internationale Erfahrung war für uns Ostdeutsche sehr interessant.

LN: Haben Sie in Tschechien noch Bekannte, Kontakte von damals?

Merkel: Rudolf Zahradník war mein Professor am Heyrovsky-Institut, ja, ich habe auch noch andere Kontakte, muss ich sie jetzt alle aufzählen? (Lachen – Anm.Red.)

LN: Wenn Sie nach Prag als eine Privatperson kommen würden, welche Plätze würden Sie gerne wiedersehen?

Merkel: Sicher einige der Weinstuben. Aber vieles hat sich sehr geändert.

LN: Haben sie auch irgendwas ausserhalb von Prag gesehen?

Merkel: Einmal bin ich zu einem Kollegen aufs Land gefahren. Und einmal habe ich mit meinem Mann eine Weinreise durch Böhmen und Mähren gemacht, Valtice usw. Seitdem kenne ich mich mit Ihren Weinen ein bisschen aus.

LN: Haben Sie damals versucht, Tschechisch zu lernen?

Merkel: „Trošku“ (Ein bisschen). „Dostaneš facku“ (Eine Ohrfeige kriegst du), das weiß ich noch. Ich habe immer versucht, im Restaurant  Tschechisch zu sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass es mir beim Kellner geholfen hat, wenn ich „smažený řízek“ und „láhev bíhého vína“ auf Tschechisch bestelle.

LN: Gab es damals Spannungen zwischen ost- und westdeutschen Touristen, die in Prag eine ganz andere Kaufkraft hatten?

Merkel: Eigentlich nicht. Für uns DDR-Touristen war es nicht leicht; wir durften ja immer nur 20 Ostmark pro Tag umtauschen, und 30, wenn man mehrere Tage da war. Umtauschkurs war eine Mark für drei Kronen, das war also nicht viel Geld, wenn man auch noch Unterkunft brauchte. Prag war für uns teuer. Da haben wir schon manchmal geschaut, ob wir eine westdeutsche Reisegruppe treffen, die uns einlädt. Als ich dann später in Prag gearbeitet habe, hatte ich ausreichend Geld.

LN: Vermissen Sie manchmal die Wissenschaft?

Merkel: Ich bin leidenschaftlich gerne Politikerin. Ich Ich glaube auch nicht, dass die Wissenschaft mich vermisst. Die kommt ohne mich ganz gut voran.