"Die Welt rückt immer näher zusammen"

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Im Wortlaut: Merkel "Die Welt rückt immer näher zusammen"

Deutschland verändere sich jeden Tag - nicht nur durch die Flüchtlinge, so Bundeskanzlerin Merkel im Interview. Die Hilfsbereitschaft der Deutschen sei nach wie vor groß. Sorgen müsse sich keiner: Alle profitierten etwa vom sozialen Wohnbau oder zusätzlichen Lehrkräften, nicht nur die Geflüchteten.

  • Interview mit Angela Merkel
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Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt.

Merkel: "Es gibt bis heute eine enorme Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude bei unzähligen Bürgern."

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Das Interview im Wortlaut:

BUNTE: Frau Bundeskanzlerin, für viele gelten Sie als mächtigste Frau der Welt. Sicher ist, dass Sie einen der verantwortungsvollsten Jobs der Welt haben. Die vielen Probleme, die Sie tagsüber beschäftigen, hindern die Sie nachts am schnellen Einschlafen? Dreht sich dann bei Angela Merkel das Gedankenkarussell?

Angela Merkel: Es stimmt, fast täglich muss über neue Probleme nachgedacht werden, damit eine gute Lösung gefunden wird. Bundeskanzler sind also im Grunde immer im Dienst, aber meistens schlafe ich trotzdem gut.

BUNTE: Wenn man Sie hier in Ihrem Büro im Kanzleramt besucht, scheint die normale Welt draußen ganz weit weg zu sein ...

Merkel: In meinem Büro kann ich mich sehr gut konzentrieren, aber natürlich bin ich auch ständig unterwegs: Ich treffe bei unterschiedlichsten Terminen Menschen in ganz Deutschland, ich bin in meinem Wahlkreis, im Parlament - und ich habe natürlich auch ein Privatleben.

BUNTE: Kommt es dann vor, dass Bürgerinnen und Bürger Sie ansprechen und sagen: "Frau Bundeskanzlerin, was ich Ihnen schon immer sagen wollte ..." Zum Beispiel wenn Sie im Supermarkt an der Kasse stehen?

Merkel: Natürlich, das geschieht oft. Ich freue mich auch, mit den Menschen zu sprechen, und wenn ich beispielsweise eine Schule oder einen Betrieb besuche, bin ich auch gerne bereit, Fotos machen zu lassen. Beim Einkaufen im Supermarkt aber zum Beispiel mache ich das nicht so gerne, weil das alles durcheinanderbringt.

BUNTE: Die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 wird von vielen bereits als ein historisches Datum angesehen: Zehntausende Kriegsflüchtlinge, darunter viele verzweifelte Mütter und weinende Kinder, steckten im Schlamm und vor Stacheldrahtzäunen an der ungarischen Grenze fest. Sie haben damals Ihr Herz sprechen lassen und die Flüchtlinge nach Deutschland geholt. Würden Sie, Frau Bundeskanzlerin, aus heutiger Sicht wieder so handeln?

Merkel: Ja. Deutschland und Österreich haben in einer humanitären Notlage entschieden, unsere Grenze nicht zu schließen, sodass diese Menschen zu uns kommen konnten, so wie in den Monaten zuvor schon Hunderttausende andere über Ungarn gekommen waren.

BUNTE: Und ganz viele Deutsche haben den Flüchtlingen einen herzlichen Empfang bereitet, haben Hilfsgüter und Spielzeug verteilt.

Merkel: Das stimmt. Es gibt bis heute eine enorme Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude bei unzähligen Bürgern. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir wollen aber nicht vergessen, dass auch andere Länder, Österreich etwa oder Schweden, Großes bei der Aufnahme von Flüchtlingen geleistet haben.

BUNTE: Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass die Stimmung irgendwann umkippt, die Euphorie verfliegt? Nicht wenige werfen Ihnen heute vor, die sogenannte Willkommenskultur hätte noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland gelockt.

Merkel: Trotz der kontroversen Debatte über die richtige Flüchtlingspolitik sind in ganz Deutschland noch immer sehr viele Menschen ehrenamtlich tätig und helfen den Flüchtlingen. Darüber freue ich mich sehr und möchte allen Helfern sehr herzlich danken. Noch immer sagt eine überwältigende Mehrheit in Umfragen, dass Deutschland Menschen, die wirklich vor Krieg und Verfolgung fliehen, auch künftig Schutz gewähren soll. Das ist großartig. Dass der Enthusiasmus der ersten Wochen nicht unbegrenzt andauern würde, war absehbar und liegt auch daran, dass die Probleme des Alltags wieder stärker in den Vordergrund rücken. Fragen der Unterbringung, bürokratische Vorgänge, zum Beispiel wie lange es dauert, bis jemand einen Sprachkurs bekommt - das alles kann mühsam sein. Mit Blick auf Deutschland war es zum Beispiel sehr wichtig, im Rahmen der Asylpakete I und II auch Staaten des westlichen Balkans oder Nordafrikas zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, sodass Migranten von dort schneller als bislang in ihre Heimatländer zurückgeführt werden können. Ganz sicher aber haben wir in Europa zu spät die Augen dafür geöffnet, wie unerträglich die Situation in den Herkunftsländern oder nahe der Heimat geworden war, sodass die Menschen keinen anderen Ausweg mehr sahen, als ihr Schicksal in die Hände von kriminellen Schleppern und Schleusern zu legen. Umso wichtiger ist es jetzt, an den Fluchtursachen in der Heimat oder nahe der Heimat anzusetzen. Deshalb helfen wir unter anderem damit, dass wir uns für Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung für die Menschen in den Flüchtlingslagern engagieren.

BUNTE: Dennoch, Frau Bundeskanzlerin, haben viele Menschen Angst davor, dass der Zuzug von so vielen Migranten auch große neue Probleme bringen könnte: Entstehen bei uns Parallelgesellschaften, gerät die innere Sicherheit in Gefahr? Die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht könnten dafür ein Beispiel sein. Was da passiert ist, löst Ängste aus. Andererseits landen jedes Wochenende unzählige Frauen in Frauenhäusern, die nicht von Moslems oder Ausländern geschlagen werden, sondern von ihren deutschen Ehemännern und deutschen Freunden ...

Merkel: Es ist immer wichtig, alle Probleme schonungslos offen anzusprechen. Nach den für die betroffenen Frauen sowieso schon schrecklichen Erlebnissen im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht war mit das Schlimmste, dass anfangs der Eindruck entstand, es solle über die ungeheuerlichen Übergriffe nicht gesprochen werden, weil sie von Migranten verübt worden seien. Das darf nicht passieren! Der Staat hat die klare Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Recht und Gesetz von jedem eingehalten werden.

BUNTE: Wird der Zuzug von rund einer Million Menschen die deutsche Gesellschaft nicht nachhaltig verändern?

Merkel: Unsere Gesellschaft hat sich immer verändert und verändert sich jeden Tag weiter. Das hat ganz unterschiedliche Ursachen, Stichwort Digitalisierung. Schauen Sie mal 30 Jahre zurück und vergleichen Sie, wie wir damals gelebt haben und wie wir heute leben. Die Welt rückt immer näher zusammen. Die Globalisierung trägt viel zu unserem Wohlstand bei, jeder kann fast überall auf der Welt reisen, studieren, eine Arbeit annehmen. Die andere Seite ist, dass uns Krisen und Kriege an den Grenzen Europas immer stärker direkt betreffen. Es hilft überhaupt nicht zu glauben, das ginge uns alles nichts an. Es geht uns etwas an und wir müssen neue politische Aufgaben annehmen. Wir müssen künftig viel stärker Fluchtursachen bekämpfen, also versuchen, mit anderen Staaten zusammen friedliche Lösungen für Kriege zu finden, Hunger und Not zu bekämpfen, mehr für den Klimaschutz zu tun. Viele der Flüchtlinge, die jetzt zu uns gekommen sind, werden in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn sich die Verhältnisse dort stabilisieren. Andere werden bleiben, und damit sie möglichst schnell unsere Sprache lernen, sich integrieren und Arbeit finden, hat die Bundesregierung letzte Woche den Entwurf für ein umfangreiches Integrationsgesetz verabschiedet.

BUNTE: Das ist ein mühsamer und wahrscheinlich langer Weg. Wie beruhigen Sie heute die Kritiker, die behaupten, die Flüchtlinge nähmen uns Jobs und Wohnungen weg, würden besser behandelt als wir...

Merkel: Ich verstehe, wenn sich Menschen Sorgen machen, die selbst mit wenig Geld auskommen müssen oder arbeitslos sind. Alle staatlichen Programme und Hilfen für sie werden selbstverständlich fortgeführt. Wir sollten aber auch neue wirtschaftliche Chancen sehen, die sich ergeben können. Wir haben umfangreiche Programme aufgelegt, um den sozialen Wohnungsbau in Ballungsgebieten anzukurbeln. Diese neuen Wohnungen kommen allen in Deutschland zugute, nicht nur den Flüchtlingen. Die Bundesländer stellen wieder mehr Lehrer ein, eine erfreuliche Entwicklung. Und über die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter setzen wir umfangreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente einschließlich der sogenannten Ein-Euro-Jobs ein; davon können alle Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen profitieren. Es wird natürlich noch viele Probleme geben, aber auch große Chancen. Davon bin ich fest überzeugt. Und jedem, der Angst verspürt, dem empfehle ich, wenn sich dazu irgendwie Gelegenheit bietet, einen Menschen, der zu uns geflohen ist, einfach mal persönlich kennenzulernen. Es sind Menschen, die vieles erlebt und erlitten und genauso wie wir ihre Sorgen und Hoffnungen haben.

Das Interview führten Patricia Riekel und Sebastian v. Bassewitz für die BUNTE.